Geschäftspraktiken, aggressive: Unterschied zwischen den Versionen

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Aktuelle Version vom 8. September 2021, 11:28 Uhr

von Ansgar Ohly

1. Gegenstand, Begriff und Regelungszweck

Der Verbraucher kann seine Schiedsrichterfunktion im Wettbewerb nur dann sinnvoll wahrnehmen, wenn er auf der Grundlage zutreffender Information frei entscheiden kann. Ein Lauterkeitsrecht, das die Funktionsbedingungen der Marktwirtschaft sichert, ist damit aufgerufen, die Grundlagen und die Freiheit der rationalen Verbraucherentscheidung zu schützen. Dem Schutz der Entscheidungsgrundlage dient das Verbot irreführender Geschäftspraktiken, dem Schutz der Entscheidungsfreiheit dient das Verbot aggressiver Geschäftspraktiken. Letzteres bildet zugleich den Flankenschutz für diejenigen Bestimmungen des Vertragsrechts, die einem Vertragspartner die Lösung vom Vertrag im Fall der Drohung oder der unzulässigen Beeinflussung (undue influence) erlauben oder ihm für bestimmte Geschäftssituationen wie Haustürgeschäfte oder Fernabsatzverträge ein Widerrufsrecht zubilligen.

Eine Geschäftspraxis gilt als aggressiv, wenn sie die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers durch Belästigung, Nötigung oder unzulässige Beeinflussung tatsächlich oder voraussichtlich beeinträchtigt und den Verbraucher dadurch zu einer Entscheidung veranlasst, die er andernfalls nicht getroffen hätte (Art. 8 der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken [UGP-RL, RL 2005/‌ 29]). Die aggressive Werbung wirkt also gerade auf die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers ein und unterscheidet sich so von der bloß belästigenden Werbung, etwa der unerwünschten Telefon- oder E-Mail-Werbung.

2. Rechtsentwicklung

Vor Erlass der UGP-RL unterschied sich der Schutz gegen aggressive Werbung in den Mitgliedstaaten so deutlich wie das Lauterkeitsrecht insgesamt (Unlauterer Wettbewerb (Grundlagen); Unlauterer Wettbewerb (Rechtsfolgen)). Das frühere deutsche Recht verbot die Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit unter § 1 UWG a.F. recht weitgehend durch die Fallgruppe des „Kundenfangs“, teils auch durch diejenige der belästigenden Werbung. Für das französische Recht war ein derartiges allgemeines Verbot nicht ersichtlich, doch waren potentiell die Entscheidungsfreiheit beeinträchtigende Geschäftspraktiken wie Zugaben, Kopplungsangebote und Gewinnspiele restriktiven Regelungen unterworfen. Das englische Recht ermöglicht zwar einer Vertragspartei im Fall der undue influence die Lösung vom Vertrag, schützte Verbraucher hingegen nicht im Vorfeld des Vertragsschlusses gegen unangemessene Beeinflussung. Lediglich die Kodices der freiwilligen Selbstkontrolle enthielten entsprechende Verbote.

Die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken zielt nunmehr auf eine vollständige Harmonisierung des Lauterkeitsrechts im Verhältnis zwischen Unternehmern und Verbrauchern (unlauterer Wettbewerb). Die Richtlinie führt im Rahmen der Generalklausel des Art. 5 aggressive Geschäftspraktiken als Beispiel unlauterer Geschäftspraktiken auf (Art. 5(4) UGP-RL). Der Begriff der aggressiven Geschäftspraxis wird in Art. 8, 9 UGP-RL definiert. Diese ihrerseits noch generalklauselartige Definition wird durch acht Beispielsfälle der „schwarzen Liste“ konkretisiert.

Damit gilt für das Verbot aggressiver Geschäftspraktiken nunmehr ein gemeinschaftsrechtlicher Standard, den die Mitgliedstaaten vorbehaltlich der Übergangsvorschrift des Art. 3(5) UGP-RL weder über- noch unterschreiten dürfen. Allerdings ist die Harmonisierungswirkung der Richtlinie in dreifacher Hinsicht eingeschränkt. Erstens sind die normativen Vorgaben für aggressive Werbung wegen der generalklauselartigen Formulierung des Art. 8 UGP-RL und wegen der begrenzten praktischen Relevanz einiger Tatbestände der „schwarzen Liste“ noch sehr unbestimmt. Erst die künftige Rechtsprechung des EuGH wird den Begriff der „aggressiven“ Praxis konkretisieren. Zweitens bleiben die Mitgliedstaaten befugt, über die Richtlinie hinaus Geschäftspraktiken aus Gründen der „guten Sitten und des Anstandes“ zu verbieten (Erwägungsgrund 7). Damit behalten die Mitgliedstaaten insbesondere die Möglichkeit, belästigende Praktiken wie das Ansprechen von Verbrauchern auf der Straße (ausdrücklich in Erwägungsgrund 7 genannt), die Telefonwerbung (Regelung freigestellt durch Art. 13 der E-Datenschutz-RL [RL 2002/‌58]) oder Hausbesuche von Vertretern auch dann zu verbieten, wenn die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers nicht beeinträchtigt wird (so etwa § 7 des dt. UWG). Drittens überlässt die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken den Mitgliedstaaten die Wahl des Instrumentariums zur Durchsetzung der Bestimmungen über unlautere Geschäftspraktiken.

Dementsprechend unterschiedlich fällt die Umsetzung der Richtlinie in den Mitgliedstaaten aus (Unlauterer Wettbewerb (Grundlagen); Unlauterer Wettbewerb (Rechtsfolgen)). Im deutschen Recht bestand mit § 4 Nr. 1 UWG bereits seit 2004 eine dem Art. 8 UGP-RL vergleichbare Vorschrift, zusätzlich verbietet § 4 Nr. 2 UWG die Ausnutzung von Unerfahrenheit, Angst oder einer Zwangslage. Diese Bestimmungen werden weitgehend beibehalten. Damit besteht in Deutschland ein rein zivilrechtliches Umsetzungsmodell: Die aggressive Werbung kann von Mitbewerbern und Verbänden mit Abwehransprüchen bekämpft werden (§ 8 UWG), Mitbewerbern steht zudem ein Schadensersatzanspruch zu (§ 9 UWG) und Verbraucherverbände können Gewinnabschöpfung zugunsten der Staatskasse verlangen (§ 10 UWG). In Frankreich wurde Art. 8 im Code de la consommation umgesetzt, ein Verstoß löst in erster Linie strafrechtliche Rechtfolgen aus. In mehreren Mitgliedstaaten, etwa in Italien, erhalten Wettbewerbsbehörden die Zuständigkeit, gegen aggressive Geschäftspraktiken vorzugehen. Ähnliches gilt für das britische Recht, wo aber zusätzlich der freiwilligen Werbeselbstkontrolle erhebliche Bedeutung zukommt.

3. Regelungsgehalt und ‑struktur

Der Schutz gegen aggressive Geschäftspraktiken in der UGP-RL ist dreistufig aufgebaut. Die Prüfung vollzieht sich in umgekehrter Reihenfolge, also vom Konkreten zum Allgemeinen.

Auf der ersten Stufe verbietet die Generalklausel des Art. 5(1) UGP-RL unlautere Geschäftspraktiken im Allgemeinen und nennt aggressive Geschäftspraktiken als Beispiel (Art. 5(4) UGP-RL).

Die zweite Stufe bildet das generalklauselartig formulierte Verbot aggressiver Geschäftspraktiken in Art. 8 UGP-RL, der drei Voraussetzungen enthält. (i) Es muss eine Geschäftspraxis im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmern und Verbrauchern im Sinne des Art. 2 (d)UGP-RL, also eine Handlung vorliegen, die unmittelbar mit der Absatzförderung, dem Verkauf oder der Lieferung eines Produkts zusammenhängt. Aggressive Praktiken gegenüber Unternehmen werden durch die Richtlinie nicht erfasst, insoweit verbleibt den Mitgliedstaaten bisher eigener Regelungsspielraum. (ii) Als Mittel der Einwirkung nennt Art. 8 UGP-RL die Belästigung, die Nötigung und die unzulässige Beeinflussung. Letztere wird in Art. 2(j) UGP-RL definiert als „Ausnutzung einer Machtposition gegenüber dem Verbraucher zur Ausübung von Druck, auch ohne die Anwendung körperlicher Gewalt, in einer Weise, die die Fähigkeit des Verbrauchers zu einer informierten Entscheidung wesentlich einschränkt“. Der Unternehmer muss also aufgrund seiner Überlegenheit beim Verbraucher den Eindruck erwecken, dieser erleide einen empfindlichen Nachteil, wenn er sich auf den Willen des Unternehmers nicht einlässt. Helmut Köhler und Tobias Lettl unterscheiden zwischen einer strukturbedingten Machtposition, die sich aus einer familiären, sozialen, wirtschaftlichen, verbandsmäßigen oder intellektuellen Überlegenheit des Unternehmers gegenüber dem Verbraucher ergibt, und einer situationsbedingten Machtposition, bei der sich der Unternehmer Besonderheiten der Situation (etwa die faktische Schwierigkeit, einen Vertreter aus der Wohnung zu weisen oder ein Ladengeschäft zu verlassen) zunutze macht. (iii) Die Belästigung oder Beeinflussung muss sich tatsächlich oder voraussichtlich auf die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers auswirken. Dabei ist das Verhalten eines Durchschnittsverbrauchers maßgeblich, sofern sich die Geschäftspraxis nicht an besonders schutzwürdige Personenkreise richtet (Art. 5(2), (3) UGP-RL).

Auf der dritten Stufe konkretisiert die „schwarze Liste“ das Verbot aggressiver Praktiken und benennt Verhaltensweisen, die unter allen Umständen als unlauter gelten. Hierzu zählen das Erwecken des Eindrucks, der Verbraucher könne die Räumlichkeiten des Unternehmers ohne Vertragsschluss nicht verlassen (Nr 24), die Weigerung eines Vertreters, die Wohnung des Verbrauchers zu verlassen (Nr. 25), die hartnäckige und unerwünschte Telefon-, Fax- oder E-Mail-Werbung (Nr. 26, schon die einmalige unerwünschte Werbung per Fax oder E-Mail ist nach Art. 13 der E-Datenschutzrichtlinie verboten, zu den weitergehenden Möglichkeiten des nationalen Rechts s.o.), die Aufforderung des Verbrauchers zur Bezahlung unbestellt zugesandter Waren (Nr. 29) und die falsche Gewinnmitteilung (Nr. 31, die allerdings eher dem Irreführungsverbot zuzuordnen ist). Probleme bereitet die Auslegung der Nr. 28, der zufolge direkte Aufforderungen an Kinder in der Werbung, die Produkte zu kaufen oder ihre Eltern zum Kauf zu überreden, als unlauter gelten. Umstritten ist vor allem, ob der Begriff „Kind“ auch Jugendliche ab dem 14. Lebensjahr umfasst und wann von einer „Aufforderung“ die Rede sein kann.

Nicht ausdrücklich geregelt werden in der Richtlinie Maßnahmen der Verkaufsförderung wie Zugaben, Rabatte, Kopplungsangebote oder Gewinnspiele. Diese Praktiken waren früher in einigen europäischen Rechtsordnungen strikten Beschränkungen unterworfen und sind nach wie vor nicht uneingeschränkt erlaubt. Der Versuch der Kommission, diese Sachverhalte im Verordnungswege zu regeln, scheiterte; der Vorschlag für eine Verordnung über Verkaufsförderung im Binnenmarkt von 2001 wurde zurückgezogen. In der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken fehlen weitgehend spezielle Bestimmungen, so dass in erster Linie die allgemeinen Verbote irreführender und aggressiver Praktiken greifen. Irreführend ist etwa die fälschliche Bezeichnung eines Angebots als „gratis“ (Nr. 20 der „schwarzen Liste“), das Angebot von Wettbewerben oder Preisausschreiben, ohne dass die Preise vergeben werden (dort Nr. 19) oder die falsche Gewinnmitteilung (dort Nr. 31). Nicht geklärt ist auf Gemeinschaftsebene aber die Reichweite des Transparenzgebots, also die Frage, welche Informationen der Anbieter von Rabatten, Kopplungsangeboten und ähnlichen Gelegenheiten dem Verbraucher zur Verfügung stellen muss (Geschäftspraktiken, irreführende). Das Verbot der aggressiven Werbung spielt in diesem Zusammenhang nur noch eine sekundäre Rolle, weil vom Durchschnittsverbraucher regelmäßig erwartet werden kann, dass er in der Lage ist, die Vorteile einer Zugabe, eines Rabatts oder einer ähnlichen Maßnahme rational zu beurteilen. Etwas anderes kann für besonders schutzbedürftige Verbraucherkreise wie Jugendliche gelten (vgl. Art. 5(3) UGP-RL und § 4 Nr. 2 des dt. UWG). Bestimmungen der Mitgliedstaaten, die bestimmte Maßnahmen der Verkaufsförderung generell, also unabhängig von ihrer Irreführungseignung oder ihrem Einfluss auf die Entscheidungsfreiheit verbieten, sind mit der UGP-RL nur dann vereinbar, wenn die Verbote ausdrücklich in der „schwarzen Liste“ genannt werden. Das belgische generelle Verbot von Kopplungsgeschäften hat der EuGH daher als mit der Richtlinie unvereinbar erklärt (EuGH verb. Rs. C-261/‌07 und C-299/‌07 – VTB-VAB/‌Total, Medien und Recht 2009, 103). Der BGH hat dem EuGH die Frage vorgelegt, ob § 4 Nr. 6 UWG, der eine Kopplung der Teilnahme an Preisausschreiben und Gewinnspielen an den Erwerb der Ware verbietet, mit Art. 5(2) UGP-RL vereinbar ist (BGH 5.6.2008, GRUR 2008, 807). Es steht zu erwarten, dass der EuGH diese Frage verneinen wird.

4. Bewertung und Ausblick

Der Schutz der Verbraucher vor einer Beeinträchtigung ihrer Entscheidungsfreiheit gehört zum Kernbestand des Lauterkeitsrechts. Während sich in der Vergangenheit in Europa liberale Rechtsordnungen wie das englische Recht und hochregulierte Rechtsordnungen wie das deutsche Recht diametral entgegengesetzt gegenüberstanden, stellt die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken ein bedeutendes Zwischenergebnis in einem Konvergenzprozess dar, der schon in den späten 1990er Jahren begann. Allerdings ist auch in Zukunft damit zu rechnen, dass nationale Gerichte unterschiedlich darüber urteilen, wie aggressiv der Verbraucher umworben werden darf. Der Rechtsprechung des EuGH wird daher eine wesentliche Bedeutung bei der Konkretisierung des Begriffs „aggressive Geschäftspraxis“ zukommen. Außerdem werden sich die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten wegen der divergierenden Durchsetzungs- und Sanktionssysteme auf absehbare Zeit unterscheiden.

Literatur

Helmut Köhler, Tobias Lettl, Das geltende europäische Lauterkeitsrecht, der Vorschlag für eine EG-Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken und die UWG-Reform, Wettbewerb in Recht und Praxis 2003, 1019; Winfried Veelken, Kundenfang gegenüber dem Verbraucher, Wettbewerb in Recht und Praxis 2004, 1; Manfred Hecker, Die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken, Wettbewerb in Recht und Praxis 2006, 640; Peter Mankowski, Wer ist ein „Kind“? Zum Begriff des Kindes in der deutschen und der europäischen black list, Wettbewerb in Recht und Praxis 2007, 1398; Anja Steinbeck, Die Zukunft der aggressiven Geschäftspraktiken, Wettbewerb in Recht und Praxis 2008, 865; Sonja Fischer, Schutz der Entscheidungsfreiheit im Rahmen der Verkaufsförderung, 2008; Helmut Köhler, Werbung gegenüber Kindern: Welche Grenzen zieht die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken?, Wettbewerb in Recht und Praxis 2008, 700; idem, Beispiele unlauterer geschäftlicher Handlungen, § 4 Nr. 1, 2 UWG, in: Wolfgang Hefermehl, idem, Joachim Bornkamm, Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, 27. Aufl. 2009.

Abgerufen von Geschäftspraktiken, aggressive – HWB-EuP 2009 am 21. November 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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