Principles of European Family Law: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 28. September 2021, 17:36 Uhr
von Walter Pintens
1. Die Europäisierung des Familienrechts
Die Europäisierung des Familienrechts ist ein herausragendes Merkmal der Entwicklung dieses Rechtsgebiets seit den 1970er Jahren. Die Gründe dieser Entwicklung liegen nicht nur in großen soziologischen Veränderungen, die das Familienrecht überall in Europa kennzeichnen, und in dem Einfluss der Menschenrechte, die das Familienrecht vor allem durch die Rechtsprechung des EGMR überall in Europa gewandelt haben, sondern auch in einem europäischen Bewusstsein, welches das Familienrecht zu einem Gebiet der Rechtsvergleichung gemacht hat. Zunehmende Migration, gemischte Ehen, internationale Ehescheidungen (Scheidung) und Erwerb von ausländischen Vermögen haben hierzu beigetragen.
Das Familienrecht ist nicht mehr in einem so hohen Grad in einer regionalen Kultur eingebettet wie früher. Familienrecht – sowie das Recht im Allgemeinen – kann selbstverständlich nicht völlig unabhängig von kulturellen Entwicklungen und Hintergründen gesehen werden. Aber die aktuellen Reformen und ihre Tendenzen zeigen, dass die einzel- und innerstaatlichen Familienrechte, auch wenn bedeutende Unterschiede bleiben, konvergieren und zusammenwachsen
Die Suche nach einem ius commune, die lange mit Initiativen wie der Lando-Kommission auf das Vertragsrecht und verwandte Gebiete beschränkt geblieben war, betrifft nun auch das Familienrecht. Nicht nur eine umfangreiche Literatur, sondern auch konkrete Vorschläge, welche die spontane Rechtsangleichung fördern und mittel- oder langfristig zur Rechtsvereinheitlichung beitragen können, sind das Resultat.
2. Die Commission on European Family Law
Vor diesem Hintergrund ist 2001 aufgrund einer akademischen Initiative die Commission on European Family Law gegründet worden. Die Gründung beruht auf dem Gedanken, dass das Familienrecht in Anbetracht der großen Mobilität der europäischen Bürger bei der Suche nach einem ius commune nicht fehlen darf und dass das vorhandene Instrumentarium des internationalen Privatrechts sowie die legislatorischen und rechtsprechenden Aktivitäten des Europarats und der Europäischen Union nicht ausreichen, um eine weitere Harmonisierung zu fördern. Die Kommissionsmitglieder sind der Überzeugung, dass eine gewisse Harmonisierung des Familienrechts wünschenswert ist, um einen wirklichen freien Personenverkehr zu realisieren und dass diese Harmonisierung die europäische Identität und einen effizienten einheitlichen Rechtsraum fördern wird.
Die Kommission ist aus zwei Gremien zusammengestellt: dem Organising Committee und der Expert Group.
Die Kommission formuliert Prinzipien, die das ius commune der einzelnen Rechtsordnungen bilden und als Inspirationsquelle für die nationalen Gesetzgeber von Nutzen sein können. Weist das common core nicht in Richtung einer für alle Rechtssysteme akzeptablen Lösung, die für die Zukunft Bestand haben kann oder sind die Lösungen der einzelnen Rechtssysteme so unterschiedlich, dass kein common core vorhanden ist, genügt das reine Restatement nicht und schlägt die Kommission auf Grund einer better law-approach eigene Lösungen vor. Hier wird dann untersucht, welches Interesse am schutzbedürftigsten ist.
Das Verfahren, um zu Principles zu kommen, beginnt mit einem vom Organising Committee ausgearbeiteten Fragebogen. Die von diesem ernannten Mitglieder der Expert Group – jeweils Spezialisten einzelner nationaler Familienrechtsordnungen – fertigen Berichte über die Rechtslage in ihren Herkunftsstaaten an. Ein Principles-Entwurf wird von einem oder mehreren Mitgliedern des Organising Committee verfasst, im Committee besprochen und der Expert Group zur Beratung vorgelegt.
Die Kommission hat Prinzipien zum Scheidungsrecht und zum nachehelichen Unterhalt (2004) und zur elterlichen Verantwortung (2007) ausgearbeitet. Prinzipien zum Ehegüterrecht sind in Vorbereitung.
3. Prinzipien zum Scheidungsrecht und zum nachehelichen Unterhalt
Das althergebrachte scheidungsrechtliche Schuldprinzip spielt in den Prinzipien der Kommission keine Rolle mehr. Der Stand des Scheidungsrechts lässt feststellen, dass die Mehrzahl der Rechtssysteme die Verschuldensscheidung ablehnt oder sich im Endergebnis zu einem System entwickelt hat, das die Verschuldensscheidung in der Praxis marginalisiert (Scheidung). Bedeutend waren hier auch gerade abgeschlossene oder künftige Reformen, die mehr und mehr auf das Zerrüttungssystem abstellen, auch wenn das Verschulden noch nicht immer vollkommen ausgeschlossen wird. So existieren etwa in Belgien, Frankreich und Österreich nach wie vor Verschuldens- und Zerrüttungsscheidung Seite an Seite.
Die Kommission schlägt zwei Scheidungsformen vor, die einverständliche und die einseitige Scheidung (Prinzip 1:3).
Die einverständliche Scheidung wird wegen ihrer großen Bedeutung in vielen Rechtssystemen und wegen ihres humanen Charakters als vorrangige Form vorgeschlagen. Sie gilt als autonomer Scheidungsgrund und nicht als Unterform der Zerrüttungsscheidung. Sie ist auch möglich, wenn keine Einigkeit über die Scheidungsfolgen besteht. Sie ist an keine anderen Bedingungen wie faktische Trennung oder Ehedauer geknüpft (Prinzip 1:4). Das bloße Einverständnis der Ehegatten genügt. Bei Kindern unter sechzehn Jahren oder in Ermangelung einer Einigung über alle Scheidungsfolgen gilt eine Überlegungsfrist (Prinzip 1:5).
In einem ersten Entwurf hatte das Organising Committee vorgeschlagen, die einseitige Scheidung – wie im deutschen und niederländischen Recht – auf die Ehezerrüttung zu gründen. Sie wäre dann mit der faktischen Trennung zu beweisen gewesen. Die Expert Group hat aber dafür plädiert, sofort bei der faktischen Trennung anzuknüpfen und die Ehezerrüttung nicht mehr ausdrücklich als Scheidungsgrund zu erwähnen, da sie eine bedeutungslose zusätzliche Hürde ist. Die Prinzipien sehen nunmehr eine einseitige Scheidung nach einer einjährigen faktischen Trennung vor (Prinzip 1:8). In Fällen außergewöhnlicher Härte ist die Ehescheidung auch ohne Trennungsjahr möglich (Prinzip 1:9).
Die Prinzipien zum nachehelichen Unterhalt stellen die Selbstverantwortung ins Zentrum. Jeder Ehegatte hat im Prinzip für seinen eigenen Unterhalt zu sorgen (Prinzip 2:2). Unterhalt kann gewährt werden, wenn auf Seiten des Unterhaltsberechtigten unzureichende Mittel zur Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse vorhanden sind und auf Seiten des Unterhaltspflichtigen die Fähigkeit zur Leistung vorliegt (Prinzip 2:3). Bei der Beurteilung des Anspruches sind mehrere Umstände zu berücksichtigen, wie die Erwerbsmöglichkeit, das Alter und der Gesundheitszustand der Ehegatten, die Sorge für die Kinder, die Aufteilung der Aufgaben während der Ehe, die Dauer der Ehe, die Lebensverhältnisse während der Ehe sowie eine neue Ehe oder eine dauerhafte Lebensgemeinschaft (Prinzip 2:4). Der Unterhalt ist im Prinzip zeitlich begrenzt (Prinzip 2:8). Außergewöhnliche Härte für den Unterhaltsverpflichteten kann zu Versagung, Beschränkung oder Beendigung des Unterhalts führen (Prinzip 2:6).
Bei einer Mehrheit von Unterhaltsansprüchen ist dem minderjährigen Kind Vorrang zu geben und ist die Unterhaltspflicht gegenüber dem neuen Ehegatten zu berücksichtigen (Prinzip 2:7).
Die Unterhaltspflicht endet, wenn der Unterhaltsberechtigte Ehegatte eine neue Ehe oder eine dauerhafte Lebensgemeinschaft eingeht (Prinzip 2:9).
Die Prinzipien haben schon einen gewissen Einfluss ausgeübt. So hat Portugal sich bei der Scheidungsreform 2008 sehr von den Prinzipien inspirieren lassen.
4. Prinzipien zur elterlichen Verantwortung
Prinzip 3:1 definiert die elterliche Verantwortung als ein Bündel von Rechten und Pflichten, die auf Förderung und Sicherung des Wohles des Kindes abzielen. Dieses Bündel umfasst insbesondere Sorge, Schutz und Erziehung, das Unterhalten persönlicher Beziehungen, die Bestimmung des Aufenthalts sowie die Verwaltung des Vermögens und die gesetzliche Vertretung.
Prinzip 3:2 definiert als Inhaber der elterlichen Verantwortung jede Person, welcher die in Prinzip 3:1 genannten Rechte und Pflichten ganz oder teilweise zustehen. Die breite Definition sieht selbstverständlicherweise die Eltern als wichtigste Inhaber der elterlichen Verantwortung, berücksichtigt aber ebenfalls andere Personen, denen die elterliche Verantwortung zusammen mit den Eltern oder an Stelle der Eltern zusteht.
Prinzip 3:4 erkennt die Autonomie des Kindes und dessen Bedürfnis, selbständig zu handeln, im Verhältnis zu seinen wachsenden Fähigkeiten an. Dieses allgemeine Prinzip bedeutet, dass das Kind in Übereinstimmung mit seinen Bedürfnissen und seinen Fähigkeiten an den es betreffenden Entscheidungen zu beteiligen ist. Es wird kein Akzent auf das Kindesalter gelegt, sondern vielmehr auf die Verbindung zwischen der Fähigkeit und dem Bedürfnis des Kindes, selbständig zu handeln. Eine konkrete Anwendung dieses Prinzips findet sich in Prinzip 3:6 über das Recht des Kindes auf Gehör.
Personen, deren gesetzliche Elternschaft gegenüber einem Kind feststeht, haben von Rechts wegen die elterliche Verantwortung, unabhängig vom Status der Kinder und der Eltern (Prinzip 3:8). Die gemeinsame Ausübung der elterlichen Sorge gilt als Grundmodell (Prinzip 3:11).
Prinzip 3:17 regelt die zusätzlich zur elterlichen Sorge oder an die Stelle der Ausübung durch die Eltern tretende Ausübung der elterlichen Verantwortung durch Dritte.
Weitere Prinzipien regeln den Inhalt der elterlichen Verantwortung und deren Beendigung, Entziehung und Wiederherstellung sowie einige Verfahrensfragen (Prinzip 3:20-39).
Literatur
Katharina Boele-Woelki (Hg.), Perspectives for the Unification and Harmonisation of Family Law in Europe, 2003; Walter Pintens, Grundgedanken und Perspektiven einer Europäisierung des Familien- und Erbrechts, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 2003, 329 ff., 417 ff., 499 ff.; Katharina Boele-Woelki, FrédériqueFerrand, Christina González-Beilfuss, Maarit Jänterä-Jareborg, Nigel Lowe, Dieter Martiny, Walter Pintens, Principles of European Family Law Regarding Divorce and Maintenance between Former Spouses, 2004; Nina Dethloff, Europäische Vereinheitlichung des Familienrechts, Archiv für die civilistische Praxis 204 (2004) 545 ff.; Marianne Roth, Impulse für ein europäisches Familienrecht, Zeitschrift für Rechtsvergleichung 2004, 92 ff.; Katharina Boele-Woelki, The working method of the Commisson of European Family Law, in: Katharina Boele-Woelki (Hg.), Common Core and Better Law in European Family Law 2005, 15 ff.; Frédérique Ferrand, Les Principes de droit du divorce établis par la Commission de droit européen de la famille, Revue Lamy Droit Civil, 2005, 29 ff.; Salvatore Patti, I principi di diritto europeo della famiglia sul divorzio e il mantenimento tra ex coniugi, Familia 2005, 337 ff.; Katharina Boele-Woelki, Dieter Martiny, Prinzipien zum Europäischen Familienrecht betreffend Ehescheidung und nachehelicher Unterhalt, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 14 (2006) 6 ff.; Katharina Boele-Woelki, Frédérique Ferrand, Christina González-Beilfuss, Maarit Jänterä-Jareborg, Nigel Lowe, Dieter Martiny, Walter Pintens, Principles of European Family Law Regarding Parental Responsibilities, 2007; Walter Pintens, Europäische Prinzipien zur elterlichen Verantwortung, in: Festschrift für Reiner Frank, 2008, 473 ff.