Staatsunternehmen im Wettbewerbsrecht: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 29. September 2021, 08:49 Uhr
von Heike Schweitzer
1. Staatsunternehmen – Begriff und Problemstellung
Der Begriff des Staatsunternehmens ist kein Rechtsbegriff. Nach allgemeinem Verständnis umschreibt er den Sachverhalt, dass sich die öffentliche Hand als Unternehmen oder durch Unternehmen am Wirtschaftsverkehr beteiligt. Der EG-Vertrag spricht in diesem Zusammenhang von „öffentlichen Unternehmen“ (Art. 86(1) EG/106(1) AEUV). In der auf Art. 86(3) EG/106(3) AEUV gestützten Transparenz-RL (RL 2006/11) sind sie als Unternehmen definiert, auf welche die öffentliche Hand auf Grund Eigentums, finanzieller Beteiligung, Satzung oder sonstiger Bestimmungen, die die Tätigkeit des Unternehmens regeln, unmittelbar oder mittelbar einen beherrschenden Einfluss ausüben kann (Art. 2(1) (b)). Der EuGH greift für die Zwecke des Art. 86(1) EG/106(1) AEUV auf eine inhaltlich übereinstimmende Definition zurück. Zu einem Sonderproblem des Wettbewerbsrechts werden Staatsunternehmen, weil der Staat mit der Beteiligung am Wirtschaftsverkehr neben der Gewinnerzielung häufig weitergehende politische und/oder wirtschaftspolitische Ziele verfolgt und „seinen“ Unternehmen zu diesem Zweck Monopolrechte oder sonstige Vorrechte im Wettbewerb einräumt. Trotz der Spannung, in welche Staatsunternehmen und ein System unverfälschten Wettbewerbs (Art. 3(g) EG/keine direkte Entsprechung im AEUV) damit unausweichlich geraten, hat der EG-Vertrag die Existenz von öffentlichen Unternehmen nicht in Frage gestellt. Art. 86(1) EG/106(1) AEUV setzt sie voraus. Gemäß Art. 295/345 AEUV lässt der EG-Vertrag die Eigentumsordnung in den Mitgliedstaaten unberührt. Die Mitgliedstaaten trifft nach dem EG-Vertrag keine Privatisierungspflicht. Stattdessen statuiert der EG-Vertrag ein Neutralitätsgebot. Gemäß Art. 86(1) EG/106(1) AEUV dürfen die Mitgliedstaaten in Bezug auf öffentliche Unternehmen und auf Unternehmen, denen sie besondere oder ausschließliche Rechte gewähren, keine dem Vertrag und insbesondere dem allgemeinen Gleichbehandlungsgebot (Art. 12 EG/18 AEUV) und den Wettbewerbs- und Beihilfevorschriften (Art. 81–89 EG/101–109 AEUV) widersprechende Maßnahmen treffen oder beibehalten. Sie dürfen daher ihren Einfluss auf öffentliche Unternehmen weder dazu nutzen, die staatsbezogenen Normen des Gemeinschaftsrechts zu umgehen, indem sie diese Unternehmen zu Verhaltensweisen verpflichten oder veranlassen, die als Verhaltensweisen der Mitgliedstaaten unzulässig wären; noch dürfen sie öffentliche Unternehmen, denen sie besondere oder ausschließliche Rechte gewähren, in eine Situation versetzen, in die sich diese Unternehmen durch selbstständige Verhaltensweisen nicht ohne Verstoß gegen Art. 82 EG/102 AEUV versetzen könnten. Schließlich bleiben die Mitgliedstaaten auch bezüglich öffentlicher Unternehmen in vollem Umfang an das Beihilfenverbot des Art. 87(1)/107(1) AEUV gebunden.
Diese Vorgaben stehen im Widerspruch zu der herkömmlichen mitgliedstaatlichen Praxis, die öffentliche Unternehmen von den Vorgaben des Wettbewerbsrechts regelmäßig freigestellt hat. Ausdruck hiervon waren die weiten Monopolrechte, mit denen die Mitgliedstaaten öffentliche Unternehmen in den großen Infrastruktursektoren (Telekommunikation, Post, Bahn etc.) regelmäßig ausgestattet haben, um sie so als wirksames Instrument staatlicher Wirtschaftspolitik und ‑planung nutzen zu können. Die finanziellen Beziehungen zwischen Staat und öffentlichen Unternehmen waren innere Angelegenheiten, typischerweise intransparent und der richterlichen Kontrolle entzogen.
Die Anwendung des Gemeinschaftsrechts auf die mitgliedstaatlichen öffentlichen Unternehmen hat zu einschneidenden Änderungen des mitgliedstaatlichen Rechts und der mitgliedstaatlichen Praxis geführt. In dem Maße, in dem öffentliche Unternehmen dem Wettbewerb ausgesetzt sind und keine Vorrechte mehr genießen, können sie nicht mehr als Steuerungsinstrumente für politische und wirtschaftspolitische Ziele eingesetzt werden. Das Gemeinschaftsrecht hat daher die Funktionen von öffentlichen Unternehmensbeteiligungen eingeschränkt und die Politik der Privatisierungen begünstigt. Im deutschen öffentlichen Recht hat die Einwirkung des Gemeinschaftsrechts eine Debatte über die Umstellung vom Leistungs- auf einen Gewährleistungsstaat ausgelöst.
2. Staatsunternehmen im Recht der EG
a) Art. 31 EG/37 AEUV
Art. 31 EG/37 AEUV verpflichtet die Mitgliedstaaten, ihre staatlichen Handelsmonopole derart umzuformen, dass jede Diskriminierung in den Versorgungs- und Absatzbedingungen zwischen den Angehörigen der Mitgliedstaaten ausgeschlossen ist. Für Einfuhrmonopole folgt nach der Rspr. des EuGH aus dem Umformungsgebot eine Abschaffungspflicht (EuGH Rs. C-59/79 – Manghera, Slg. 1976, 91, Rn. 13), da sie mit einer strukturellen Diskriminierungsgefahr verbunden sind. Ein Handelsmonopol, das selbst darüber entscheidet, zu welchen Bedingungen es Konkurrenzprodukte neben den eigenen Produkten auf dem Markt anbietet, hat eine strategische Position inne, die mit der Chancengleichheit anderer Wirtschaftsteilnehmer unvereinbar ist. Dasselbe gilt nach einer neueren Rspr. des EuGH auch für Ausfuhrmonopole (EuGH Rs. C-159/94 – Energiemonopole Frankreich, Slg. 1997, I-5815, Rn. 33 ff.). Dagegen hat der EuGH Einzelhandelsmonopole für zulässig erachtet, soweit sie durch ein öffentliches Interesse gerechtfertigt waren und eine nicht-diskriminierende Organisation und Funktionsweise des Monopols gewährleistet war (EuGH Rs. C-189/95 – Franzén, Slg. 1997, I-5909, Rn 39; EuGH Rs. C-438/02 – Hanner, Slg. 2005, I-4551, Rn. 34 ff.).
b) Die Bedeutung von Art. 86(1)EG/106(1) AEUV
Öffentliche Unternehmen sind in gleicher Weise wie Privatunternehmen an die europäischen Wettbewerbsregeln, insb. die Art. 81, 82 EG/101, 102 AEUV, gebunden, soweit sie als „Unternehmen“ im Sinne des Wettbewerbsrechts zu qualifizieren sind, d.h. eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben, also Waren oder Dienstleistungen am Markt anbieten (EuGH Rs. C-41/90 – Höfner, Slg. 1991, I-1979, Rn. 21).
Art. 86(1) EG/106(1) AEUV macht darüber hinaus die Mitgliedstaaten als solche zu Normadressaten. Ihnen sind insbesondere Maßnahmen untersagt, durch die Unternehmens- und Marktstrukturen geschaffen würden, die mit dem System unverfälschten Wettbewerbs unvereinbar sind. Zu den wiederkehrenden Fragen gehört, inwieweit die Einräumung besonderer oder ausschließlicher Rechte, welche die begünstigten Unternehmen dem Wettbewerb ganz oder teilweise entziehen, mit dieser Vorgabe vereinbar ist. Der EuGH prüft dies getrennt am Maßstab der Verkehrsfreiheiten und des Wettbewerbsrechts. Zu Art. 86(1) i.V.m. Art. 82 EG/106(1) i.V.m. Art. 107 AEUV heißt es in st. Rspr., dass die bloße Schaffung einer beherrschenden Stellung durch die Gewährung von Sonderrechten als solche nicht gemeinschaftsrechtswidrig ist. Ein Mitgliedstaat verstößt nur dann gegen Art. 86(1) i.V.m. Art. 82 EG/106(1) i.V.m. Art. 107 AEUV, wenn das betreffende Unternehmen bereits durch die Ausübung der ihm übertragenen besonderen oder ausschließlichen Rechte seine beherrschende Stellung missbräuchlich ausnutzt oder wenn durch diese Rechte eine Lage geschaffen werden könnte, in der dieses Unternehmen einen solchen Missbrauch begeht (EuGH Rs. C‑475/99 – Ambulanz Glöckner, Slg. 2001, I-8089, Rn. 39; st. Rspr.). Die Verkehrsfreiheiten ihrerseits begründen nicht nur Diskriminierungs-, sondern darüber hinaus Beschränkungsverbote: den Mitgliedstaaten sind alle Maßnahmen untersagt, welche die Ausübung dieser Freiheiten unterbinden, beschränken oder weniger attraktiv machen (für die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit: EuGH Rs. C-451/03 – Servizi Ausiliari Dottori Commercialisti Srl., Slg. 2006, I-2941, Rn. 31; st. Rspr.). Der EuGH hat wiederholt festgestellt, dass eine Regelung, die – obgleich nicht-diskriminierend – bestimmte Tätigkeiten einem einzelnen Unternehmen vorbehält, den Zugang von in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Wirtschaftsteilnehmern zum Markt der fraglichen Dienstleistungen vollständig ausschließt und die Ausübung der Niederlassungsfreiheit erschwert oder unmöglich macht und daher einer Rechtfertigung aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses bedarf (ebd., Rn. 33–34, 37 u.a.).
c) Das Beihilfenverbot des Art. 87(1) EG/107(1) AEUV
Das EG-Beihilfenrecht gilt auch im Verhältnis zu Staatsunternehmen. Zwar hindert es den Staat nicht, sich an Unternehmen zu beteiligen und ihnen Kapital zuzuführen. Er bewegt sich dabei jedoch nur dann außerhalb des Anwendungsbereichs des Beihilfenrechts, wenn er sich wie ein privater Kapitalgeber verhält, d.h. an Rentabilitätskriterien orientiert (market economy investor principle, EuGH Rs. C-482/99 – Stardust Marine, Slg. 2002, I-4397, Rn. 70; st. Rspr.). Die Abgrenzung kann im Einzelfall erhebliche Schwierigkeiten bereiten.
Beihilfenrechtliche Fragen können sich auch ergeben, wenn ein öffentliches Unternehmen, das für einen Teil seiner wirtschaftlichen Aktivitäten ein Ausschließlichkeitsrecht genießt, seine Tätigkeit im liberalisierten Marktsegment mit Gewinnen aus dem geschützten Bereich quersubventioniert. Insb. im Postsektor haben sich EuG und EuGH um die Entwicklung beihilferechtlicher Maßstäbe für die Beurteilung solcher Quersubventionen bemüht (EuGH Rs. C-83/01 P, C-93/01 P, C-94/01 P – Chronopost, Slg. 2003, I-6993).
Schließlich kann das Beihilfenrecht einschlägig sein, wenn ein Mitgliedstaat einem Unternehmen, welches es mit „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ (s.u.) betraut hat, hierfür einen finanziellen Ausgleich gewährt. Seit dem Altmark Trans-Urteil (EuGH Rs. C-280/00 – Altmark Trans, Slg. 2003, I-7747, Rn. 88 ff.) wird eine solche Ausgleichszahlung nicht als „Begünstigung“ i.S.d. Art. 87(1) EG/107(1) AEUV und daher nicht als Beihilfe qualifiziert, wenn folgende vier Voraussetzungen erfüllt sind: (1) das begünstige Unternehmen ist mit der Erfüllung klar definierter gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen betraut; (2) die Parameter, anhand deren der Ausgleich berechnet wird, sind ex ante objektiv und transparent definiert; (3) der Ausgleich ist auf die Deckung der aus der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung resultierenden Nettokosten beschränkt, einschließlich eines angemessenen Gewinns; (4) und die Höhe des Ausgleichs wird entweder im Rahmen eines offenen Vergabeverfahren bestimmt oder aber auf der Grundlage einer Analyse der Kosten, die bei einem durchschnittlichen, gut geführten Unternehmen anfallen würden. In allen anderen Fällen ist Art. 87 EG/107 AEUV einschlägig und die Ausgleichszahlung bedarf einer Rechtfertigung am Maßstab des Art. 86(2) EG/106(2) AEUV.
d) Ausnahmen (Art. 86(2) EG/106(2) AEUV; Art. 16 EG/14 AEUV.
Der Ausnahmetatbestand des Art. 86(2) EG/106(2) AEUV eröffnet Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind, sowie Mitgliedstaaten, die eine solche Betrauung vorgenommen haben, die Möglichkeit, Verstöße gegen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts zu rechtfertigen, soweit deren Anwendung die Erfüllung der den Unternehmen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindern würde. Gemäß Art. 86(2)2 EG/106(2)2 AEUV darf dadurch die Entwicklung des Handelsverkehrs allerdings nicht in einem Ausmaß beeinträchtigt werden, das dem Interesse der Gemeinschaft zuwiderläuft. Art. 86(2) EG/106(2) AEUV vermittelt zwischen dem Geltungsanspruch der Verkehrsfreiheiten und Wettbewerbsregeln einerseits, den politischen Gestaltungsansprüchen der Mitgliedstaaten in staatsnahen Sektoren andererseits. Die Vorschrift wird von der Rspr. heute als Legalausnahme behandelt (seit EuGH Rs. 66/86 – Ahmed Saeed Flugreisen, Slg. 1989, 803, Rn. 53). Sie kann von öffentlichen oder privaten Unternehmen in Anspruch genommen werden, sofern nur eine Betrauung i.S.d. Art. 86 EG/106 AEUV vorliegt.
Die zunächst mit erheblichen Unsicherheiten verbundenen Tatbestandsmerkmale des Art. 86(2) EG/106(2) AEUV hat der EuGH seit Mitte der 1980er Jahre zunehmend konkretisiert. Die EU-Kommission hat ferner eine Reihe einschlägiger Mitteilungen veröffentlicht (zuletzt Mitteilung zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse unter Einschluss von Sozialleistungen: Europas neues Engagement, 20.11.2007, KOM (2007) 725 endg.). Unter „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ werden marktbezogene Tätigkeiten verstanden, die im Interesse der Allgemeinheit erbracht und daher von den Mitgliedstaaten mit besonderen Gemeinwohlverpflichtungen verbunden werden (Mitteilung zu Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa, ABl. 1996 C 281/3). Ihre Eigenart besteht darin, dass die fraglichen Leistungen auch dann erbracht werden müssen, wenn dies für das betraute Unternehmen im Einzelfall unrentabel ist (EuG Rs. T-289/03 – BUPA, Slg. 2008, II-81, Rn. 190. Die Mitgliedstaaten verfügen bei der Bestimmung, welche Leistungen einen solchen Kontrahierungszwang rechtfertigen, über ein weites Ermessen, das nur auf offenkundige Fehler hin kontrolliert wird. Die Ermessensgrenzen sind bis heute ungewiss. In jedem Fall setzt die Inanspruchnahme des Art. 86(2) EG/106(2) AEUV einen hoheitlichen Betrauungsakt voraus, der Angaben über die Art des Versorgungsauftrags und seine geographische und zeitliche Reichweite, das betraute Unternehmen und die diesem im Gegenzug gewährten Privilegien enthalten muss. Der Betrauungsakt soll sicherstellen, dass sich der Versorgungsauftrag am allgemeinen wirtschaftlichen Interesse und nicht am Eigeninteresse des betrauten Unternehmens orientiert; er soll ferner Rechtssicherheit und Transparenz gewährleisten. Er bildet den Maßstab für die in Art. 86(2) EG/106(2) AEUV vorgesehene Verhältnismäßigkeitsprüfung. Deren Reichweite gehört zu den bis heute umstrittenen Fragen. Unklar ist insbesondere, unter welchen Voraussetzungen eine Berufung auf Art. 86(2) EG/106(2) AEUV ausgeschlossen ist, weil der Versorgungsauftrag auch mit alternativen, gemeinschaftsfreundlicheren Mitteln als etwa der Beibehaltung eines Ausschließlichkeitsrechts gewährleistet werden kann. Gewiss ist, dass ein Mitgliedstaat nicht auf die Möglichkeit einer Beihilfenfinanzierung anstelle der Beibehaltung von Ausschließlichkeitsrechten verwiesen werden kann. Den Energiemonopol-Urteilen des EuGH zufolge kann die Kommission aber grds. Möglichkeiten aufzeigen, wie die Erbringung der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse auch bei Abschaffung der Ausschließlichkeitsrechte durch einen angemessenen Regulierungsrahmen sichergestellt werden kann. Die Darlegungslast liegt in einem solchen Fall zunächst bei der Kommission (EuGH Rs. C-157/94 – Energiemonopole Niederlande, Slg. 1997, I-5699, Rn. 58 f.).
Die Schranken-Schranke des Art. 86(2)2 EG/106(2)2 AEUV hat in der Praxis bislang keine Bedeutung erlangt.
Mit dem Vertrag von Amsterdam ist ein neuer Art. 16 in den EG-Vertrag eingeführt worden (künftig Art. 14 AEUV). Die Vorschrift normiert den Stellenwert der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse innerhalb der gemeinsamen Werte der Union und ihre Bedeutung für die Förderung des sozialen und territorialen Zusammenhalts. Die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten haben im Rahmen ihrer jeweiligen Befugnisse für die Funktionsfähigkeit dieser Dienste zu sorgen. Die Initiative für die Vertragsänderung ging von den Mitgliedstaaten, insbes. von Frankreich, aus und sollte die Organisationshoheit der Mitgliedstaaten über ihre öffentlichen Sektoren wieder herzustellen. Der Rspr. des EuGH lässt sich allerdings nicht entnehmen, dass Art. 16 EG/14 AEUV im Ergebnis zu einer Abschwächung der Art. 86(2) EG/106(2) AEUV innewohnenden Kontrollmaßstäbe geführt hat. Eine solche Schwächung ist im Ergebnis auch nicht durch den Vertrag von Lissabon zu erwarten, der in einem dem bisherigen Art. 16 neu hinzugefügten S. 2 eine Rechtsgrundlage für den Erlass von Verordnungen des Parlaments und des Rates betreffend die Grundsätze und Bedingungen des Funktionierens der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse schafft. Diese Rechtsgrundlage tritt in Konkurrenz sowohl zu Art. 95 und zu Art. 86(3)EG/106(3) AEUV (s.u.). Das Initiativrecht verbleibt aber bei der Kommission.
e) Art. 86(3)EG/106(3) AEUV
Art. 86(3)EG/106(3) AEUV ermächtigt die Kommission, Entscheidungen und Richtlinien an die Mitgliedstaaten (nicht an die Unternehmen) zu richten, wenn dies zur Durchsetzung des Art. 86 EG/106 AEUV erforderlich ist. Die Möglichkeit der Kommission, Richtlinien zu erlassen, ist von den Mitgliedstaaten wiederholt angegriffen, vom EuGH aber bestätigt worden (z.B. EuGH Rs. C-271/90, 281/90 und 289/90 – Telekommunikationsdienste, Slg. 1992, I-5833, Rn. 12; st. Rspr.). Auf Art. 86(3)EG/106(3) AEUV ist insb. die Transparenz-RL (RL 2006/111) gestützt. Sie soll die Transparenz der finanziellen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und ihren öffentlichen Unternehmen sowie die finanzielle Transparenz innerhalb öffentlicher Unternehmen in teilliberalisierten Märkten gewährleisten, um die wirksame Anwendung der Beihilfenregeln sicherzustellen. Auf Art. 86(3)EG/106(3) AEUV ist ferner die RL 2002/2007 über den Wettbewerb auf den Märkten für elektronische Kommunikationsnetze und ‑dienste gestützt.
3. Infrastruktursektoren von gemeinschaftsweiter Bedeutung
Die verstärkte Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln auf unternehmerisches und staatliches Verhalten in den herkömmlich öffentlichen Sektoren hat zur Liberalisierung dieser Sektoren beigetragen, aber auch zu neuen Regulierungen geführt. In den großen Infrastruktursektoren von gemeinschaftsweiter Bedeutung (insbes. Telekommunikation, Post, Energie und Transport) hat die Gemeinschaft einen harmonisierten Rahmen für die Re-Regulierung geschaffen. Ziel dieser Rechtsetzung ist es, den notwendigen Schutz öffentlicher Interessen, einschließlich des Schutzes der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, mit der Herstellung von Wettbewerb in Einklang zu bringen und die Voraussetzungen für einen Binnenmarkt herzustellen. Exemplarisch hierfür ist die Universaldienst-RL (RL 2002/22) für den Bereich der elektronischen Kommunikation: sie definiert diejenigen Dienste, die von allen Mitgliedstaaten in bestimmter Qualität allen Endnutzern in ihrem Hoheitsgebiet zu einem erschwinglichen Preis zur Verfügung zu stellen sind („Universaldienst“) und legt zugleich diejenigen wettbewerbskonformen Mechanismen fest, mit denen etwaige Nettokosten des Universaldienstes finanziert werden können. Mit der vollständigen Abschaffung der Ausschließlichkeitsrechte im Postsektor zum 31.12.2010 durch die RL 2008/6 folgt die Gemeinschaft im Postsektor einem ähnlichen Modell. In den Energiebinnenmarkt-RL’en (Elektrizitätsbinnenmarkt-RL [RL 2003/54]; Gasbinnenmarkt-RL [RL 2003/55]) ist die Abschaffung der Ausschließlichkeitsrechte, jedoch keine Vereinheitlichung eines Universaldienstes auf Gemeinschaftsebene vorgesehen. Im Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs gebietet das Gemeinschaftsrecht zwar keine Abschaffung der Ausschließlichkeitsrechte, wohl aber die Herstellung von Wettbewerb um den Markt (siehe VO 1370/2007 über öffentliche Personenverkehrsdienste). Keine der Richtlinien oder Verordnungen gebietet eine Privatisierung von öffentlichen Unternehmen. In vielen Mitgliedstaaten sind jedoch Privatisierungen und/oder Teilprivatisierungen erfolgt, gelegentlich unter Einführung sog. „goldener Aktien“ (golden shares), um dem Mitgliedstaat einen Einfluss auf bestimmte strategische Grundlagenentscheidungen zu sichern. Dieser Praxis hat der EuGH in einer umfangreichen Rechtsprechung anhand der Grundfreiheiten enge Grenzen gezogen (siehe EuGH verb. Rs. C-463/04 und C-464/04 – Federconsumatori, Slg. 2007, I-10419 m.w.N.).
Literatur
Ulrich Ehricke, Staatliche Eingriffe in den Wettbewerb, 1994; Ernst-Joachim Mestmäcker, Daseinsvorsorge und Universaldienst im europäischen Kontext, in: Festschrift für Hans F. Zacher, 1997, 635 ff.; Damien Géradin (Hg.), The Liberalization of State Monopolies in the European Union and Beyond, 2000; Heike Schweitzer, Daseinsvorsorge, ‚service public‘, Universaldienst, 2001/2002; Thomas von Danwitz, Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse in der europäischen Wettbewerbsordnung, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 2002/I, 2003, 73 ff.; Josh Holmes, The Control of State Action under EC Competition Law, in: Valentine Korah (Hg.), Competition Law of the European Community, 2. Aufl. 2005; José Luis Buendia Sierra, Article 86: Exclusive Rights and Other Anti-Competitive State Measures, in: Jonathan Faull, Ali Nikpay (Hg.), The EC Law of Competition, 2. Aufl. 2007, 593 ff.; Ernst-Joachim Mestmäcker, Heike Schweitzer, Art. 31, 86 EGV, in: Ulrich Immenga, Ernst-Joachim Mestmäcker (Hg.), Wettbewerbsrecht Bd. 1/EG Teil 1, 4. Aufl. 2007; Erika Szyszczak, The Regulation of the State in Competitive Markets in the EU, 2007.