https://hwb-eup2009.mpipriv.de/api.php?action=feedcontributions&user=Richter&feedformat=atomHWB-EuP 2009 - Benutzerbeiträge [de]2024-03-28T10:22:28ZBenutzerbeiträgeMediaWiki 1.36.1https://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Vertragsschluss&diff=1743Vertragsschluss2021-09-08T10:50:14Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Martin Illmer]]''<br />
== 1. Begriff und Systematik ==<br />
Der Vertragsschluss begründet den [[Vertrag]] zwischen zwei oder mehreren Parteien. In ihm manifestiert sich die Willensübereinstimmung der Parteien, deren zentrale Elemente heute in allen europäischen Rechtsordnungen und internationalen Regelwerken Angebot und Annahme sind.<br />
<br />
Das [[Bürgerliches Gesetzbuch|BGB]] regelt den Vertragsschluss in der Rechtsgeschäftslehre des [[Allgemeiner Teil|Allgemeinen Teils]]. Angebot und Annahme sind lediglich ein Unterfall der Willenserklärung, so dass neben den spezifischen Regelungen zum Vertragsschluss die allgemeinen Regeln über Willenserklärungen zur Anwendung kommen. Dem folgt der polnische ''Kodeks cywilny'' ([[Polnisches Zivilgesetzbuch|Polnisches ZGB]]). Der portugiesische ''Código civil'' und das niederländische ''[[Burgerlijk Wetboek]]'' regeln zwar den Vertragsschluss als solchen im allgemeinen Schuldrecht, doch gelten für Angebot und Annahme zahlreiche Vorschriften der ebenfalls in einem Allgemeinen Teil enthaltenen Rechtsgeschäftslehre. Das [[Schweizerisches Obligationenrecht|schweizerische OR]] verortet Vertragsschluss und Rechtsgeschäftslehre im allgemeinen Schuldrecht.<br />
<br />
Die älteren, naturrechtlich geprägten [[Kodifikation]]en, allen voran der französische ''[[Code civil]]'' (1804) und ihm folgend ursprünglich auch der belgische ''Code civil'', der erste italienische ''[[Codice civile]]'' (1865) sowie der spanische ''[[Código civil]]'' (1889), aber auch das österreichische [[Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch|ABGB]] (1811) kannten weder eine Rechtsgeschäftslehre als solche, die im Wesentlichen ein Produkt der deutschen Rechtswissenschaft des 19.&nbsp;Jahrhunderts ist, noch enthielten sie Regelungen zum Vertragsschluss. Während das italienische, spanische und österreichische Recht die Lehre von Angebot und Annahme im Zuge von Reformierungen in ihre Kodifikationen aufnahmen, enthalten der französische und belgische ''Code civil'' bis heute keine Vorschriften zum Vertragsschluss (Art.&nbsp;1108 frz. ''Code civil'' nennt lediglich die Wirksamkeitsvoraussetzungen eines Vertrags). Die entsprechenden Regeln wurden vielmehr durch die Rechtsprechung entwickelt.<br />
<br />
Im nicht kodifizierten englischen ''[[common law]]'' ist der Vertragsschluss Bestandteil des noch immer im Wesentlichen aus ''case law'' ([[Richterrecht]]) bestehenden ''law of contract''. Nachdem der Vertrag ursprünglich auf das [[Versprechen]] als Grundlage rechtsgeschäftlicher Verpflichtung gestützt worden war, setzten sich im 19.&nbsp;Jahrhundert das Vertragsprinzip und mit ihm die Lehre von Angebot und Annahme durch.<br />
<br />
Vereinzelte Vorschriften des ''acquis communautaire''<nowiki> erwähnen das Erfordernis eines Vertragsschlusses (Art. 2(1) Fernabsatz-RL [RL 97/7]) und nehmen auf Angebot und Annahme Bezug (Art.&nbsp;1(3) und (4) Haustürwiderrufs-RL [RL&nbsp;85/ 577]). Auch der EuGH setzt in seiner Rechtsprechung das Vertragsschlussmodell von Angebot und Annahme voraus, ohne allerdings auf seine Ausgestaltung näher einzugehen (EuGH Rs.&nbsp;C-96/00 – </nowiki>''Gabriel'', Slg. 2002, I-6367, Rn.&nbsp;48&nbsp;f.) Der Vertragsschlussmechanismus von Angebot und Annahme wird damit zwar im ''acquis'' zugrunde gelegt, jedoch nicht geregelt. Die Vertragsschlussregeln der [[Principles of European Contract Law|PECL]], der [[Acquis Principles|ACQP]] und des [[Common Frame of Reference|DCFR]] mussten daher aus den Regelungen der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen entwickelt werden, die jenseits der systematischen Unterschiede häufig zu ähnlichen Ergebnissen gelangen. Dabei übernehmen die ACQP und der DCFR die Vertragsschlussregeln der PECL inhaltlich fast unverändert.<br />
<br />
== 2. Angebot ==<br />
Das Angebot ist in Art.&nbsp;2:201(1) PECL, Art.&nbsp;II.-4:201(1) DCFR und Art.&nbsp;2.1.2 UNIDROIT PICC ausdrücklich definiert als ein hinreichend bestimmter und mit Rechtsbindungswillen gemachter Vorschlag zum Abschluss eines Vertrages. Die meisten nationalen Rechtsordnungen setzen den Begriff des Angebots – inhaltlich damit übereinstimmend – schlicht voraus.<br />
<br />
=== a) Rechtsbindungswille und ''invitatio ad offerendum'' ===<br />
In allen Rechtsordnungen stellt sich bei Erklärungen gegenüber einem größeren Personenkreis die Frage, ob es sich dabei um ein Angebot (häufig ''ad incertas personas'') oder nur um eine sog. ''invitatio ad offerendum'' handelt. Entscheidend ist der objektiv, also anhand von Indizien zu ermittelnde Rechtsbindungswille des Erklärenden: Will der Erklärende den Erklärungsempfängern ermöglichen, durch Annahme bereits einen Vertrag zu schließen oder will er sie nur auffordern, ihrerseits Angebote abzugeben, deren Annahme ihm dann freisteht?<br />
<br />
Während alle europäischen Rechtsordnungen diese Differenzierung als solche kennen, typisieren sie bestimmte Fälle durch Auslegungsvermutungen abweichend. So wird die Anpreisung in Anzeigen, Katalogen oder einer Warenauslage im deutschen, italienischen und englischen Recht sowie nach Art.14(2) CISG ([[Warenkauf, internationaler (Einheitsrecht)]]) in der Regel nur als ''invitatio'' eingeordnet, während insbesondere die Auslage von Waren im französischen und schweizerischen Recht (letzterenfalls jedenfalls bei Preisangabe) als Angebot ''ad incertas personas'' angesehen wird. Ein Angebot vermuten im Fall der Anpreisung in Anzeigen, Katalogen und Warenauslagen auch Art.&nbsp;2:201(3) PECL und Art.&nbsp;II.-4:201(3) DCFR, allerdings beschränkt auf den vorhandenen Vorrat. Gegen ein Angebot mag insbesondere sprechen, dass sich der Erklärende den Vertragspartner nach dessen Zahlungsfähigkeit aussuchen oder die Ware breit streuen möchte.<br />
<br />
=== b) Bestimmtheit und Dissens ===<br />
Als Angebot muss die Erklärung des Anbietenden inhaltlich hinreichend bestimmt sein (so explizit Art.&nbsp;2:201(1) PECL, Art. II.-4:201(1) DCFR, Art.&nbsp;2.1.2 UNIDROIT PICC und Art.&nbsp;14 CISG; ebenso die meisten mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen). Dafür reicht es jedoch aus, dass die für den jeweiligen Vertragstyp wesentlichen Elemente, die sog. ''essentialia negotii'', bestimmbar sind. Dies betrifft insbesondere Vertragsgegenstand und Gegenleistung. Bestimmbar ist der Vertragsinhalt grundsätzlich auch im Falle eines Vorbehalts künftiger Vereinbarung und bei Vereinbarung einer einseitigen [[Leistungsbestimmung, nachträgliche|nachträglichen Leistungsbestimmung]]. Einige Regelwerke sehen zudem dispositive Regelungen vor, die bei Unbestimmtheit eingreifen (etwa für den Kaufpreis sec. 8 ''Sale of Goods Act 1979'', Art.&nbsp;7:4 BW, Art.&nbsp;1474 ''Codice civile'', Art.&nbsp;212 OR, Art.&nbsp;55 CISG). Fehlt es jedoch selbst an der Bestimmbarkeit, liegt in der Regel keine Einigung vor; der Vertragsschluss scheitert. Sind hingegen bloße ''accidentalia negotii'' unbestimmt oder gar nicht geregelt, hindert dies den Vertragsschluss meist nicht. Vielmehr greifen zur Lückenfüllung Handelsbräuche, Gepflogenheiten, eine ergänzende Vertragsauslegung oder dispositives Gesetzesrecht ein. Das Bestimmtheitserfordernis korrespondiert mit den Regeln des (offenen) Dissenses. Danach kommt der Vertrag nach den meisten Rechtsordnungen im Ergebnis zustande, auch wenn sich die Parteien nicht über jeden Punkt geeinigt haben, sofern es sich hierbei um einen unwesentlichen Punkt handelt. Dies gilt nicht, wenn eine Partei die Einigung über diesen Punkt zur Bedingung des Vertragsschlusses gemacht hat (so im Ergebnis das deutsche Recht über §&nbsp;154 BGB, das niederländische Recht über Art.&nbsp;6:225 BW sowie das französische, englische, österreichische und spanische Recht; ebenso Art.&nbsp;2:103 PECL, Art.&nbsp;II.-4:103 DCFR).<br />
<br />
=== c) Wirksamwerden, Widerruflichkeit und Erlöschen des Angebots ===<br />
Unter Anwesenden (zahlreiche Rechtsordnungen stellen den telefonischen Vertragsschluss ausdrücklich gleich; etwa §&nbsp;147 S.&nbsp;2 BGB, Art.&nbsp;4 Abs.&nbsp;2 OR, §&nbsp;862 S.&nbsp;2 ABGB) wird das Angebot im Augenblick der Erklärung wirksam und kann nur sofort angenommen werden. Geschieht dies nicht, erlischt es.<br />
<br />
Unter Abwesenden wird das Angebot mit dem Zugang beim Empfänger wirksam. Im Hinblick auf die Widerruflichkeit ist zu differenzieren. Fast alle Regelwerke gehen davon aus, dass das Angebot vor oder zeitgleich mit seinem Zugang zurückgenommen werden kann (etwa §&nbsp;130 Abs.&nbsp;1 S.&nbsp;2 BGB, Art.&nbsp;3:37 Abs.&nbsp;5 BW, Art.&nbsp;9 Abs.&nbsp;1 OR (sogar bis Kenntniserlangung), Art.&nbsp;2.1.3(2) UNIDROIT PICC, Art.&nbsp;15(2) CISG, Art.&nbsp;1:303(5), (6) PECL, Art.&nbsp;II.-106(1), (5) DCFR; meist gilt dies spiegelbildlich für die Annahmeerklärung). Ob dagegen das bereits zugegangene und damit wirksam gewordene Angebot widerrufen werden kann, ist einer der zentralen Unterschiede der europäischen Vertragsschlussregime. Dabei ist vorwegzuschicken, dass der Anbietende das Angebot nach allen Regelwerken widerruflich oder unwiderruflich (im englischen Recht allerdings nur gegen eine ''consideration'') ausgestalten kann. Unterschiede bestehen jedoch im Hinblick auf den gesetzlichen Regelfall. Das deutsche Recht geht in §&nbsp;145 BGB von der Unwiderruflichkeit des Angebots aus. Dem folgen das schweizerische, österreichische und portugiesische Recht. Dagegen ist das Angebot nach französischem, italienischem, spanischem, aber auch englischem Recht sowie nach Art.&nbsp;2:202 PECL, Art.&nbsp;II.-4:202 DCFR, Art.&nbsp;2.1.4 UNIDROIT PICC, Art.&nbsp;16 CISG grundsätzlich widerruflich; der Widerruf muss der anderen Partei jedoch vor Absendung der Annahme zugehen. Dabei geht das englische Recht mit der freien Widerruflichkeit am weitesten, während etwa das französische Recht bei missbräuchlichem Widerruf (insb. vor Ablauf einer gesetzten Annahmefrist) eine deliktische Schadensersatzpflicht statuiert. PECL, DCFR und UNIDROIT PICC sehen das Angebot sogar als unwiderruflich an, wenn der Anbietende eine Annahmefrist setzt, der Annehmende auf die Unwiderruflichkeit vertrauen durfte oder bereits im Vertrauen auf die Unwiderruflichkeit gehandelt hat (nach Art.&nbsp;2:202(4) DCFR soll dies wiederum nicht gelten, wenn der Anbietende ein Widerrufsrecht nach Buch&nbsp;II oder IV des DCFR im Hinblick auf den Vertrag hätte).<br />
<br />
Abgesehen von Rücknahme oder Widerruf erlischt das Angebot auch durch Ablehnung (etwa §&nbsp;146 BGB, Art.&nbsp;2:203 PECL, Art.&nbsp;II.-4:203 DCFR) und bei nicht rechtzeitiger Annahme innerhalb einer gesetzten Annahmefrist (s.u. 3.c). Ob der Tod des Anbietenden bzw. Angebotsempfängers zum Erlöschen führt, ist nach den Umständen und je nach Vertragstyp durch Auslegung zu ermitteln. Während einige Rechtsordnungen im Zweifel bei Tod des Anbietenden kein Erlöschen annehmen (etwa §&nbsp;130 Abs.&nbsp;2, 153 BGB, Art.&nbsp;6:222 BW, §&nbsp;862 ABGB), gehen andere Rechtsordnungen im Zweifel von einem Erlöschen aus (etwa Art.&nbsp;1329 Abs.&nbsp;2 ''Codice civile'', ebenso das englische Recht ab Kenntnis des Annehmenden).<br />
<br />
== 3. Annahme ==<br />
Die Annahme besteht grundsätzlich in der uneingeschränkten Zustimmung zum Angebot. Während das Angebot meist in Form einer Erklärung erfolgt, weist die Annahme häufiger auch andere Formen auf.<br />
<br />
=== a) Annahme durch Erklärung ===<br />
Im Falle der Annahme durch ausdrückliche Erklärung stellt sich vordringlich das Problem, zu welchem Zeitpunkt die Annahme wirksam wird und der Vertrag damit geschlossen ist, da jedenfalls ab diesem Zeitpunkt ein Widerruf des Angebots nicht mehr möglich ist. Auch unter Abwesenden verliert das Problem allerdings dadurch an Bedeutung, dass Absenden und Zugang einer Erklärung bei Nutzung moderner Kommunikationsmittel, insbesondere Telefax und e-mail, ohne zeitliche Verzögerung stattfinden.<br />
<br />
Nach Art. 2:105(1) PECL, Art. II.-4:205(1) DCFR wird die Annahme wie in zahlreichen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen erst mit dem Zugang beim Anbietenden wirksam (§&nbsp;862a ABGB, Art.&nbsp;224 portug. ''Código civil''<nowiki>; §&nbsp;130 Abs.&nbsp;1 S.&nbsp;1 BGB, Art.&nbsp;3:37 Abs.&nbsp;3 BW; ebenso Art.&nbsp;2.1.6(2) UNIDROIT PICC, Art.&nbsp;18(2), 23 CISG). Auch das englische Recht geht im Grundsatz davon aus, dass die Annahme empfangsbedürftig ist, lässt davon jedoch mit der sog. </nowiki>''postal rule'' (''Adams v. Lindsell'' (1818) 1 B & Ald 681 (KB); ''Henthorn v. Fraser''<nowiki> [1892] 2 Ch 27 (CA)) eine wichtige Ausnahme zu. Im Falle der Versendung per Post ist die Annahme mit der Aufgabe zur Post wirksam und der Vertrag damit geschlossen, auch wenn der Brief auf dem Postweg abhanden kommt oder verspätet zugeht. Bei Nutzung von e-mail oder Telefax gilt die </nowiki>''postal rule'' nur, wenn der Annehmende einen in der Übertragung auftretenden Fehler nicht erkennen konnte. Auch auf die Übermittlung per Brief findet sie nur dann Anwendung, wenn diese Versendungsart angemessen war und der Anbietende den Zugang nicht zur Bedingung der wirksamen Annahme gemacht hat. In Frankreich ist die Rechtslage unklar. Die Rechtsprechung stellt auf die Umstände des Einzelfalls ab. Zur Wahrung der Annahmefrist soll in der Regel die rechtzeitige Absendung genügen. Eine überholende Rücknahmeerklärung der Annahme ist jedoch wie im englischen Recht möglich.<br />
<br />
Das Zusammenspiel von Widerruflichkeit des Angebots und Wirksamwerden der Annahme wird deutlich: Ist das Angebot unwiderruflich, bedarf der Angebotsempfänger nicht zusätzlich des Schutzes durch ein frühes Wirksamwerden der Annahme. Umgekehrt ist eine Widerruflichkeit eher hinzunehmen, wenn der Angebotsempfänger den Widerruf bereits durch Versendung der Annahme ausschließen kann. PECL, DCFR und CISG sehen eine Zwischenlösung vor: Zwar wird die Annahme erst mit Zugang wirksam und der Vertrag damit geschlossen, doch muss der Widerruf des Angebots vor Absendung der Annahme zugehen.<br />
<br />
=== b) Annahme durch schlüssiges Verhalten ===<br />
Zahlreiche Kodifikationen, etwa BGB, ABGB, OR, portug. ''Código civil'', ''Codice civile'', ''Kodeks cywilny'', erkennen eine Annahme durch schlüssiges Verhalten ebenso an wie das englische und französische Recht. In Art.&nbsp;2:204 PECL und Art.&nbsp;II-4:204 DCFR ist sie ausdrücklich von der Definition der Annahme erfasst: „Any form of statement or conduct …“ (ebenso Art.&nbsp;2.1.6(1)1 UNICROIT PICC). Die Annahme wird in diesen Fällen jedoch grundsätzlich erst wirksam, wenn der Anbietende von dem schlüssigen Verhalten Kenntnis erlangt. Dagegen kommt der Vertrag bereits mit dem Beginn der Ausführungshandlung des schlüssigen Verhaltens zustande, wenn das Angebot es so vorsieht oder sich dies aus Verkehrssitte, Handelsbrauch oder Übung zwischen den Parteien ergibt (Art.&nbsp;2:205(3) PECL, Art.&nbsp;II.-4:205(3) DCFR, Art.&nbsp;18(3) CISG, ähnlich §&nbsp;151 BGB und ihm folgend §&nbsp;864 Abs.&nbsp;1 ABGB, Art.&nbsp;1327 ''Codice civile'', Art.&nbsp;234 portug. ''Código civil''<nowiki>; ähnlich auch Art.&nbsp;10 Abs.2 OR).</nowiki><br />
<br />
=== c) Annahmefrist und verspätete Annahme ===<br />
Es ist stets möglich, im Angebot eine Frist für die Annahme zu setzen (vgl. etwa §148 BGB; Art.&nbsp;2:206(1) PECL; Art.&nbsp;II.-4:206 DCFR). Fehlt es an einer solchen Fristsetzung, greift die dispositive gesetzliche Regelung ein. Während ein Angebot unter Anwesenden danach nur sofort angenommen werden kann (etwa Art.&nbsp;2.7 S.&nbsp;2 UNIDROIT PICC, Art.&nbsp;18(2)3 CISG, §&nbsp;147 Abs.&nbsp;1 BGB), ist unter Abwesenden zu differenzieren. Bei einer ausdrücklichen Annahme muss die Erklärung dem Anbietenden innerhalb einer unter Berücksichtigung der Überlegungs-, Entscheidungs- und Übermittlungszeit angemessenen Frist zugehen (§&nbsp;147 Abs.&nbsp;2 iVm § 130 Abs.&nbsp;1 S.&nbsp;1 BGB, Art.&nbsp;6:221 Abs.&nbsp;1 iVm Art.&nbsp;3:37(3) BW, Art.&nbsp;862 ABGB Art.&nbsp;5 OR, Art.&nbsp;1326 Abs.&nbsp;2 ''Codice civile'', Art.&nbsp;2.7 S.&nbsp;1 UNIDROIT PICC; Art.&nbsp;18(3)2 CISG, Art.&nbsp;2.206(2) PECL und Art.&nbsp;II.-206(2) DCFR (beide „within a reasonable time“). Dies gilt auch im englischen Recht. Greift die ''postal rule'' ein, genügt es, die Annahme innerhalb einer ''reasonable time'' abzusenden; ebenso in der Regel das französische Recht. Im Fall der Annahme durch schlüssiges Verhalten muss der Anbietende innerhalb einer angemessenen Frist von dem schlüssigen Verhalten Kenntnis erlangen. Genügt zur schlüssigen Annahme jedoch der Beginn der Ausführungshandlung (s.o. 3. b), so reicht es aus, wenn dieser innerhalb der angemessenen Frist erfolgt (Art.&nbsp;2:206(3) PECL; Art. II.-4:206(3) DCFR, Art.&nbsp;18(3) CISG; ebenso implizit die meisten mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen).<br />
<br />
Ein Vertrag kommt trotz verspäteter Annahme nach einigen Regelwerken mit Zugang dieser Annahme zustande, wenn der Anbietende die Annahme als rechtzeitig gelten lässt (Art.&nbsp;6:223 Abs.&nbsp;1 BW, Art.&nbsp;229(2) portug. ''Código civil'', Art.&nbsp;1326 Abs.&nbsp;3 ''Codice civile'', Art.&nbsp;2.207(1) PECL, Art.&nbsp;II.-4.207 DCFR, Art.&nbsp;21(1) CISG). Zahlreiche andere Rechtsordnungen (z.B. Deutschland, Österreich, Schweiz, Frankreich, Belgien) kennen keine derartige Regel, kommen aber nach den Regeln über die modifizierende Annahme (s.u. 3. d) zu einem ähnlichen Ergebnis (Vertragsschluss allerdings zeitlich erst mit Annahme der als Angebot behandelten modifizierenden Annahme).<br />
<br />
Ein Vertrag kommt trotz einer bloß verspätet ''zugegangenen'' Annahme zustande, wenn der Anbietende den Grund der Verspätung kannte oder kennen musste und dies dem Annehmenden nicht unverzüglich anzeigt (§&nbsp;149 BGB, Art.&nbsp;862a S.&nbsp;2 ABGB, Art.&nbsp;5 Abs.&nbsp;3 OR, Art.&nbsp;6:223 Abs.&nbsp;2 BW, Art.&nbsp;229 Abs.&nbsp;1 portug. ''Código civil'', Art.&nbsp;67 ''Kodeks cywilny'', Art.&nbsp;2:207(2) PECL, Art.&nbsp;II.-4:207(2) DCFR, Art.&nbsp;21(2) CISG). Im englischen und französischen Recht stellt sich die Problematik in der Regel nicht, da die Annahme in diesen Fällen mit rechtzeitiger Absendung per Post wirksam wird.<br />
<br />
=== d) Modifizierende Annahme ===<br />
Eine das Angebot modifizierende Antwort der anderen Partei ist grundsätzlich als Ablehnung des Angebots verbunden mit einem Gegenangebot anzusehen (Art.&nbsp;2:208(1) PECL, Art.&nbsp;II.-4:208(1) DCFR, §&nbsp;150 Abs.&nbsp;2 BGB, Art.&nbsp;6:225 Abs.&nbsp;1 BW, Art.&nbsp;233 portug. ''Código civil'', Art.&nbsp;68 ''Kodeks cywilny'', Art.&nbsp;19(1) CISG; ebenso die französische und englische Rechtsprechung). Ausnahmsweise stellt sie jedoch dann eine Annahme dar, wenn sie nur unwesentliche Ergänzungen oder Abweichungen vom Angebot enthält und der Annehmende trotz der Modifizierungen seine Zustimmung zum Angebot zum Ausdruck bringt (Art.&nbsp;2:208(2) PECL; Art.&nbsp;II.-4:208(2) DCFR; Art.&nbsp;2.22(2) UNIDROIT PICC; Art.&nbsp;19(2) CISG; Art.&nbsp;6:225 Abs.&nbsp;2 BW, teilweise ebenso die deutsche Rechtsprechung). Hiervon wird allerdings eine Rückausnahme in denjenigen Fällen gemacht, in denen das Angebot eine Modifizierung ausdrücklich ausschließt, der Anbietende der Änderung unverzüglich widerspricht oder der Annehmende die Annahme von der Zustimmung des Anbietenden zu den Modifizierungen abhängig macht und ihn diese Zustimmung nicht nach einer angemessenen Bedenkzeit erreicht (so Art.&nbsp;2:208(3) PECL; Art.&nbsp;II.-4:208(3) DCFR). Nach Art. 6:225 Abs.&nbsp;2 BW, Art.&nbsp;2.1.11(2) UNIDROIT PICC und Art.&nbsp;19(2) CISG kann der Vertragsschluss mit dem modifizierten Inhalt vom Anbietenden dagegen nur durch unverzüglichen Widerspruch verhindert werden.<br />
<br />
=== e) Schweigen und kaufmännisches Bestätigungsschreiben ===<br />
Schweigen oder Untätigkeit stellen für sich genommen keine Annahme dar (so ausdrücklich Art.&nbsp;2:204(2) PECL, Art.&nbsp;II.-4:204(2) DCFR und Art.&nbsp;2.1.6(1)2 UNIDROIT PICC). Einzig das schweizerische Recht sieht in Art.&nbsp;6 OR vor, dass der Angebotsempfänger dem Angebot widersprechen muss, wenn nach der Natur des Geschäfts oder den Umständen eine Annahme nicht zu erwarten ist.<br />
<br />
Entgegen der allgemeinen Regel kann Schweigen im geschäftlichen Verkehr (im Gegensatz zum Rechtsverkehr zwischen Verbrauchern) eine Annahme darstellen. Dies ist für bestimmte Situationen gesetzlich geregelt (etwa §&nbsp;362 dt. HGB), kann sich aber auch aus Handelsbrauch oder Verkehrssitte ergeben. Vereinzelte Fälle dieser Art finden sich in der deutschen, französischen, italienischen und englischen Rechtsprechung.<br />
<br />
Ein besonderer Fall des Schweigens als Annahme im geschäftlichen Verkehr ist das sog. kaufmännische Bestätigungsschreiben, das vor allem im deutschen Recht gewohnheitsrechtlich anerkannt ist, aber auch Eingang in die PECL (Art.&nbsp;2:210), den DCFR (Art.&nbsp;II.-4:210) und die UNIDROIT PICC (Art.&nbsp;2.12) gefunden hat. Wird durch ein Schreiben unter Kaufleuten der Inhalt eines bereits geschlossenen (darauf sind PECL, DCFR und UNIDROIT PICC beschränkt) oder eines nur in der Vorstellung des Schreibenden geschlossenen Vertrages (so das deutsche, dänische und finnische Recht) präzisiert und fixiert, kommt der Vertrag mit diesem Inhalt zustande, wenn die andere Partei dem Schreiben nicht unverzüglich widerspricht. Dies gilt nicht, wenn der Inhalt bewusst unrichtig wiedergegeben wird (PECL und DCFR enthalten keine derartige Regel) oder wesentlich vom Verhandlungsergebnis bzw. dem bereits geschlossenen Vertrag abweicht. Damit behandeln die PECL und der DCFR die modifizierende Annahme und das kaufmännische Bestätigungsschreiben gleich, während dies im deutschen Recht nicht der Fall ist.<br />
<br />
=== f) Kollidierende AGB ===<br />
Ein besonderes Problem des Vertragsschlusses stellen kollidierende [[Allgemeine Geschäftsbedingungen]] in Angebot und Annahme dar. Es stellt sich die Frage, ob der Vertrag überhaupt zustande kommt und, wenn ja, mit welchem Inhalt. Die Beantwortung beider Fragen ist stets von den Umständen des Einzelfalls abhängig, doch haben sich im Grundsatz zwei Lösungen herausgebildet.<br />
<br />
Nach der sog. ''last shot rule'' gelten die allgemeinen Vertragsschlussregeln. Die Annahme unter Verweis auf die eigenen AGB ist daher als Ablehnung des Angebots, verbunden mit einem neuen Angebot anzusehen. Dieses kann der ursprünglich Anbietende – insbesondere konkludent, indem er mit der Vertragsdurchführung beginnt – annehmen. Verweist er in seiner Antwort jedoch wiederum auf seine AGB, lehnt er das Angebot, verbunden mit einem neuen, eigenen Angebot, ab. Der Vertrag kommt also entweder gar nicht zustande oder aber auf der Grundlage der AGB, auf die zuletzt unwidersprochen verwiesen wurde. Diesem Modell folgen das englische und schottische Recht. Das niederländische Recht sieht in Art.&nbsp;6:225 Abs.&nbsp;3 BW umgekehrt eine ''first shot rule'' vor; die AGB des Anbietenden gelten.<br />
<br />
Nach der sog. ''knock out rule'' kommt der Vertrag trotz abweichender AGB (bereits mit der Annahme) zustande, wenn die Parteien sich ansonsten geeinigt haben. Die AGB werden nur insofern Inhalt des Vertrages, als sie sich nicht widersprechen. Im Übrigen greifen die dispositiven gesetzlichen Regelungen ein. Diesem Modell folgen etwa die PECL, der DCFR, die UNIDROIT PICC, das deutsche, österreichische und französische Recht, aber auch die wohl herrschende Auffassung zum CISG (an einer Regelung fehlt es). Nach Art.&nbsp;2:209(2) PECL und Art.&nbsp;II.-4:209(2) DCFR scheitert der Vertrag jedoch, wenn eine der Parteien – bezogen auf den konkreten Vertrag, also nicht durch eine Abwehrklausel in den AGB – zuvor geäußert hat, im Falle abweichender AGB der anderen Partei nicht gebunden sein zu wollen (ähnlich das deutsche und österreichische Recht) oder dies unverzüglich nach Erhalt der Annahme äußert.<br />
<br />
== 4. Vertragsschluss jenseits von Angebot und Annahme ==<br />
Insbesondere im Falle der Benutzung angebotener Einrichtungen, die keine direkte Zugangskontrolle vorweisen, etwa eines Parkplatzes oder der Straßenbahn, stellt sich die Frage, ob man den Vertrag in dieser eher auf dem tatsächlichen Leistungsaustausch als auf einer Willenseinigung beruhenden Situation mit dem rechtsgeschäftlichen Modell begründet. Die Art.&nbsp;2:211 PECL, Art.&nbsp;II.-4:211 DCFR und Art.&nbsp;2.1.1 UNIDROIT PICC erkennen einen Vertragsschluss auch auf anderem Wege als durch Angebot und Annahme an. Sie wenden – ebenso wie die meisten mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen – die Vorschriften über Angebot und Annahme entsprechend an. Die Grenze zwischen rein tatsächlichem Verhalten und konkludenter Erklärung von Angebot und Annahme ist freilich fließend. Die Regelungen haben daher eine bloße Auffangfunktion, um etwaige Lücken im Vertragsschlussmechanismus zu schließen.<br />
<br />
== Literatur==<br />
''Rudolf B. Schlesinger'' (Hg.), Formation of Contracts: Study of the Common Core of Legal Systems, 2&nbsp;Bde., 1968; ''Arthur T. von Mehren'', The Formation of Contracts, in: IECL VII/1, Kap.&nbsp;9-19&nbsp;ff., 50&nbsp;ff., 112&nbsp;ff., 1991; ''Hein Kötz'', Europäisches Vertragsrecht, Bd. 1, 1996, §&nbsp;2; ''Helmut Köhler'', Das Verfahren des Vertragsschlusses, in: Jürgen Basedow (Hg.), Europäische Vertragsrechtsvereinheitlichung und deutsches Recht, 2000, 33&nbsp;ff.; ''Peter Oestmann'', §§&nbsp;145-156, in: Mathias Schmoeckel, Joachim Rückert, Reinhard Zimmermann (Hg.), Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Bd.&nbsp;I, 2003; ''Rodolfo Sacco'', Formation of Contracts, in: Arthur Hartkamp, Martijn Hesselink, Ewoud Hondius, Carla Joustra, Edgar du Perron, Muriel Veldman (Hg.), Towards a European Civil Code, 3.&nbsp;Aufl. 2004, 353&nbsp;ff.; ''Karl Riesenhuber'', Europäisches Vertragsrecht, 2.&nbsp;Aufl. 2006, §&nbsp;13; ''Guenter H. Treitel'', ''Edwin Peel'', The Law of Contract, 12. Aufl. 2007, Kap.&nbsp;2; ''Filippo Ranieri'', Europäisches Obligationenrecht, 3.&nbsp;Aufl. 2009, Kap.&nbsp;2-4.<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Contract_(Formation)]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Vertrag&diff=1741Vertrag2021-09-08T10:49:49Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Hannes Unberath]]''<br />
== 1. Gegenstand des Vertragsrechts, vertragliche Bindung ==<br />
Verträge ermöglichen den freiwilligen Transfer von Leistungen beliebiger Art unter Fremden und sind neben dem Privateigentum ein Grundpfeiler marktwirtschaftlicher Rechtssysteme. Das oberste Prinzip des Vertragsrechts ist die Bindung an den Vertrag: ''pacta sunt servanda''. Mit [[Vertragsschluss]] erwächst dem Schuldner die Pflicht, den Vertrag zu erfüllen, der ein Recht des Gläubigers korrespondiert, die Leistung zu fordern. Ohne die Bindung an das Leistungsversprechen enthielte der „Vertrag“ nichts weiter als Absichtsbekundungen, deren Nichteinhaltung lediglich den Ersatz des negativen Interesses rechtfertigen würde. Eine solchermaßen eingeschränkte Sichtweise vertraglicher Haftung hatte im 20. Jahrhundert wesentlichen Einfluss auf die Vertragstheorie (''Lon'' ''Fuller'', ''Patrick'' ''Atyiah'', ''Grant'' ''Gilmore''). Demgegenüber gehen alle europäischen Rechtsordnungen von der Bindung an den Vertrag aus und trachten danach, das Leistungsinteresse zu schützen (Art.&nbsp;9:101, 9:102, 9:502 [[Principles of European Contract Law|PECL]]; Art. III.-3:301, III.-3:302, III.-3:702 DCFR; vgl. schon Inst.&nbsp;3, 13). Die Bindung an den Vertrag wird dabei unterschiedlich begründet: Für ''Immanuel'' ''Kant'', der insb. ''Friedrich Carl von'' ''Savigny'' beeinflusst hat, ist der Vertrag eine ''a priori'' vorgegebene Handlungsform, deren Inhalt selbstverantwortlich gestaltbar ist;'' ''in Frankreich begründet ''Robert Joseph'' ''Pothier'' eine ähnlich starke Ausrichtung auf die Autonomie. Für teleologische Theorien ist der Parteiwille dagegen nur insoweit Geltungsgrund, als er auf einen anerkennenswerten Zweck gerichtet ist: Verträge müssen richtig, also fair sein (so in neuerer Zeit ''James'' ''Gordley'', der Gedanken der [[Scholastik]] aufnimmt). Daneben stehen die seit ''John Stuart'' ''Mill'' nicht nur im angloamerikanischen Bereich einflussreichen konsequentialistischen/utilitaristischen Theorien, die die Bindung an den Vertrag instrumentell als nutzbringend rechtfertigen.<br />
<br />
Aufgabe des Vertragsrechts ist es, Verträge durchzusetzen. Zu diesem Zweck muss sich das Gericht vom Vorliegen eines wirksamen Vertragsschlusses überzeugen und Maßnahmen zum Schutz des aus dem Vertrag folgenden subjektiven Rechts treffen. Das Vertragsrecht muss somit zu folgenden drei Problemkomplexen Lösungen entwickeln, die rechtsvergleichend zum Teil erheblich abweichen: (i)&nbsp;Nach welchen Regeln erfolgt der ''Vertragsschluss'' und ist der ''Vertragsinhalt'' zu bestimmen? (ii)&nbsp;Welche ''Grenzen'' sind dem Vertrag zu setzen? (iii)&nbsp;Wie ist auf ''Vertragsverletzungen'' zu reagieren?<br />
<br />
== 2. Tendenzen der Rechtsentwicklung, Einheitsrecht ==<br />
Das Vertragsrecht als ein systematischer Zusammenhang allgemeiner Regeln entwickelte sich erst allmählich, geleitet vornehmlich von dem Bestreben zur Universalisierung naturrechtlichen Denkens der Aufklärung. Sowohl auf dem europäischen Kontinent als auch in England bestand das Vertragsrecht lange Zeit nur in einzelnen einklagbaren Erscheinungsformen des Vertrages (den ''actiones'' des [[Römisches Recht|römischen Recht]]s, den ''forms of action'' in England). Erst relativ spät wurde aus dem Prinzip der Privatautonomie ([[Vertragsfreiheit]]) geschlossen, dass der Konsens der Vertragsparteien zur Fundierung eines Zwangsrechts nicht nur notwendig, sondern zugleich hinreichend ist: In Frankreich wurde diese kulturell einschneidende Leistung bereits mit dem ''[[Code civil]]'' erbracht (Art.&nbsp;1101 und Art.&nbsp;1134), England wagte diesen Schritt erst unter dem Einfluss kontinentaler Strömungen in der zweiten Hälfte des 19.&nbsp;Jahrhunderts und Deutschland folgte flächendeckend mit dem [[Bürgerliches Gesetzbuch|BGB]] von 1896, das freilich insofern von der [[Historische Rechtsschule|historischen Schule]] bereits entsprechend vorgeprägt war. Das römische Recht hat insb. auf die Zurechnungslehre (''culpa'') und die Struktur des besonderen Teils des Vertragsrechts nach kontinentaleuropäischer Tradition ausgestrahlt. Das englische Recht hat demgegenüber im 19. und 20.&nbsp;Jahrhundert Impulse vor allem aus dem Bereich des [[Handelsrecht]]s erhalten und ein allgemeines Vertragsrecht hervorgebracht, das mit weit weniger, dafür umso abstrakteren und weitreichenderen Prinzipien auskommt und im Bereich der Vertragsverletzung (''breach of contract'') mit Garantiehaftung und Prävalenz des Schadensrechts die Bedürfnisse des Wirtschaftsverkehrs vorrangig berücksichtigt.<br />
<br />
Im Bereich des ''Einheitsrechts'' ist vor allem das CISG ([[Warenkauf, internationaler (Einheitsrecht)]]) mit über siebzig Vertragsstaaten hervorzuheben. Praktisch bedeutsam sind neben einzelnen Abkommen in besonderen Bereichen die von der [[Internationale Handelskammer|Internationalen Handelskammer]] in Paris formulierten, unverbindlichen [[Incoterms|INCOTERMS]]. Auf Europäischer Ebene führen die ''[[Grundfreiheiten (allgemeine Grundsätze)|Grundfreiheiten]]'' des [[EG-Vertrag]]es zum Abbau von Handelshemmnissen. Innerhalb der letzten dreißig Jahre wurde das Vertragsrecht zunehmend Gegenstand auch des ''Sekundärrechts''. Hauptanliegen der meisten Rechtsakte ist der Verbraucherschutz ([[Verbraucher und Verbraucherschutz]]). Dabei werden sowohl Aspekte des allgemeinen Vertragsrechts ([[Informationspflichten (Verbrauchervertrag)|Informationspflichten]], [[Widerrufsrecht|Widerrufs-]] und Rückgaberechte, [[Allgemeine Geschäftsbedingungen]]) als auch spezielle Vertragstypen einheitlich geregelt. Die damit, insb. im Falle der Verbrauchsgüterkaufrechts-RL (RL&nbsp;1999/44) verbundenen erheblichen Eingriffe in die Rechtsordnungen etwa Englands und Deutschlands, haben umfassende Reformüberlegungen auch in Frankreich zur Folge. Vereinzelt werden auch andere Aspekte des Vertrages geregelt (etwa Form: E‑Commerce-RL &#91; RL&nbsp;2000/31&#93;; Haftung: Zahlungsverzugs-RL &#91;RL&nbsp;2000/35&#93;). Die Hypertrophie an punktuellen Eingriffen ohne Gesamtkonzept wird zunehmend beklagt und ist gegenwärtig Gegenstand umfassender Reformüberlegungen ([[Common Frame of Reference|DCFR]]). Einen grundlegend anderen Ansatz, nämlich den eines rechtsvergleichend-systematischen ''[[Restatements]]'', verfolgen dagegen die von der sog. ''Lando''-Kommission entwickelten [[Principles of European Contract Law|PECL]], die, ähnlich wie die [[UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts|UNIDROIT PICC]], vom CISG beeinflusst sind. Der Diskussions-Entwurf für den DCFR baut auf den PECL auf.<br />
<br />
== 3. Vertragsschluss und Vertragsinhalt ==<br />
Vertragliche Pflichten entspringen dem übereinstimmenden Willen der Vertragsparteien (''meeting of the minds''). Rechtspflichten vermögen daraus jedoch nur zu entstehen, sofern ein Dritter – das Gericht – äußere, empirische Vorgänge den Parteien als Erklärungen ihres Willens zuordnen kann. Ob bei diesem Zurechnungsvorgang primär auf die äußeren (objektiven) Elemente der Erklärung („Erklärungstheorie“) oder auf innere (subjektive) Zustände abzustellen ist („Willenstheorie“) und wie zu verfahren ist, wenn der nach außen tretende Erklärungsakt von der subjektiven Intention abweicht, gehört zu den umstrittensten Problemen des Vertragsrechts. Im Grundsatz betonen die europäischen Rechtsordnungen die Verantwortung des Einzelnen für die erkennbare Wirkung seiner Handlungen im Rechtsverkehr und verfolgen einen im Wesentlichen objektiven Ansatz (vgl. Art.&nbsp;2:102 PECL, Art. II.-4:102 DCFR). <br />
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Die Divergenzen der einzelnen Rechtsordnungen hinsichtlich der Maßgeblichkeit von Willensmängeln, insb. des [[Irrtum]]s, sind jedoch nach wie vor bedeutsam. Schon dem römischen Recht verdankt sich die Einsicht, dass grundsätzlich nur geschäftsbezogene Irrtümer rechtlich relevant sein können. ''Savignys'' darauf aufbauende Differenzierung zwischen einem die Freiwilligkeit der Handlung stärker berührenden Irrtum bezüglich des Erklärungsaktes und einem grundsätzlich unerheblichen Irrtum im Beweggrund (Motivirrtum), wirkte vor allem auf das deutsche Recht ein. ''Rudolph von'' ''Jhering'' lenkte die Aufmerksamkeit auf Pflichten bezüglich des Zustandekommens des Vertrages, die jedoch im BGB zunächst nur ansatzweise geregelt wurden. Das deutsche Recht akzeptiert einen einseitig unterhaltenen Irrtum, der sich auf den Inhalt der Erklärung bezieht, selbst dann als Anfechtungsgrund, wenn der andere Vertragspartner diesen nicht veranlasst hat (§&nbsp;119 BGB); die Irreführung kann es dagegen, selbst wenn sie fahrlässig erfolgt, nur mit Mühe schadensrechtlich (''[[Culpa in Contrahendo]]'') erfassen. Demgegenüber ist ''misrepresentation'' der Grundfall im englischen Recht, dessen Irrtumsregeln dafür nicht über jeden Zweifel erhaben sind. Art.&nbsp;4:103, 4:104 PECL (entsprechend Art. II.-7:201, II.-7:202 DCFR) kombinieren die in den einzelnen Rechtsordnungen anzutreffenden Faktoren unter Betonung objektiver Kriterien der Rechtssicherheit und Verantwortlichkeit, so dass es auch bei einem „Fehler in der Mitteilung“ darauf ankommt, ob der Irrtum „entschuldbar“ ist. Bezüglich (bewusster) [[Täuschung]] sowie (widerrechtlicher) [[Drohung]] sind bei aller Schwierigkeit der Anwendung im Einzelfall rechtsvergleichend kaum Unterschiede feststellbar (Art.&nbsp;4:107, 4:108 PECL; Art. II.-7:205, II.-7:206 DCFR). Dagegen werden Beeinträchtigungen der Entscheidungsfreiheit unterhalb dieser Schwelle, wenn sie zu einem für eine Seite nachteiligen Vertrag führen („gestörte Vertragsparität“, ''[[Undue influence|undue influcence]]''), kontrovers beurteilt.<br />
<br />
Die Regeln des Zustandekommens eines Vertrages ([[Vertragsschluss]]) divergieren ebenfalls in den Details. Unterschiedlich wird insb. die ''Widerruflichkeit'' eines Angebots gesehen: Bindung etwa im deutschen versus ''mailbox rule ''im englischen Recht''<nowiki>;</nowiki>'' Art.&nbsp;16 CISG, Art.&nbsp;2:202 PECL suchen den Kompromiss. Von größerer Bedeutung sind die sonstigen Einschränkungen, insb. [[Formerfordernisse|Form]], und [[Seriositätsindizien]] für einen Vertragsschluss. Vom Standpunkt einer rein durchgeführten Willenstheorie erscheinen diese zwar als Anomalie, sind jedoch als Reaktion auf die Unzulänglichkeit menschlicher Willensbildung allerorts anzutreffen. Formerfordernisse, wie sie bei unentgeltlichen oder gefährlichen Geschäften häufig vorkommen, dienen der Warnung und dem Beweis. Dogmatisch schwer einzuordnen sind die Erfordernisse der ''consideration'' im englischen und der ''cause'' im französischen Recht. Während erstere zur Gültigkeit des Vertrages erfordert, dass eine Vereinbarung, die nicht in einem ''deed'' verkörpert ist, einen Austausch von Leistungen vorsieht, schließt letztere nur in seltenen Fällen die Durchsetzbarkeit des Vertrages aus, da sie auch den Sicherungszweck und die unentgeltliche Leistung als Vertragszweck anerkennt. Der Verzicht auf ähnliche Erfordernisse in den [[Principles of European Contract Law|PECL]] vereinfacht, ohne zu schaden.<br />
<br />
Das deutsche Recht spricht dem Schuldvertrag keine dingliche Wirkung zu, das Verpflichtungsgeschäft ist lediglich ''causa'' für das davon zu trennende und in seiner Wirksamkeit unabhängige Verfügungsgeschäft (Trennungs- und Abstraktionsprinzip). Dieser rechtsvergleichend singuläre Ansatz hat gewisse analytische Vorteile und wirkt sich praktisch insb. im Hinblick auf den Verkehrsschutz aus.<br />
<br />
Die legitimierende Kraft des Konsenses der Vertragsparteien vermag nur ''inter partes'' zu wirken. Daraus folgt die Relativität des vertraglichen Schuldverhältnisses. Gleichwohl gibt es Ausnahmen, die bereits das römische Recht kannte, während die ''consideration'' Lehre in England zu unbefriedigenden Ergebnissen geführt hat, die der Gesetzgeber erst 1999 korrigiert hat. Obwohl beim [[Vertrag zugunsten Dritter|Vertrag zugunsten eines Dritten]] dieser nicht durchgängig als Vertragspartei gilt, wird ihm Schutz gegen nachträgliche Änderungen gewährt und die Leistung nicht gegen seinen Willen aufgedrängt (Art.&nbsp;6:110 PECL, Art. II.-9:303 DCFR). Im deutschen Recht, das durch ein besonders restriktives [[Deliktsrecht: Allgemeines und lex Aquilia|Deliktsrecht]] gekennzeichnet ist, werden deliktische Schutzpflichten auf vertragsfremde Personen erstreckt, die in den Schutzbereich des Vertrages einbezogen sind (Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter). Die Haftung von Experten für die Erteilung von fehlerhaften Auskünften wird dagegen zunehmend auf die ''culpa in contrahendo'' (§&nbsp;311 Abs.&nbsp;3 BGB) gestützt. <br />
<br />
Der Durchsetzung des Vertrages geht die richterliche Ermittlung seines Inhalts notwendig voraus. Ob bei der [[Auslegung von Verträgen]] auf das objektiv Erkennbare oder das subjektiv Gewollte abzustellen ist, wird rechtsvergleichend nicht einheitlich beantwortet; insgesamt lässt sich ein Trend zur „objektiven Methode“ feststellen (Art.&nbsp;5:101 PECL, Art. II.-8:101 DCFR). Das englische Recht folgt dabei einem stärker am Wortlaut orientierten Ansatz, jedoch geht auch dort der festgestellte übereinstimmende Wille dem falsch Erklärten vor (''falsa demonstratio non nocet''). Inwiefern auf Umstände außerhalb des Erklärungstextes zurückgegriffen werden kann, wird nicht einheitlich beurteilt, doch wurde die restriktive ''parol evidence rule'' in England immer stärker zurückgedrängt; die [[Principles of European Contract Law|PECL]] übernehmen diese nicht (Art.&nbsp;5:102). <br />
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Hätten die Vertragsparteien unbegrenzte Ressourcen und wären die Informationen auf die Parteien gleich verteilt, würden diese einen ihren Präferenzen entsprechenden, Pareto-optimalen „vollständigen“ Vertrag schließen. Wie die ökonomische Analyse des Rechts und die Rechtspraxis zeigen, ist dies in der Realität nicht der Fall. Die Erklärungen der Parteien sind vielmehr unvollständig und widersprüchlich, ohne dass sich dies im Einzelfall auswirken müsste. Dieser Befund bruchstückhafter Artikulation des Parteiwillens erschwert die Feststellung des „vereinbarten“ Inhalts der Leistungspflichten ([[Leistungspflicht, Inhalt der]]), zu dessen Ergänzung subtile Mechanismen entwickelt wurden. Dies geschieht im Einzelfall durch die Lückenschließung im Wege ''ergänzender'' ''Auslegung'' ([[Auslegung von Verträgen]]). Dispositive Normen (''default rules'','' implied terms''), die den mutmaßlichen Parteiwillen in typischen Interessenlagen abzubilden suchen, greifen ergänzend ein und ersparen dem Rechtsverkehr entsprechende Transaktionskosten. Kodifizierte Vertragsrechte nehmen sich der Aufgabe, Vertragsmodelle ''ex ante'' zu entwickeln, intensiver an als das ''[[common law]]'', das dafür stärker auf die Besonderheiten des Einzelfalles Rücksicht nimmt und die Parteien nötigt, detaillierte Vertragstexte zu vereinbaren. Die Grenzen zwischen den Ergänzungsmechanismen sind fließend: In Deutschland etwa, wo die Schaffung dispositiven Rechts primär Aufgabe des Gesetzgebers ist, bedienen sich die Gerichte der ergänzenden Vertragsauslegung in Verbindung mit dem Grundsatz von [[Treu und Glauben]] auch zur Schaffung von Modellregeln mit großer Reichweite. Unvorhergesehene Äquivalenzstörungen berechtigen ausnahmsweise zur Vertragsanpassung ([[Geschäftsgrundlage]]). Eine ähnliche Funktion wie dispositives Recht erfüllen Allgemeine Geschäftsbedingungen, die von einer Seite gestellt werden und die Rechtslage im Sinne des Verwenders zu verändern bezwecken.<br />
<br />
== 4. Grenzen des Vertragsrechts ==<br />
Wesensmerkmal des Vertrages ist, dass sich ein Vertragspartner freiwillig gegenüber dem anderen zu einem Tun oder Unterlassen verpflichtet (so insb. auch der EuGH, z.B. EuGH Rs.&nbsp;C-334/00 – ''Tacconi'', Slg. 2002, I-7357). Damit bestimmen die Privatrechtssubjekte die Wahl des Vertragspartners und den Inhalt der Leistung ([[Vertragsfreiheit]]). In allen europäischen Rechtsordnungen wird jedoch Verträgen, die missbilligte Ziele verfolgen, die Anerkennung versagt, zum Teil weil sie gegen ein gesetzliches Verbot (''illegality'') verstoßen oder sittenwidrig sind (''public policy'') ([[Sitten- und Gesetzwidrigkeit von Verträgen]]). Das Kollisionsrecht ([[Internationales Privatrecht]]) sieht einen auf den Kernbestand reduzierten ''[[Ordre public|ordre public]]''-Vorbehalt vor.<br />
<br />
Darüber hinaus bestimmt die Rechtsordnung teilweise den Inhalt des Vertrages mittels zwingenden Rechts oder sieht einen Kontrahierungszwang vor. Diese national unterschiedlich ausgeprägten Einschränkungen der Vertragsfreiheit werden bei monopolistischen Strukturen oder sonst in Bereichen vorgenommen, für die angenommen wird, dass bestimmte Marktteilnehmer besonderen Schutzes bedürfen, etwa im Arbeitsrecht, Mietrecht, oder allgemein bezüglich Verbraucher. Traditionell fanden sich kaum Regelungen im Einheitsrecht (so noch Art.&nbsp;4:101 PECL), jedoch werden auf europäischer Ebene die Grenzen der Vertragsfreiheit zunehmend einheitlich geregelt ([[Diskriminierungsverbot im allgemeinen Vertragsrecht]]; [[Verbraucher und Verbraucherschutz]]).<br />
<br />
== 5. Vertragsverletzung ==<br />
Mit Vertragsschluss ist der Schuldner dem Gläubiger gegenüber verbunden, die Leistung zu erbringen. Bleibt die Leistung aus, muss die Rechtsordnung entsprechend dem Grundsatz ''pacta sunt servanda'' dem Gläubiger einen Mechanismus zum Schutz seines Leistungsinteresses (''performance interest'') zur Verfügung stellen. Es sind im Wesentlichen drei Reaktionen auf ein Ausbleiben der Leistung denkbar: die zwangsweise Durchsetzung des Anspruchs auf die Leistung (Primäranspruch), die Gewährung eines wertmäßigen Ausgleichs in Form von [[Schadensersatz]] (Sekundäranspruch), sowie die beiderseitige Aufhebung der Leistungspflichten ([[Vertragsaufhebung]]).<br />
<br />
Schwierigkeiten bereitet die zwangsweise Durchsetzung von Pflichten, die nicht in der Zahlung von Geld bestehen. Während auf dem europäischen Kontinent der Gläubiger regelmäßig Erfüllung in natura verlangen kann (Ausnahme insb. Unmöglichkeit), ist ''specific performance'' im englischen Recht nur ausnahmsweise zulässig. Allerdings ist Konvergenz im Ergebnis zu beobachten, sei es, weil der Erfüllungszwang zu schwach ausgestaltet ist, um praktisch attraktiv zu sein (z.B. bei der Gattungsschuld in §&nbsp;894 ZPO), sei es, weil das englische Recht die Durchsetzung gestattet, wenn Schadensersatz das Leistungsinteresse des Gläubigers nicht hinreichend schützt (z.B. bei sog. ''unique goods'', insb. Grundstücken). Während Art.&nbsp;28 CISG die Problematik kollisionsrechtlich löst, sprechen sich die PECL, UNIDROIT PICC und der DCFR grundsätzlich für den Erfüllungszwang aus, dessen Effizienz aber umstritten ist. Unterschiede bestehen auch hinsichtlich der Frage, ob der Gläubiger im Interesse der Aufrechterhaltung der Primärpflichten dem Schuldner Gelegenheit zur Leistung geben muss, bevor er zu Schadensersatz übergeht (so etwa das deutsche und französische Recht, während dieses Rangverhältnis dem englischen Recht fremd ist; das CISG nimmt wiederum eine Mittelstellung ein).<br />
<br />
Wird die Leistung nicht erbracht, ist es vor allem bei Vermögensschäden möglich, durch Geldzahlung einen Zustand herzustellen, der der hypothetischen Lage bei Erbringung der Leistung äquivalent ist. Das positive Interesse ist in den einzelnen europäischen Rechtsordnungen grundsätzlich ersatzfähig (Art.&nbsp;9:502 PECL). Der Sekundäranspruch setzt eine zurechenbare Verletzung der primären Leistungspflicht voraus, was im kontinentaleuropäischen Recht gemeinhin als „Verschulden“ (''faute'', ''fault'', ''culpa'') bezeichnet wird. Die Strenge der Haftung variiert: Bei erfolgsbezogenen Pflichten (''obligation de résultat'') gestattet das englische und französische Recht, dem insofern auch das CISG, die PECL und der [[Common Frame of Reference|DCFR]] folgen, grundsätzlich nur den Einwand unverschuldeten, extrinsischen Zwangs (''frustration'', ''force majeure''), während das deutsche Recht das Verschuldensprinzip des §&nbsp;276 BGB in vollem Umfang auch bei ergebnisbezogenen Pflichten anwendet. Allerdings gilt ein objektivierter Sorgfaltsmaßstab, der zudem zugunsten der Garantiehaftung (etwa für die finanzielle Leistungsfähigkeit, das Beschaffungsrisiko bei Gattungsschulden) eingeschränkt ist. Unterschiede bestehen hinsichtlich der Relevanz eines Irrtums, z.B. für die Haftung für Mangelfolgeschäden: Während ein Verkäufer nach deutschem Recht für Folgeschäden aufgrund eines unverschuldet nicht erkannten Mangels nicht haftet, trifft ihn insofern nach dem CISG eine Garantiehaftung. Im Übrigen, insb. bei behebbaren Mängeln im Falle der Schlechtleistung, ebnen sich die Unterschiede wieder ein. Die dem römischen Recht entstammende [[Minderung]] gestattet es zudem, den mangelbedingten Minderwert der Kaufsache oder des Werkes verschuldensunabhängig geltend zu machen, ist aber nicht bei allen Vertragstypen vorgesehen (etwa Dienstvertrag). Hinsichtlich solcher Leistungspflichten, die schon ihrem Inhalt nach nur zu einer Tätigkeit ''lege artis'' verpflichten (''obligation de moyens''), lassen sich vergleichend kaum Unterschiede feststellen, da insofern auch das englische und französische Recht die Haftung auf den Standard objektiver Sorgfalt reduziert. Die Haftung besteht hinsichtlich kausal durch die Vertragsverletzung verursachter Schäden, soweit sie vorhersehbar und/oder vom Schutzzweck der verletzten Pflicht erfasst waren ([[Kausalität]]). Teilweise wird auch der Ersatz von frustrierten Aufwendungen, die im Vertrauen auf den Erhalt der Leistung getätigt wurden, alternativ zugelassen (§&nbsp;284 BGB). Strafschadensersatz für eine Vertragsverletzung sowie die Abschöpfung der Vorteile des Schuldners aus einer Vertragsverletzung (sog. ''efficient breach'') ist rechtssystemübergreifend umstritten und wird nur in Ausnahmefällen gewährt.<br />
<br />
Der Sekundäranspruch wandelt die Leistungspflicht des Schuldners in eine Geldzahlungspflicht um, berührt jedoch nicht die Pflicht des Gläubigers, seinerseits die Leistung zu erbringen. Die beiderseitige Aufhebung der Gegenleistungspflicht ist Folge der Vertragsauflösung, die bei Rückwirkung (Rücktritt) zur Rückabwicklung des Schuldverhältnisses (''restitution'') führt, etwa §&nbsp;346 BGB ([[Rückabwicklung von Verträgen]]). Die Vertragsauflösung wegen Vertragsverletzung trägt dem Umstand Rechnung, dass der Sekundäranspruch das Leistungsinteresse des Gläubigers oft nur unzureichend zu schützen vermag (etwa bei fehlender Zurechenbarkeit der Vertragsverletzung). Wann das Leistungsinteresse hinreichend gefährdet ist, wird unterschiedlich geregelt: Während das CISG eine wesentliche Vertragsverletzung erfordert und bei Nichtleistung das erfolglose Verstreichen einer Nachfrist genügen lässt, das deutsche Recht im Wesentlichen auf dem Nachfristmodell aufbaut, behält das französische Recht die Vertragsauflösung in der Regel, wenn nicht wie oft etwas anderes vereinbart ist (mittels sog. ''clauses résolutoires''), sogar dem Gericht vor (Art.&nbsp;1184 ''Code Civil''). Das englische Recht knüpft an den Willen der Parteien an, was bei grundsätzlicher Plausibilität Unsicherheit im Einzelfall nach sich zieht. Bei Dauerschuldverhältnissen ist die Vertragsauflösung in der Regel auf die Zukunft beschränkt (Kündigung, ''notice'') und erfüllt zusätzlich die Funktion, sich auch bei Vertragstreue von einer auf unbestimmte Zeit eingegangenen Bindung zu lösen.<br />
<br />
== Literatur==<br />
''Reinhard Zimmermann'','' ''The Law of Obligations, 1996; ''Hein Kötz'','' ''Europäisches Vertragsrecht, Bd. I, 1996; ''Stephan Lorenz'', Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, 1997; ''David Ibbetson'','' ''A Historical Introduction to the Law of Obligations, 1999; ''Hugh Beale'', ''Arthur'' ''Hartkamp'', ''Hein'' ''Kötz'', ''Dennis'' ''Tallon'' (Hg.), Cases, Materials and Text on Contract Law, 2002; ''Stephen Smith'','' ''Contract Theory, 2004; ''Sir Basil Markesinis'','' Hannes Unberath'','' Angus Johnston'','' ''The German Law of Contract, 2.&nbsp;Aufl. 2006; ''Edwin Peel'', The Law of Contract, 13.&nbsp;Aufl. 2007; ''Hannes Unberath'', Die Vertragsverletzung, 2007; ''E. Alan Farnsworth'', Comparative Contract Law, in: Mathias Reimann, Reinhard Zimmermann (Hg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, 2008.<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Contract]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Verbraucher_und_Verbraucherschutz&diff=1739Verbraucher und Verbraucherschutz2021-09-08T10:49:26Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Hannes Rösler]]''<br />
== 1. Gegenstand und Zweck ==<br />
Der gemeinschaftsrechtliche Verbraucherschutz ist einer der hauptsächlichen Impulsgeber für die Modernisierung des Privatrechts. Regelmäßig bestimmt das durch [[Richtlinie]]n vorgegebene Recht den Schutz von Personen, die zu privaten Zwecken ein [[Rechtsgeschäft]] mit professionellen Parteien abschließen. Dieser personell-typisierte Dualismus geht zurück auf die industrielle Revolution, die zur Ausdifferenzierung von Massenproduktion und ‑distribution auf der einen und Massenkonsumtion auf der anderen Seite geführt hat. Während nun in der Produktions- und Anbietersphäre die gebündelte „Rationalisierung“ und die instrumentelle Vernunft vorherrschen, bestehen in der Sphäre des privaten Endabnehmers von Sach- und Dienstleistungen nach Erkenntnissen der Wirtschafts- und Sozialwissenschaft, Verhaltens- und Hirnforschung Zweifel am Handeln als vollrationaler, gleichwertiger Geschäftspartner.<br />
<br />
Eine der Ursachen liegt auch im Folgenden: Der Konsument tätigt Geschäfte mit meist jeweils geringen Transaktionsvolumina, die übermäßige Geistesanstrengungen – etwa bezüglich [[Allgemeine Geschäftsbedingungen|Allgemeiner Geschäftsbedingungen]] und weiterer nicht preis- und leistungsrelevanter Faktoren – unter dem Gesichtspunkt der Kosten-Nutzen-Relation kaum sinnvoll erscheinen lassen. Dies ist bei der Unternehmensseite aufgrund der Bündelungsvorteile genau umgekehrt (''repeat player''). Zudem wird ein rationaler Geschäftsabschluss durch Werbung, Vertriebsumstände und – mit einigen Abstrichen – die Wirkkraft der Marke erschwert. Darum stößt ein reines Informationsmodell, das nur auf den Ausgleich von Asymmetrien durch Informationspflichten setzt, an seine Grenzen.<br />
<br />
Als Impulsgeber wirkt der Verbraucherschutz insofern, als sich die moderne Konsumgesellschaft und der daran anknüpfende Schutzgedanke erst mit Beginn der 1960er Jahre herausformte. (Wegmarke ist Präsident ''John F. Kennedys'' Erklärung „Consumers, by definition, include us all“ von 1962). Daher berücksichtigten ältere Gesetzeswerke und der Vertrag von Rom aus dem Jahre 1957 den Verbrauchergedanken im Großen und Ganzen kaum. Allerdings bestehen zum einen enge Verwandtschaften zu klassischen Bereichen – etwa zu den Begrenzungen der Privatautonomie durch das einzelfallabhängige Irrtums- und Sittenwidrigkeitsrecht. Zum anderen lassen sich Vorläufer bis auf ältere Markt- und Berufsordnungen nachzeichnen. <br />
<br />
Das Verbraucherprivatrecht ist durch seinen typisierenden Ansatz charakterisiert. Es antwortet auf neue strukturelle Herausforderungen und gesteigerte Ungleichgewichte vor, während und nach Abschluss von Massengeschäften. Dazu gehören angesichts der transnationalen Verkehrs- und Kommunikationswege insbesondere Auslands- und Distanzgeschäfte. Kennzeichnenderweise reagiert der Gemeinschaftsgesetzgeber erstens nicht mit Vorschriften, die sich auf grenzüberschreitende Geschäfte beschränken. Vielmehr sind die Rechtsakte der Gemeinschaft zur Verhinderung von völliger Rechtszersplitterung gleichermaßen auf Inlands- wie Auslandssachverhalte anwendbar. Zweitens orientiert sich das Sekundärrecht marktfunktional teils an der Realität, teils aber auch am Wunschbild eines leistungsfähigen, wettbewerbsstimulierenden Verbraucherbinnenmarktes, der „für die Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität in der ganzen Gemeinschaft unerlässlich ist“ (vgl. EuGH Rs.&nbsp;C-168/05 – ''Mostaza Claro'', Slg. 2006, I-10421, Rn.&nbsp;37). Diese beiden Charakteristika unterscheiden das Gemeinschaftsprivatrecht etwa vom völkerrechtlichen UN-Kaufrecht ([[Warenkauf, internationaler (Einheitsrecht)]]), das teils an die Tradition der ''[[Lex Mercatoria|lex mercatoria]] ''anknüpft.<br />
<br />
Etwa 80&nbsp;% des Gemeinschaftsvertragsrechts stammt bislang aus dem Bereich des Konsumentenschutzes. Dabei werden mit dem Informations-, Schutz- und Organisationsansatz grob drei Konzepte verknüpft. Das Informationskonzept und das an Bedeutung gewinnende Schutzkonzept verbinden die vertragsrechtlichen Richtlinien über [[Haustürgeschäfte]] (RL&nbsp;85/577), Verbraucherkredite (RL&nbsp;87/102, wobei die neue RL&nbsp;2008/48 bis Mai 2010 umzusetzen ist, [[Verbraucherkreditrecht der Gemeinschaft]]; [[Verbraucherkredit (Regelungsgrundsätze)]]), den Fernabsatz (RL&nbsp;97/7, [[Fernabsatzverträge]]), den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen (RL 2002/65), den Erwerb von Teilzeitnutzungsrechten an Immobilien (RL&nbsp;2008/122 [[Teilzeitwohnrechteverträge (Teilzeitnutzungsrechte)]]), Pauschalreisen (RL&nbsp;90/314 [[Reisevertrag (Pauschalreisen)]]), missbräuchliche Vertragsklauseln in Verbraucherverträgen (RL&nbsp;93/13) ([[Allgemeine Geschäftsbedingungen]]) und den [[Verbrauchsgüterkauf]] (RL&nbsp;1999/44). Einen privatrechtlichen Abnehmerschutz gewährt auch die Produkthaftungs-RL (RL&nbsp;85/374) unterstützt durch das Produktsicherheitsrecht ([[Produkthaftung]]).<br />
<br />
Hauptsächlich mit Art.&nbsp;6 Rom&nbsp;I-VO (VO&nbsp;593/ 2008) und Art.&nbsp;15-17 Brüssel&nbsp;I-VO (VO&nbsp;44/2001) bestehen begünstigende Sondervorschriften im Internationalen Privat- und Prozessrecht ([[Verbraucherverträge (IPR und IZPR)]]). Für das anwendbare Recht bei Produkthaftungsansprüchen gilt dagegen Art.&nbsp;5 Rom&nbsp;II-VO (VO&nbsp;864/2007). Die erwähnte kollektive Interessenvertretung (Organisationsansatz) ist nur in einigen Bereichen Erfolg versprechend: Die Unterlassungsklagen-RL (RL&nbsp;98/27) schafft Klagerechte für Verbraucherverbände und die VO&nbsp;2006/2004 sieht die Kooperation zwischen ihnen vor. Für grenzüberschreitende Streitsachen gelten nach RL&nbsp;2002/8 gemeinsame Mindestvorschriften über die Prozesskostenhilfe.<br />
<br />
Die RL&nbsp;2000/31 zum [[ Elektronischer Geschäftsverkehr – E‑Commerce|elektronischen Geschäftsverkehr]] sieht nur teilweise Sondervorschriften für den Verbraucher vor. Zudem schafft VO&nbsp;261/2004 für sämtliche Fluggäste Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen bei Nichtbeförderung, Annullierung oder großer Verspätung. Zu beachten sind schließlich die kundenschützenden Gemeinschaftsrechtsakte zum Versicherungs-, Bank-, Anleger-, Datenschutz- und Telekommunikationsrecht. Die Dienstleistungs-RL (RL&nbsp;2006/123) sieht den Verbraucherschutz nur indirekt und ganz am Rande vor.<br />
<br />
Grundlegend zur Erhaltung von effektiver Wahlfreiheit sind die Vorschriften zum fairen Wettbewerb (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken [RL&nbsp;2005/29]; </nowiki> [[Unlauterer Wettbewerb (Grundlagen)]]; Richtlinie über irreführende und vergleichende Werbung <nowiki> [RL&nbsp;2006/ 114] </nowiki>; [[Geschäftspraktiken, aggressive]]; [[Geschäftspraktiken, irreführende|Werbung, irreführende]]; [[Werbung, vergleichende]]). Ergänzt werden sie durch spezielle Werbevorschriften z.B. in der Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (RL&nbsp;89/552 in der Fassung der RL&nbsp;2007/65) und über Tabakprodukte (RL 2003/33) ([[Werbung für Tabakprodukte]]). Auch die Maßnahmen gegen Wettbewerbsbeschränkungen dienen in diesem weiteren Sinne den Konsumentenbelangen.<br />
<br />
== 2. Tendenzen der Rechtsentwicklung ==<br />
=== a) Querschnittsmaterie ===<br />
Damit sind vielseitige Überschneidungen angesprochen. Sie sind Ausdruck einer Querschnittseigenschaft, die dazu zwingt, den Verbraucherschutz bei zahlreichen Maßnahmen horizontal zu berücksichtigen (Art.&nbsp;153(2) EG/12 AEUV). Aus dem öffentlichen Recht (einschließlich des Strafrechts) sind die Bereiche der technischen Sicherheit, Lebensmittelsicherheit, Produktkennzeichnung, [[Preisangaben]] (RL&nbsp;98/6) und des Gesundheitsschutzes (Art.&nbsp;152 EG/168 AEUV) von Bedeutung. Vorliegend geht es dagegen um die Richtlinien des Verbraucherprivatrechts: Sie dienen – schon wegen der Kompetenzgrundlagen – vorrangig der Verwirklichung des [[Europäischer Binnenmarkt|europäischen Binnenmarkt]]es ohne Wettbewerbsverzerrungen (Art.&nbsp;95 EG/114 AEUV), aber ebenfalls der Gewährleistung eines hohen Verbraucherschutzniveaus (Art.&nbsp;3(1)(t), 95(3) und 153 EG bzw. Art.&nbsp;4(2)(f), 12, 114(3) und 169 AEUV) ([[Auslegung des Gemeinschaftsrechts]]). Diese doppelfunktionalen Richtlinien weisen also typischerweise einen doppelten Begründungsstrang auf.<br />
<br />
=== b) Definition des Verbrauchergeschäfts ===<br />
Der privatrechtliche Verbraucherschutz (im engeren Sinne) braucht zur Erhöhung der Rechtssicherheit und zur Verhinderung von Beweisproblemen klare situations- und personenbezogene Abgrenzungen. Neben dem spezifischen sachlichen Anwendungsbereich jeder Richtlinie lauten die personellen Voraussetzungen fast durchgängig wie folgt: Verbraucher ist jede natürliche Person, die zu einem Zweck handelt, der nicht ihrer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit zugewiesen werden kann (so bereits modellhaft Art.&nbsp;2 der Haustürwiderrufs-RL; begrifflich fehlgehend meint Art.&nbsp;2(4) Pauschalreise-RL den Buchenden). <br />
<br />
Sein Vertragspartner muss notwendigerweise ein Gewerbetreibender sein. Dieser Gegenpart ist spiegelbildlich jede natürliche oder juristische Person, die im Rahmen ihrer gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit handelt (z.B. Art.&nbsp;2(c) Klausel-RL). Insofern kristallisieren sich zwei einheitliche und strikte Typenbegriffe heraus. Freilich macht davon – der noch auf die sechziger Jahre zurückgehende – Art.&nbsp;15(1) Brüssel&nbsp;I-VO eine Ausnahme, indem er zumindest vom Wortlaut her juristische Personen als Verbraucher nicht ausschließt ([[Verbraucherverträge (IPR und IZPR)]]). Letzteres gilt – mit geringer Bedeutung – auch bei Art.&nbsp;9(b) Produkthaftungs-RL.<br />
<br />
Auf nationaler Ebene bestehen beim Verbraucherschutzkonzept und ‑begriff größere Abweichungen. Bei den Mindestharmonisierungsrichtlinien dürfen die Mitgliedstaaten zur Schaffung eines höheren nationalen Schutzstandards den geschützten Personenkreis erweitern. Vielfach bemühen sich die Mitgliedstaaten um eine stringente, systembildende und vergleichsweise enge Definition des Verbrauchers im oben aufgezeigten Sinne (z.B. Art.&nbsp;7:5 Abs.&nbsp;1 BW; vertragsartübergreifend: Art.&nbsp;3 Abs.&nbsp;1 lit.&nbsp;a ''Codice del consumo'' und §&nbsp;13 BGB). <br />
<br />
Der französische ''Code de la consommation'' weist als Gegenmodell eine uneinheitliche Begriffswahl auf: Teils wird der Verbraucher mit dem Kunden gleichgesetzt, teils lediglich als nichtberuflich Handelnder definiert. Überwiegend ist die Festlegung der Schutzsubjekte der Rechtsprechung überlassen. Dabei werden juristische Personen nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Letzteres gilt auch in Spanien nach Art.&nbsp;1 Abs.&nbsp;2, Abs.&nbsp;3 ''Ley General para la Defensa de los Consumidores y Usuarios'' von 1984, in Österreich nach Art.&nbsp;1 Abs.&nbsp;1 Nr.&nbsp;2 Konsumentenschutzgesetz (KSchG) sowie nach belgischem, dänischem und griechischem Recht. Das deutsche, italienische, niederländische, polnische und schwedische Recht nehmen dagegen juristische Person aus; ebenso Art. I.-1:105(1) DCFR.<br />
<br />
In Frankreich erfasst der Verbraucherschutz weitgehend auch Unternehmer, die atypische Verträge abschließen (''Cour de Cassation'','' ''Cass. civ. 1<sup>re</sup> 5.3.2002, Bull. civ. IV, no.&nbsp;78, 60; gegen den „non-professionnel“ im Gemeinschaftsrecht EuGH Rs.&nbsp;C-361/89 – ''Di Pinto'', Slg. 1991, I-1189). Dagegen ist das deutsche Recht selbst bei den Geschäften zur Existenzgründung streng: Personen, die im Zuge der Aufnahme einer gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit handeln, sind Unternehmer i.S.d. §&nbsp;14 BGB (BGH 24.2.2005, BGHZ&nbsp;162,&nbsp;253; ebenso für Art.&nbsp;15-17 Brüssel&nbsp;I-VO EuGH Rs.&nbsp;C-269/95 – ''Benincasa'', Slg. 1997, I-3767). Entgegengesetzt bejaht Art.&nbsp;1 Abs.&nbsp;3 österreich. KSchG hier eine Verbrauchertätigkeit. Als weitere Besonderheit des deutschen Rechts kann auch ein Angestellter ein Verbraucher i.S.d. §&nbsp;13 BGB sein. Dafür darf der Geschäftszweck nicht einer gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet sein.<br />
<br />
Hinsichtlich der privat-gewerblich gemischten Geschäfte enthalten Art.&nbsp;I.-1:105(1) DCFR sowie §&nbsp;1 Abs.&nbsp;1 schwed. Verbraucherkaufgesetz (''Konsumentköplag'') von 1990 eine Klarstellung: Erfasst sind auch Verträge, die zwischen Gewerbetreibenden und einem Verbraucher „hauptsächlich“ zu dessen privatem Zweck abgeschlossen werden. Die deutschen Gerichte prüfen hier, welche Nutzung überwiegt (OLG Celle 11.8.2004, NJW-RR&nbsp;2004, 1645). Das Gemeinschaftsrecht hilft bei der Frage nur bedingt. Nicht durchsetzen konnte sich bei der Verbrauchsgüterkauf-RL eine Erfassung von Geschäften, die teilweise zu gewerblichen Zwecken erfolgen (KOM(95) 520 endg. hatte diese Erweiterung noch vorgeschlagen). Nur Art.&nbsp;9(b)(ii) Produkthaftungs-RL erwähnt das Kriterium der Hauptsächlichkeit. Dagegen muss bei der Brüssel&nbsp;I-VO der beruflich-gewerbliche Zweck „nebensächlich“ und von einer ganz untergeordneten Rolle sein (so EuGH Rs.&nbsp;C- 464/01 – ''Gruber'', Slg. 2005, I-439; [[Verbraucherverträge (IPR und IZPR)]]).<br />
<br />
=== c) Integrations- oder Exklusionslösung bei der Umsetzung? ===<br />
Das Verbraucherrecht ist heute integraler Bestandteil des Privatrechts. Der rechtssystematisch überzeugende Standort ist darum die Hauptkodifikation ([[Kodifikation]]). Dass die Integration keinen „Systembruch“ mit sich bringen muss, belegen der DCFR, das ''[[Burgerlijk Wetboek]]'' und das [[Bürgerliches Gesetzbuch|BGB]]. Letzteres enthält seit 2000 bzw. 2002 fast sämtliche Verbrauchervorschriften (vorrangig §§&nbsp;13, 241a, 310 Abs.&nbsp;3, 312&nbsp;ff., 355&nbsp;ff., 474&nbsp;ff., 481&nbsp;ff., 491&nbsp;ff., 499&nbsp;ff., 505, 506, 661a BGB). Vormals fand sich der Verbraucherschutz in einer Reihe von Sondergesetzen. Diese Zweispurigkeit setzte bereits 1894 mit dem Abzahlungsgesetz ein, und zwar nicht zuletzt aus Furcht, andernfalls das bürgerlichrechtliche Leitbild der Gleichheit und Selbstbestimmung aller Rechtssubjekte zu beschädigen. Doch diese Sorge ist unberechtigt. Das modernisierte BGB regelt systemkonform neben dem Bürger-Bürger-Rechtsverhältnis, dem professionellen b2b (ergänzt um das HGB) nun auch das spezielle b2c-Geschäft.<br />
<br />
Da hier das Recht nicht neu erfunden werden muss, kann das allgemeine Privatrecht an verbraucherrechtliche Erfordernisse durch ein höheres Schutzniveau angepasst und damit spezialisiert werden. Neben der klaren Sichtbarkeit des Verbraucherschutzes bietet die Einbeziehungslösung als weiteren Vorzug eine Rechtsvereinfachung gegenüber den in den Mitgliedstaaten überwiegend inselhaften Einzelgesetzen: Sie verhindert Überlappungen, stärkt die Rechtssicherheit und Effizienz. Zudem zwingt die Integration zu einer klareren dogmatischen Herausarbeitung des Verhältnisses zum Willensmängelrecht, fahrlässiger Aufklärungspflichtverletzung und (sonstigem) Schwächerenschutz.<br />
<br />
Die gegenwärtigen Verbrauchergesetzbücher kommen dagegen ohne Bezugnahme auf den Hauptkodex kaum aus. So stellt der 1993 erlassene ''Code de la Consommation'' ein Sammelgesetz dar. Ähnliches gilt für den ''Codice del consumo'' von 2005 (ebenfalls mit Verbrauchsgüterkauf) und das österreich. KSchG von 1979 (der Verbrauchsgüterkauf findet sich dagegen überwiegend im ABGB). Der ''Code de la Consommation'' vereint die bestehenden Verbraucherschutzvorschriften als ''codification administrative''. Dies erklärt, warum die besagten divergierenden Verbraucherdefinitionen schlicht tradiert wurden. Verbrauchergesetzbücher solcher ''Couleur'' sind ein Kompromiss zwischen voller Anerkennung in der Kernkodifikation und (formaler) Zersplitterung. Letztere ist für das englische Recht kennzeichnend mit seiner ''bolt on''-Umsetzung. Hier wurden einfach die ''Unfair Terms in Consumer Contracts Regulations 1994'' (später 1999) zur Umsetzung der RL&nbsp;93/13 neben den ''Unfair Contract Terms Act 1977'' gestellt. Allerdings wurden zur Umsetzung der RL&nbsp;1999/44 der ''Sale of Goods Act 1979'' und zwei weitere Gesetze aktualisiert.<br />
<br />
Insgesamt sind die Divergenzen des gemeinschaftsrechtlichen und nationalen Verbraucherrechts unübersehbar – und dies, obwohl eine sehr intensive Vorprägung besteht, denn die Gemeinschaft ist hier zum entscheidenden Impulsgeber geworden. Bedauerlicherweise haben die Verbrauchergesetze nicht zu einer stärkeren Vereinheitlichung geführt. Dies hängt teils mit der mangelnden (horizontalen) Kohärenz des Gemeinschaftsrechts zusammen. Darum läge in einer europaweiten Verbraucherrechtsrichtlinie, ‑verordnung oder ‑modellgebung eine große Chance sowohl für die inhaltliche Verdichtung des Gemeinschaftsrechts als auch für die Rechtssicherheit der beteiligten Verkehrskreise.<br />
<br />
== 3. Schutzkonzept des Gemeinschaftsrechts ==<br />
=== a) Informationsmodell und andere Instrumente ===<br />
Die beträchtliche Macht der Verbraucher zur Steuerung des Marktsystems geht fehl bei falschen oder unvollständigen Informationen ([[Informationspflichten (Verbrauchervertrag)]]). Informierte Verbraucher fungieren darum nicht als Gegner der Wirtschaftsseite, sondern – wie die Informationsökonomie unterstrichen hat – als Partner im Marktgeschehen. Der Qualitäts- und Preiswettbewerb soll (gerade in liberalisierten Märkten) durch verbraucherseitige Transparenz- und Autonomieerhöhung gefördert werden, etwa durch Vertrauensbildung zum Wechsel bewährter Konsumgewohnheiten, Anbieter, Marken oder Tarife. Davon profitieren der seriöse Marktanbieter und – von mehr fairem Wettbewerb – letztendlich die Verbraucher. Auch darum sind verlässliche Informationen und seriöse Vertriebspraktiken schon im Vorfeld durch das Lauterkeitsrecht zu gewährleisten. <br />
<br />
Bei den Verbrauchervertragsrichtlinien setzt die Gemeinschaft in beträchtlichem Umfang auf die Informationsversorgung – etwa im Reise- und ''Time-Sharing''-Recht. Damit gilt der Grundsatz des geringsten bzw. verhältnismäßigen Eingriffs in die Vertragsautonomie zugunsten eines verständigen Verbrauchers. Angesichts der Unübersichtlichkeiten und Asymmetrien sind aber unterstützend weitere vertragsrechtliche Instrumente erforderlich, die einen intensiveren Eingriff in den Grundsatz der Vertragstreue bedeuten. Hervorzuheben sind die Situations-, Vertragstypus- und Abwesenheitswiderrufsrechte nach den Richtlinien über Haustürgeschäfte, ''Time-Sharing'' sowie neuerdings auch Verbraucherkredit und den beiden zum Fernabsatz. Von größter Bedeutung sind die vertragsartübergreifende Klauselkontrolle und die Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf und Garantien mit ihren zahlreichen halbzwingenden Vorschriften, die Kernbereiche des Zivilrechts europäisieren. Die Gemeinschaft argumentiert hierzu mit dem Verbrauchervertrauen in den Binnenmarkt, das es zu stärken gelte (z.B. Erwägungsgrund 5 Verbrauchsgüterkauf-RL).<br />
<br />
Der Grat zur Bevormundung und Überforderung ist oft schmal. Ohnehin bleibt „der“ europäische Verbraucher eine Fiktion z.B. angesichts von unterschiedlicher Erfahrung, Ausbildung und Geisteskraft. Grundsätzliches Ziel der Gemeinschaft ist die Förderung von effektiver Wahlfreiheit durch Informationen und von Entscheidungsspielräumen durch Weitung der Marktgrenzen. Das [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]]-Grundlagenurteil ''Cassis de Dijon'' verdeutlicht dieses zweite Standbein des Verbraucherrechts: Es spricht sich gegen übertrieben vorsorglichen mitgliedstaatlichen Verbraucherschutz und für die Durchsetzung der [[Warenverkehrsfreiheit]] aus (EuGH Rs.&nbsp;120/78, Slg. 1979, 649; zum Informationsmodell auch EuGH Rs.&nbsp;C 362/88 – ''GB-INNO-BM'', Slg. 1990, I-667). <br />
<br />
Bei der lauterkeits-, warenkennzeichen- und markenrechtlichen Beurteilung ist darum auf die mutmaßliche Wahrnehmung eines normal informierten, angemessen aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbrauchers der fraglichen Waren- oder Dienstleistungen abzustellen (EuGH Rs.&nbsp;C-210/96 – ''Gut Springenheide'', Slg. 1998 I-4657). Dabei sind soziale, kulturelle und sprachliche Umstände berücksichtbar (EuGH Rs.&nbsp;C-220/98 – ''Estée Lauder'', Slg. 2000, I-117, Rn.&nbsp;29); Erwägungsgrund 18 RL&nbsp;2005/29).<br />
<br />
=== b) Kohärenz- und Reformfragen ===<br />
Bereits das unverbindliche Erste Verbraucherprogramm von 1975 erkannte die Verbraucherbelange auf Gesundheitsschutz, Schutz der wirtschaftlichen Interessen, Information und auf Selbstorganisationen an. Seit dem Vertrag von Maastricht findet sich dies auch im Primärrecht (Art.&nbsp;153(1) EG/169(1) AEUV). Gleichwohl ist das seit den Achtzigern schubweise entstandene EG-Verbraucherrecht inkohärent und fragmentarisch. Es konzentriert sich teils kompromisshaft auf einzelne Problemlagen einzelner Verbraucherverträge. Eine weitgehende Vereinheitlichung von Begrifflichkeiten, Informationspflichten, Widerrufsrechten, Formvorschriften usw. wäre zu begrüßen. <br />
<br />
Auf Grundlage des Grünbuchs zur Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz (KOM(2006) 744 endg.) strebt die Europäische Kommission gegenwärtig eine umfassende Konsolidierung und Reform der oben genannten RL&nbsp;85/577, 93/13 und 97/7 und 1999/44 in einer Richtlinie über Rechte der Verbraucher an (KOM(2008) 614 endg.). Der von ihr gewünschte Wechsel von der Mindest- zur Vollharmonisierung wird allerdings mit Skepsis aufgenommen, da er zu einer Verringerung des Schutzniveaus und einer Versteinerung des Verbraucherrechts führen könnte. Freilich wurde das Prinzip der Mindestharmonisierung bereits durchbrochen bei den Richtlinien zum Fernabsatz von Finanzdienstleistungen, zu unlauteren Geschäftspraktiken und der neuen zum Verbraucherkredit.<br />
<br />
Ein weiteres Regelungserfordernis liegt bei den Rechtsfolgen und der (grenzüberschreitenden) Rechtsdurchsetzung. Insbesondere im Fall der Streuschäden hat der einzelne Verbraucher keinen hinreichenden Anreiz, selbst zu klagen. Die [[Europäische Kommission]] plant darum eine europaweite Sammelklage für Verstöße gegen Verbraucherschutz- und Kartellvorschriften der EU ([[Verbandsklage]]). <br />
<br />
== 4. Einheitsrecht ==<br />
Über die EU hinaus bestehen keine ernsthaften internationalen Regeln zum Verbraucherschutz, sondern nur Empfehlungen und Berichte (etwa der OECD). Mit der Förderung und dem Schutz der wirtschaftlichen Verbraucherinteressen befasst sich die Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 9.4.1985 über Richtlinien für den Verbraucherschutz. Es handelt sich aber um allgemeine, unverbindliche Zielvorgaben. Das CISG nimmt gemäß Art.&nbsp;2(a) Verträge aus, die den Kauf von Waren „für den persönlichen Gebrauch oder den Gebrauch in der Familie oder im Haushalt“ betreffen ([[Warenkauf, internationaler (Einheitsrecht)]]). Diese positive Definition ist enger als die gemeinschaftsrechtliche (s.o.). <br />
<br />
Allerdings greift dieser Anwendungsausschluss nicht, wenn der Verkäufer vor oder bei Vertragsschluss weder wusste noch wissen musste, dass die Waren für einen solchen Gebrauch gekauft wurden. Dieses kognitive Element enthält das Gemeinschaftsrecht wegen der unterschiedlichen Stoßrichtung gerade nicht: Das EG-Schutzrecht mit seinem subjektiv-persönlich anknüpfenden Schutzzweck soll Ungleichheiten ausgleichen und erfordert im Unterschied zu den handelsrechtlichen Erfordernissen keine Publizität und keinen Vertrauensschutz (zur Kollisionsfrage mit dem CISG siehe [[Verbrauchsgüterkauf]]). Eine subjektive Schutzklausel zugunsten von Unternehmern konnte sich darum auch bei Art.&nbsp;6 Rom&nbsp;I-VO nicht durchsetzen (anders noch KOM(2005) 650 endg.). Die [[UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts|UNIDROIT PICC]] nehmen Verbraucherverträge durch die Erfassung der rein internationalen „Handelsverträge“ indirekt aus. Die [[Principles of European Contract Law|PECL]] haben den Verbraucherschutz fast gänzlich ausgeblendet, was der DCFR unter Berücksichtung des diesbezüglichen ''acquis communautaire'' heilt.<br />
<br />
== Literatur==<br />
''Norbert Reich'', ''Hans-W. Micklitz'', Europäisches Verbraucherrecht, 4.&nbsp;Aufl. 2003; ''Hannes Rösler'', Europäisches Konsumentenvertragsrecht: Grundkonzeption, Prinzipien und Fortentwicklung, 2004; ''idem'', 30 Jahre Verbraucherpolitik in Europa: Rechtsvergleichende, programmatische und institutionelle Faktoren, Zeitschrift für Rechtsvergleichung 2005, 134&nbsp;ff.; ''Stephen Weatherill'', EU Consumer Law and Policy, 2.&nbsp;Aufl. 2005; ''Geraint G. Howells'', ''Stephen Weatherill'', Consumer Protection Law, 2.&nbsp;Aufl. 2005; ''Jean Calais-Auloy'', ''Frank Steinmetz'', Droit de la consommation, 7.&nbsp;Aufl. 2006; ''Bettina Heiderhoff'', Gemeinschaftsprivatrecht, 2.&nbsp;Aufl. 2007; ''Hannes Rösler'', Primäres EU-Verbraucherrecht: Vom Römischen Vertrag bis zum Vertrag von Lissabon, Europarecht 2008, 800&nbsp;ff.; ''Hans Schulte-Nölke'', ''Christian Twigg-Flesner'', ''Martin Ebers ''(Hg.), EC Consumer Law Compendium: The Consumer Acquis and its transposition in the Member States, 2008; ''Hans W. Micklitz'','' Norbert Reich'', Crónica de una muerte anunciada: The Commission Proposal for a “Directive on Consumer Rights”, Common Market Law Review 46 (2009) 471&nbsp;ff.<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Consumers_and_Consumer_Protection_Law]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Verbrauchervertr%C3%A4ge_(IPR_und_IZPR)&diff=1737Verbraucherverträge (IPR und IZPR)2021-09-08T10:48:19Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Hannes Rösler]]''<br />
== 1. Regelungserfordernis und Verbraucherbegriff ==<br />
Für den zunehmend mit grenzüberschreitenden Geschäften konfrontierten Verbraucher ([[Verbraucher und Verbraucherschutz]]) sind im Fall vertragsrechtlicher Probleme zwei Fragen bedeutsam: die nach dem anwendbaren Recht und nach der ggf. zuständigen staatlichen Gerichtsbarkeit. Schließlich rufen die Ermittlung ausländischen Rechts und die Rechtsverfolgung im Ausland einige Zusatzmühen und ‑kosten hervor. Neben dem sonstigen Zivil- und Prozessrecht variiert auch das Niveau des verbraucherspezifischen Sachrechts – trotz (und teils wegen) der Verpflichtung der [[Europäische Gemeinschaft|EG]] zu einem hohen Verbraucherschutzniveau. Der Verbraucher würde angesichts der oft geringen Streitwerte ohne Abhilfe seitens der EG seine Ansprüche noch seltener durchsetzen. Dies wäre unvereinbar mit einem einheitlichen Binnenmarkt, der gerade auf vermehrte Mobilität zielt. <br />
<br />
Die europäischen Rechtsakte zum [[Internationales Privatrecht|internationalen Privatrecht]] sowie zum internationalen Zivilprozessrecht sehen direkte und einfache Sonderregeln zugunsten des Verbrauchers vor: Der Verbraucher wird grundsätzlich in Form der Anwendung des Rechts seines gewöhnlichen Aufenthaltsstaates sowie durch die Zuständigkeit der Gerichte in seinem Wohnsitzstaat bevorzugt. Davon abweichende Parteivereinbarungen sind nur in engen Grenzen möglich.<br />
<br />
''Personelle ''Voraussetzung ist übergreifend das Vorliegen eines [[Rechtsgeschäft]]s zwischen Endverbraucher und Unternehmer. Die Definitionen dieses Gegensatzpaares entsprechen den Systembegriffen des Verbraucher-''acquis'' ([[Verbraucher und Verbraucherschutz]]). Nur im IZPR besteht eine Abweichung: Bedingt durch die Vorgängervorschrift im Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27.9.1968 (EuGVÜ) schließt heute Art.&nbsp;15(1) Brüssel&nbsp;I-VO (VO&nbsp;44/ 2001, auch mit EuGVO abgekürzt) juristische Personen vom Verbraucherbegriff nicht aus. Aber die nachfolgende Rom&nbsp;I-VO (VO&nbsp;593/2008) beschränkt den Schutz zutreffenderweise auf natürliche Personen ([[Vertragliche Schuldverhältnisse (IPR)]]). Sinnvoll wäre nun eine parallele Klarstellung in der Brüssel&nbsp;I-VO. Der EuGH legt die personellen Voraussetzungen zumindest bei der Zuständigkeit erstaunlich strikt aus. So hat der EuGH Rs.&nbsp;C-464/01 –'' Gruber'', Slg. 2005, I-439 beim Dachziegelkauf für einen Bauernhof das Vorliegen einer Verbrauchersache wegen beruflich-gewerblicher Komponente abgelehnt (näher [[Verbraucher und Verbraucherschutz]]).<br />
<br />
== 2. EuGH und Gleichklang zwischen IPR und IZPR ==<br />
Die Verordnungen Rom&nbsp;I und Brüssel&nbsp;I sind Maßnahmen zur justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen mit grenzüberschreitenden Bezügen, und zwar auf Grundlage des Kompetenztitels Art.&nbsp;61(c) i.V.m. 65 EG/81 AEUV. Damit ist die Zuständigkeit des EuGH gemäß Art.&nbsp;68 EG eröffnet. (Dagegen hatte der Gerichtshof aufgrund eines Auslegungsprotokolls von 1971 die Zuständigkeit für das völkerrechtliche EuGVÜ. Beim EVÜ erhielt der EuGH sie zum 1.8.2004.) Allerdings beschränkt Art.&nbsp;68(1) EG die vorlageberechtigten und ‑verpflichteten Gerichte noch auf solche, deren Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können. <br />
<br />
Die Beschränkung der Vorlagebefugnis streicht der Vertrag von Lissabon erfreulicherweise ersatzlos, indem er die Materie den allgemeinen Regeln über die Gerichtsbarkeit in Art.&nbsp;251&nbsp;ff. AEUV unterstellt. Damit besteht vermehrt die Chance, mit Hilfe einer einheitlichen Auslegung der Rom&nbsp;I-VO, der Brüssel&nbsp;I-VO sowie der Rom&nbsp;II-VO (VO&nbsp;864/2007) über [[Außervertragliche Schuldverhältnisse (IPR)|außervertragliche Schuldverhältnisse]]) eine einheitliche Terminologie richterlich zu konkretisieren. Dem kommt angesichts der relativen Definitionsarmut der Verordnungen und der Verpflichtung zur autonomen Begriffsbestimmung eine große Bedeutung zu (s. auch Art.&nbsp;18 EVÜ bzw. Art.&nbsp;36 EGBGB mit der Verpflichtung zur einheitlichen Auslegung). <br />
<br />
So musste der EuGH z.B. den Vertragsbegriff durch Rs.&nbsp;C-27/02 – ''Engler'', Slg. 2005, I-481 erst näher definieren. Dort ging es um Verpflichtungen im Fall isolierter Gewinnmitteilungen aus dem Ausland. Solche nicht mit einer Warenbestellung verbundenen Gewinnmitteilungen unterfallen als einseitige Verpflichtungen nicht dem als Sondervorschrift eng auszulegenden Art. 13(1) Nr.&nbsp;3 EuGVÜ. (Vgl. dagegen für den weiter gefassten Vertragsbegriff in Art. 15(1)(c) Brüssel&nbsp;I-VO jüngst EuGH Rs. C-180/06 – ''Ilsinger'', EWS 2009, 280, Rn. 51). Allerdings sind Gewinnmitteilungen freiwillig eingegangene Verpflichtungen, so dass nach ''Engler'' der allgemeine, weit auszulegende Vertragsgerichtsstand des Art.&nbsp;5 Nr.&nbsp;1 EuGVÜ eröffnet sein soll, der eine deliktische Zuständigkeit verdrängt.<br />
<br />
Angesichts der Parallelen zwischen beiden Verordnungen ist die wechselseitige Übertragung von Begriffsbestimmungen erstrebt und mehr als sinnvoll. (Diese Abstimmung galt auch schon für EVÜ und EuGVÜ, siehe nur den ''Giuliano/Lagarde''-Bericht zum EVÜ, ABl. 1980 C 282//1). Inwieweit dies nun im Einzelnen möglich ist, bleibt zwar wegen unterschiedlicher Funktion von Kollisions- und Prozessrecht grundsätzlich umstritten. Die Bedenken können aber für die verbraucherschützenden Bestimmungen kaum Geltung beanspruchen. Beim Verbraucherschutz gibt das Kollisionsrecht seine strikte Neutralität auf und nähert sich dem Prozessrecht an, das auch allgemein von Schutzerwägungen geleitet wird. Ein Auslegungsgleichklang ist hier erwünscht. Die Parallelen führen auch dazu, dass anwendbares Recht und das Heimatforum des Verbrauchers regelmäßig zusammenfallen. Ein solcher Gleichlauf von anwendbarem Recht und Gerichtsstand ist wegen des typischerweise niedrigen Streitwerts bei Verbraucherverträgen zielführend. <br />
<br />
Großbritannien hat von der Möglichkeit des ''opt-in'' zu Rom&nbsp;I Gebrauch gemacht, wie schon bei der Brüssel&nbsp;I-VO. Im Verhältnis zu Dänemark wird allerdings wegen Art. 69 EG wohl nicht Rom I, sondern noch weiterhin das EVÜ gelten. Dänemark hat sich freilich der Brüssel&nbsp;I-VO angeschlossen, und zwar auf der Grundlage eines am 1.7.2007 in Kraft getretenen Abkommens (ABl. 2007 L 94/70). Das insoweit zwischenzeitlich weitergeltende EuGVÜ wurde endgültig ersetzt. <br />
<br />
== 3. Anwendbares Recht ==<br />
=== a) Art. 5 EVÜ und Art. 6 Rom I-VO ===<br />
Das Kollisionsrecht der internationalen Verbraucherverträge ist innerhalb der EU bestimmt durch die Rom&nbsp;I-VO. Sie ersetzt das EVÜ für Verträge, die nach dem 17.12.2009 geschlossen wurden. Gegenüber dem völkerrechtlichen Vorgänger wird beim neuen Gemeinschaftsinstrument der ''sachliche ''Anwendungsbereich erweitert: Die verbraucherrechtliche Bestimmung des Art.&nbsp;5 EVÜ (in Deutschland inkorporiert mit Art.&nbsp;29 EGBGB) gilt nur für Verträge über die Lieferung beweglicher Sachen oder die Erbringung von Dienstleistungen sowie darauf bezogene Kreditverträge. Dagegen sind dem Art.&nbsp;6(1) Rom&nbsp;I-VO prinzipiell alle Verbraucherverträge unterworfen. Erfasst sind endlich auch immaterielle Leistungsgegenstände (z.B. Software und Musik-Downloads). <br />
<br />
Mit Art.&nbsp;6(4) Rom&nbsp;I-VO gelten aber weiterhin die vom EVÜ bekannten Ausnahmen. Dazu zählen bedauerlicherweise Dienstleistungen, die ausschließlich außerhalb des Aufenthaltsstaates des Verbrauchers erbracht werden (z.B. Hotelverträge, Feriensprachunterricht, Sportkurse), aber auch Beförderungsverträge (es gilt Art.&nbsp;5 Rom&nbsp;I-VO), bis auf Pauschalreisen im Sinne der RL&nbsp;90/314 ([[Reisevertrag (Pauschalreisen)]], Verträge über dingliche Rechte an unbeweglichen Sachen und Mietverträge, ausgenommen Teilzeitnutzungsrechte an Immobilien im Sinne der RL&nbsp;94/47. Des Weiteren sind nach Maßgabe von lit.&nbsp;d) und e) bestimmte Aspekte von [[Finanzinstrument]]en nicht erfasst. Mit Art.&nbsp;7 Rom&nbsp;I-VO findet sich eine vorrangige Vorschrift zu Versicherungsverträgen, die überfällig war. Das EVÜ nimmt sie aus. Vorvertragliche Schuldverhältnisse unterliegen nur den Vorschriften der Rom&nbsp;II-VO (vgl. Art.&nbsp;1(2)(j) Rom&nbsp;I-VO). Bei deliktischen Produkthaftungsansprüchen gilt speziell Art.&nbsp;5 der am 11.1.2009 in Kraft getretenen Rom&nbsp;II-VO.<br />
<br />
Für den besonderen kollisionsrechtlichen Schutz muss neben dem erläuterten persönlichen und sachlichen auch der ''situative ''Anwendungsbereich'' ''eröffnet sein. Der Unternehmer hat entweder im Verbraucherstaat eine berufliche oder gewerbliche Tätigkeit auszuüben oder – der Rom&nbsp;I-VO folgend – seine vertragsbezogene Tätigkeit „auf irgend einem Wege“ auf ihn auszurichten. Mit diesem neuen übergreifenden Ausrichtungsmerkmal erübrigt sich die Auflistung einzelner Vertragsschluss- und Vertragsanbahnungssituationen. Eine komplexe Liste wie in Art.&nbsp;5(2) EVÜ erwies sich als zu unflexibel: als mal zu weit, als mal zu lückenhaft. Letzteres war etwa bei den umstrittenen Gran-Canaria-Fällen gegeben, wo ein Tourist im Ausland geworben wurde, sein Vertrag aber erst später im Heimatland zu erfüllen war und er darum als Verbraucher oft schutzlos blieb (vgl. aber BGH 15.11. 1990, BGHZ 113,&nbsp;11). <br />
<br />
Im Zuge der Vereinfachung stellt Art.&nbsp;6 Rom&nbsp;I-VO sinnvollerweise nicht mehr auf den Abgabeort der Vertragserklärung ab. Schließlich ist es im Internetzeitalter gleichgültig, ob sich der Verbraucher bei [[Vertragsschluss]] in seinem gewöhnlichen Aufenthaltstaat befand oder nicht. Dieser Ort ist eher zufällig oder verleitet gar einen Unternehmer, den Verbraucher aus seinem Aufenthaltsstaat herauszulocken. Die Streichung in Art.&nbsp;6 Rom&nbsp;I-VO (gegenüber Art.&nbsp;5(2) 1.&nbsp;Spiegelstrich EVÜ) folgt der Novellierung in Art. 15(1)(c) Brüssel&nbsp;I-VO (gegenüber Art.&nbsp;13(1) Nr. 3(b) EuGVÜ). <br />
<br />
Die „Ausrichtung“ auf den Verbraucherstaat ist noch im Einzelnen klärungsbedürftig – schließlich wurde das Tatbestandsmerkmal vom Gemeinschaftsgesetzgeber bewusst undefiniert und mit Blick auf noch unbekannte Vermarktungstechniken entwicklungsoffen gelassen. Dies gilt nicht nur bei der Rom&nbsp;I-VO, sondern auch im Fall der Brüssel&nbsp;I-VO, wo es zur Erfassung des Fernabsatzes erstmals 2001 eingeführt wurde (s. zu Art.&nbsp;15(1)(c) unten 4). Die Parallelität führt zu besagtem begünstigenden Gleichlauf zwischen IPR und IZPR: Verbraucher können vor den Gerichten ihres Aufenthaltsstaats unter Anwendung ihres Sachrechts klagen. Das ist als billiger Interessenausgleich zu begrüßen: Der Unternehmer kann die Anwendung von bestimmten Rechtsordnungen durch die Ausrichtung seiner Tätigkeit vermeiden. Dem Verbraucher wird aber das [[Zwingendes Recht (Regelungsstrukturen)|zwingende Recht]], dem er prinzipiell vertraut, nicht entzogen. <br />
<br />
Erforderlich für die Sonderanknüpfung durch „Ausrichtung“ ist ein bewusstes und zielgerichtetes Ergreifen von absatzfördernden Maßnahmen in Richtung auf den Aufenthaltsstaat des Verbrauchers.&nbsp;Unzureichend ist dagegen die reine Zugänglichmachung einer Internetseite. So verhält es sich etwa mit einer an alle Welt gerichteten Seite mit Produktinformation, die aber für den Verkauf auf Vertriebshändler oder Handelsvertreter verweist. Vielmehr muss die Internetseite auch den Vertragsabschluss im Fernabsatz anbieten (z.B. Fax) und der Abschluss hat hierüber zu erfolgen.'' ''<br />
<br />
Dabei soll die auf einer Internetseite benutzte Sprache oder die Währung keine Relevanz haben (Gemeinsame Erklärung von Rat und Parlament zu Brüssel I, Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts 2001, 259, 261; wiederholt in Erwägungsgrund&nbsp;24 der Rom&nbsp;I-VO). Dies macht aber bei international selten verwendeten Sprachen kaum Sinn. Allerdings beschränkt sich das Merkmal nicht nur auf Internet-Sachverhalte. Erfasst sind beispielsweise auch alle Arten der Werbung (die schon die beiden Vorgängerrechtsakte ausdrücklich erwähnten). Dazu zählen auch Zeitungsanzeigen, speziell versandte Kataloge und Angebote durch Vertreter (EuGH Rs.&nbsp;C-96/00 – ''Gabriel'', Slg. 2002, I-6367, Rn.&nbsp;44). Schließlich gilt für beide Verordnungen selbstverständlich: Der Vertrag muss im Rahmen dieser Tätigkeit überhaupt geschlossen worden sein.<br />
<br />
Art.&nbsp;5(2) EVÜ erlaubt die ''[[Rechtswahl]] ''auch im b2c-Bereich. Bis zuletzt war unter den Mitgliedstaaten und im Europäischen Parlament umstritten, ob daran festgehalten werden sollte. Die verabschiedete Verordnung hält – auf Drängen Deutschlands und Luxemburgs – an der Parteiautonomie fest: nach Art.&nbsp;6(2) i.V.m. Art.&nbsp;3 Rom&nbsp;I-VO ist die Rechtswahl weiterhin zulässig. Nun kann auch künftig auf Grundlage von Klauselwerken das unternehmerseitige Recht zur Anwendung kommen. Damit soll eine übermäßige Belastung von kleinen und mittelständischen Anbietern verhindert werden. Die Rechtswahlvereinbarung muss dabei – wie stets – ausdrücklich erfolgen oder sich eindeutig aus den Bestimmungen des Vertrages oder aus den Umständen des Falles ergeben (Art.&nbsp;3(1) Rom&nbsp;I-VO). <br />
<br />
Jedoch bleiben zum Schutz des Verbrauchers die zwingenden verbraucherbegünstigenden Vorschriften seines Aufenthaltstaates bestehen. Dies gilt beispielsweise für eine nationale Gewährleistungsfrist, die zwingend über diejenige nach der Verbrauchsgüterkauf-RL (RL&nbsp;1999/44, [[Verbrauchsgüterkauf]]) hinausgeht. Damit finden im Fall der Rechtswahl weiterhin (und wie auch zum Schutz des Arbeitnehmers bei Art.&nbsp;8 Rom&nbsp;I-VO) zwei Rechtssysteme Anwendung: insgesamt das gewählte nationale oder auch nicht-staatliche Recht, das ergänzt wird um das zwingende verbrauchereigene Schutzrecht. Wenn jedoch die gewählte und die abbedungene Rechtsordnung denselben Gegenstand unterschiedlich zwingend regeln, wird auch weiterhin ein Günstigkeitsvergleich erforderlich. <br />
<br />
Ist danach das gewählte Recht für den Verbraucher vorteilhafter als sein eigenes, kann der Verbraucher sogar von der Rechtswahl profitieren. Angesichts dieses „Rosinenpickens“ ist eine Rechtswahlklausel für den Unternehmer auch weiterhin recht unattraktiv. Bei Obsiegen des Verbrauchers nach eigenem Recht unterlassen die Gerichte den schwer handhabbaren Günstigkeitsvergleich meist: Wegen der Vorteile des Gleichlaufs von anwendbarem Recht und Gerichtsstand wendet das Gericht wohl recht häufig forumeigenes Recht an und übergeht die Rechtswahl.<br />
<br />
Liegt keine Rechtswahl vor, kommt es zur objektiven Anknüpfung. Abweichend von Art.&nbsp;4 EVÜ bzw. der Rom&nbsp;I-VO (in Deutschland Art.&nbsp;28 EGBGB) ist dabei nicht das Recht des Staates mit der engsten Verbindung einschlägig, sondern gemäß der erläuterten Voraussetzung diejenige Rechtsordnung, in der der Verbraucher seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Dabei muss es sich nicht um einen Mitgliedstaat der EU handeln, auch wenn der Entwurf (KOM(2005) 650 endg.) irrtümlicherweise gerade keine allseitige Kollisionsnorm vorsah.<br />
<br />
=== b) Richtlinienkollisionsrecht ===<br />
Fünf jüngere Verbrauchervertragsrichtlinien enthalten Beschränkungen für den Fall der Rechtswahl eines Nichtmitgliedstaates. Dies ist auf die Kompetenz zur Verwirklichung des Binnenmarktes durch Rechtsharmonisierung gestützt (und darum außerhalb von EVÜ bzw. der Rom I-VO). Solche IPR-Klauseln finden sich in Art. 6(2) Klausel-RL (RL 93/13), Art. 9 Timesharing-RL (RL 94/47), Art. 12(2) Fernabsatz-RL (RL 97/7), Art. 7(2) Verbrauchsgüterkauf-RL und Art. 12(2) Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen (RL 2002/65). Hiernach ist bei Vereinbarung von Drittstaatenrecht die Einhaltung des Richtlinienrechts sicherzustellen, wenn der Vertrag einen „engen Zusammenhang“ mit dem Gebiet der Mitgliedstaaten aufweist. Die dazu „erforderlichen Maßnahmen“ haben die EU-Staaten und (auf Grundlage des EWR-Abkommens) auch die anderen EWR-Mitglieder zu treffen.<br />
<br />
Deutschland ist den kollisionsrechtlichen Umsetzungsaufträgen in Form des zusammenfassenden Art.&nbsp;29a EGBGB nachgekommen. Der zweite Absatz der im Jahr 2000 geschaffenen Sonderanknüpfung enthält ein Regelbeispiel für den geforderten „engen Zusammenhang“. Anzunehmen ist er, wenn der Vertrag auf Grund eines öffentlichen Angebots, einer öffentlichen Werbung oder einer ähnlichen geschäftlichen Tätigkeit zustande kommt, die in einem EU- oder EWR-Staat entfaltet wird und der andere Teil seinen gewöhnlichen Aufenthalt bei Abgabe seiner Vertragserklärung in eben diesem Raum hat. <br />
<br />
Gleichgültig ist insoweit, wo der Verbraucher seine Willenserklärung abgegeben hat (etwa ob im Heimatland oder am Urlaubsort in EU/EWG oder im Drittland). Anerkannte Bewertungskriterien für die Annahme eines bestimmten Näheverhältnisses sind die Nationalität, der Firmensitz oder die Niederlassung des Verwenders, verwendete Sprache, Ort des Vertragsabschlusses, Erfüllungsort der Leistungen oder die Belegenheit des Leistungsgegenstandes. Bedenklicherweise ist ein Günstigkeitsvergleich nach der deutschen Umsetzung nicht ausdrücklich vorgesehen. <br />
<br />
Europaweit ist umstritten, ob und inwieweit etwa die Haustürwiderrufs-RL (RL 85/577, [[Haustürgeschäfte]]) und Produkthaftungs-RL (RL 85/374, [[Produkthaftung]]) sowie das [[Herkunftslandprinzip]] in Art.&nbsp;3(1) E-Commerce-RL (RL&nbsp;2000/31) ungeschriebenerweise kollisionsrechtlichen Gehalt entfalten. Künftig ist insbesondere hier auch Art.&nbsp;3(4) Rom&nbsp;I-VO zu beachten, zumal Art.&nbsp;23 i.V.m. Anhang I der Rom&nbsp;I-VO die Verbraucherrichtlinien nicht als vorrangig aufführt.<br />
<br />
== 4. Forumsfragen – Art. 15-17 Brüssel I-VO ==<br />
Die Bestimmung des internationalen – und im Fall des Art.&nbsp;16(1) 2.&nbsp;Alt. Brüssel&nbsp;I-VO auch örtlichen – Verbrauchergerichtsstandes unterliegt bei grenzüberschreitenden Zivilverfahren mit Art. 15-17 Brüssel&nbsp;I-VO seit 1.3.2002 dem Gemeinschaftsrecht. Im Verhältnis zur Schweiz, Island und Norwegen gilt das LugÜ, das entsprechend der Brüssel&nbsp;I-VO reformiert wird.<br />
<br />
Wie bei sämtlichen Rechtsakten bestehen weitreichende Ausnahmen vom Grundsatz des Beklagtenwohnsitzes, wie er vor allem in Art.&nbsp;2(1) Brüssel&nbsp;I-VO festgeschrieben ist: Bei Aktivprozessen des Verbrauchers hat er das Wahlrecht zwischen dem Gerichtsstand an seinem Wohnort und dem seines Vertragspartners (Art.&nbsp;16(1) 1. und 2.&nbsp;Alt. Brüssel&nbsp;I-VO). Dabei wird er meist den Klägergerichtstand wählen. Klagt dagegen ein Unternehmer, kann er seine Klage allein im Wohnsitzstaat des Verbrauchers anstrengen (Art.&nbsp;16(2) Brüssel&nbsp;I-VO). Maßgeblich ist der Zeitpunkt der Klageerhebung.<br />
<br />
Zugunsten des Verbrauchers wird der räumlich-persönliche Anwendungsbereich seines Klägergerichtsstands entscheidend erweitert: Nach Art.&nbsp;15(2) Brüssel&nbsp;I-VO unterliegen ihm auch Anbieter aus Drittstaaten, sofern sie eine Zweigniederlassung, Agentur oder sonstige Niederlassung in der Gemeinschaft unterhalten. Dies stellt eine Teilausnahme von der ansonsten auch beim Schutzgerichtsstand geltenden territorialen Einschränkung in Art.&nbsp;4(1) Brüssel&nbsp;I-VO dar, wonach der Beklagte seinen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat haben muss. Zu beachten ist auch der besondere Gerichtsstand der Niederlassung nach Art.&nbsp;5 Nr.&nbsp;5 Brüssel&nbsp;I-VO (so Art.&nbsp;15(1) Brüssel&nbsp;I-VO).<br />
<br />
Zum ''sachlichen ''Anwendungsbereich: Eine Herausnahme von außerhalb des Aufenthaltsstaates des Verbrauchers erbrachten Dienstleistungen kennt die Brüssel&nbsp;I-VO nicht. (Dies sollte auch die Rom&nbsp;I-VO nachvollziehen.) Denn Art.&nbsp;15(1)(c) Brüssel&nbsp;I-VO schafft im Zusammenhang mit dem „Ausrichten“ auch sachlich einen weiten Auffangtatbestand. (Dort heißt es „in allen anderen Fällen“, wohingegen sich Art.&nbsp;13(1) Nr.&nbsp;1 EuGVÜ auf Dienstleistungs- und Lieferverträge beschränkt.) Dementsprechend vorrangig sind die nur historisch zu erklärenden Vertragskategorien des Art.&nbsp;15(1)(a) und (b), also Kaufverträge von beweglichen Sachen auf Teilzahlung sowie Kreditverträge, sofern sie zur Finanzierung eines Kaufs derartiger Sachen bestimmt sind.<br />
<br />
Allerdings gilt der verbraucherrechtliche Abschnitt der Brüssel&nbsp;I-VO gemäß dessen Art.&nbsp;15(3) nicht für Beförderungsverträge, mit Ausnahme von Reiseverträgen, die für einen Pauschalpreis kombinierte Beförderungs- und Unterbringungsleistungen vorsehen. Vorrangig sind auch die Vorschriften für Versicherungssachen (Art.&nbsp;8-14 Brüssel&nbsp;I-VO) und für ausschließliche Zuständigkeiten, etwa für die Miete von unbeweglichen Sachen (Art.&nbsp;22 Brüssel&nbsp;I-VO).<br />
<br />
Zum ''situativen ''Anwendungsbereich: Nach Art. 16(1)(c) 1. Alt. Brüssel I-VO handelt es sich um eine Verbrauchersache, wenn der Unternehmer seine berufliche oder gewerbliche Tätigkeit im Verbraucherstaat ausübt. Ansonsten muss aber als 2. Alternative das „Ausrichten“ der unternehmerischen Tätigkeit auf den Staat des Verbrauchers vorliegen, das schon zu Art. 6 Rom I-VO näher erläutert wurde (s.o. 3.a). Wiederum muss der Vertrag natürlich in den Bereich der betriebenen oder ausgerichteten Tätigkeit fallen. Ebenfalls kommt es nicht mehr auf den Ort der Vornahme der Rechtshandlungen an.<br />
<br />
Eine ''[[Gerichtsstandsvereinbarung, internationale|Gerichtsstandsvereinbarung]]'' ist bei Verbrauchersachverhalten weitgehend verboten und nur nach Maßgabe der Art.&nbsp;17 Brüssel&nbsp;I-VO möglich (so Art.&nbsp;23(5) Brüssel&nbsp;I-VO). Wirksam sind solche Vereinbarungen allenfalls, wenn sie nach Entstehung der Streitigkeit getroffen wurden oder sie dem Verbraucher ermöglichen, weitere Gerichte anzurufen; ferner unter besonderen Umständen, wenn der Verbraucher nach Vertragsschluss seinen Wohnsitz wechselt. Zu beachten sind die Formvorschriften des Art.&nbsp;23 Brüssel&nbsp;I-VO, insbesondere das Schrifterfordernis. Die Vorschrift schließt eine weitere Missbrauchskontrolle, etwa auf Basis der Klausel-RL, nicht aus.<br />
<br />
Art.&nbsp;24 Brüssel&nbsp;I-VO sieht zwar die Heilung eines Zuständigkeitsmangels durch rügelose Einlassung vor. Auf Grundlage der Klausel-RL hat der EuGH allerdings in Rs. C-240/98 bis 244/98 – ''Océano Grupo'', Slg. 2000, I-4941 entschieden, eine unwirksame Schiedsklausel führe selbst dann zur Aufhebung eines gegen den Verbraucher ergangenen Schiedsspruchs, wenn die Nichtigkeit nicht im Schiedsverfahren selbst geltend gemacht wurde. <br />
<br />
Ein Fehlen der verbraucherrechtlichen Zuständigkeit führt zudem – abweichend von der Grundregel in Art.&nbsp;35(3) Brüssel&nbsp;I-VO – zur Versagung der [[Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen]], denn eine Gerichtskontrolle über die Zuständigkeit der Gerichte des Ursprungsmitgliedstaats hat insoweit weiterhin zu erfolgen (Art.&nbsp;35(1) Brüssel&nbsp;I-VO).<br />
<br />
== Literatur==<br />
''Jürgen Basedow'', Internationales Verbrauchervertragsrecht, in: Festschrift für Erik Jayme, Bd.&nbsp;I, 2004, 3&nbsp;ff.; ''Jan Kropholler'', Europäisches Zivilprozessrecht, 8.&nbsp;Aufl. 2005, Art.&nbsp;15&nbsp;ff.; ''Felix Blobel'', ''Hannes Rösler'', Internationale Zuständigkeit und anwendbares Recht bei Gewinnmitteilungen aus dem Ausland, Juristische Rundschau 2006, 441 ff.; ''Peter Mankowski'', Art.&nbsp;5 des Vorschlags für eine Rom&nbsp;I-Verordnung, Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft 105 (2006) 120 ff.; ''Hannes Rösler'', ''Verena Siepmann'', Der Beitrag des EuGH zur Präzisierung von Art.&nbsp;15&nbsp;I EuGVO, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2006, 76&nbsp;ff.; ''idem'', Gerichtsstand bei gemischt privat-gewerblichen Verträgen nach europäischem Zivilprozessrecht, Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht 2006, 497&nbsp;ff.; ''Ansgar Staudinger'', Art.&nbsp;15-17 Brüssel&nbsp;I-VO, in: Thomas Rauscher (Hg.), Europäisches Zivilprozessrecht, Bd.&nbsp;1, 2.&nbsp;Aufl. 2006; ''Max Planck Institute for Comparative and International Private Law'', Comments on the European Commission’s Proposal for a Regulation of the European Parliament and the Council on the law applicable to contractual obligations (Rome&nbsp;I), Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationals Privatrecht 71 (2007) 225, 267&nbsp;ff.; Art. 15-17, ''Jonathan Hill'', Cross-Border Consumer Contracts, 2008; ''Norbert Reich'', Kap.&nbsp;7: Cross-Border Consumer Protection, Kap.&nbsp;8: Legal Protection of Individual and Collective Consumer Interests, in: Hans-W. Micklitz, Norbert Reich, Peter Rott, Understanding EU Consumer Law, 2009.<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Consumer_Contracts_(PIL)]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Sozialpartnervereinbarung&diff=1735Sozialpartnervereinbarung2021-09-08T10:47:50Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Abbo Junker]]''<br />
== 1. Geschichte und Entwicklung ==<br />
Die von ''Jacques Delors'' entwickelte Idee des sozialen Dialogs wurde am 31.1.1985 durch die Initiierung eines Sozialen Dialogs auf dem Brüsseler Schloss Val Duchesse erstmals umgesetzt und im Jahre 1987 in Art. 118b&nbsp;EG i.d.F. der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) verankert. Art.&nbsp;118b verpflichtete die Kommission, sich darum zu bemühen „den Dialog zwischen den Sozialpartnern auf europäischer Ebene zu entwickeln“; dabei konnten vertragliche Beziehungen ein Ergebnis des Dialogs sein. Bei der Maastrichter Regierungskonferenz von 1991 sollte eine Erweiterung der sozialpolitischen Kompetenzen im Wege einer Änderung des [[EG-Vertrag]]es erfolgen. Allerdings sperrte sich das Vereinigte Königreich gegen jegliche Ausdehnung sozialrechtlicher Kompetenzen. Dieserhalb wurde dem – weiterhin unveränderten – EG-Vertrag ein Protokoll über die Sozialpolitik beigefügt, das zu einem „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ führte. Das Protokoll nahm Bezug auf ein Abkommen zwischen den 11 Mitgliedstaaten der [[Europäische Gemeinschaft|Europäischen Gemeinschaft]] über die Sozialpolitik (AüS), das keine Geltung für das Vereinigte Königreich entfaltete. Dieses Abkommen stärkte nicht nur den sozialen Dialog, sondern bestimmte auch erstmals rechtlich die Rolle der Sozialpartner. Nach dem 1997 vollzogenen Regierungswechsel im Vereinigten Königreich gelang es am 2.10.1997, die Bestimmungen des AüS fast wortgleich in den Vertrag von Amsterdam zu übernehmen (Art.&nbsp;138&nbsp;f. EG). Mit dem Vertrag von Nizza wurde die Liste der Gebiete (Art.&nbsp;137 EG/153 AEUV), in denen die Gemeinschaft zur Verwirklichung der sozialen Ziele (Art. 136 EG/151, 152 AEUV) tätig werden kann, ergänzt.<br />
<br />
== 2. Arten des sozialen Dialogs ==<br />
Nach Artikel 137&nbsp;ff. EG/153&nbsp;ff AEUV werden vier Typen des Sozialdialogs unterschieden. Zum informellen Sozialdialog zählen vielfältige Willensbekundungen der Beteiligten, wie beispielsweise Mitteilungen der [[Europäische Kommission|Europäischen Kommission]]. Die Beteiligung der Sozialpartner im Rahmen von Anhörungen und die Förderung des Dialogs zwischen den Sozialpartnern nach Art.&nbsp;138 EG/154 AEUV erfolgt im Rahmen des vertikalen institutionellen Sozialdialogs. Im Bereich des horizontalen institutionellen Sozialdialogs werden die Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern getroffen, die im Wege des legislativen Sozialdialogs dann Bestandteil des Gemeinschaftsrechts oder des nationalen Rechts werden können. Auch werden hier Stellungnahmen der Sozialpartner formuliert. Der legislative Dialog erfolgt im Rahmen der Art.&nbsp;138(2)-(4) und 139 EG/154(2)-(4) und 155 AEUV und ist Bestandteil des Gesetzgebungsverfahrens der Gemeinschaft.<br />
<br />
== 3. Europäische Sozialpartner ==<br />
Weder in Art.&nbsp;138, 139 EG/154, 155 AEUV noch an anderer Stelle, sagt das Gemeinschaftsrecht, wer Sozialpartner des sozialen Dialogs ist. Betrachtet man die Entstehungsgeschichte, haben sich im Bereich von branchenübergreifenden Aktivitäten die europäischen Dachverbände als bislang vorrangige Gesprächspartner der Gemeinschaft etabliert. Auf Arbeitgeberseite sind dies die Europäische Vereinigung der Arbeitgeber- und Industrieverbände (UNICE) und der Europäische Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft (CEEP) und auf Arbeitnehmerseite der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB). Im branchenbezogenen oder sektoralen Bereich gibt es eine Vielzahl von Fachverbänden und &#8209;gewerkschaften. Nach der Rechtsprechung des [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] existiert allerdings kein Recht der Sozialpartner auf Beteiligung der Sozialpartner nach Art.&nbsp;138(2) EG/154(2) AEUV, was auf die anderen Beteiligungsrechte der Sozialpartner übertragbar sein dürfte. Für die Anhörungsteilnahme nach Art.&nbsp;138(3) EG/154(3) AEUV hat der [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] in der Mitteilung der [[Europäische Kommission|Europäischen Kommission]] KOM(93) 600 endg. verschiedene Bedingungen aufgestellt.<br />
<br />
== 4. Beteiligungsrechte der Sozialpartner ==<br />
Nach Art.&nbsp;138(1) EG/154(1) AEUV hat die Kommission die Aufgabe, die Anhörung der Sozialpartner auf Gemeinschaftsebene zu fördern, und erlässt alle zweckdienlichen Maßnahmen, um den Dialog zwischen den Sozialpartnern zu erleichtern, wobei sie für Ausgewogenheit bei der Unterstützung der Parteien sorgt. Diese allgemeine Aufgabe wird durch verschiedene Beteiligungsrechte konkretisiert.<br />
<br />
=== a) Anhörungsrechte ===<br />
Nach Art.&nbsp;138(2) und (3) EG/154(2) und (3) AEUV hat die Kommission vor Unterbreitung von Vorschlägen im Bereich der Sozialpolitik die Sozialpartner anzuhören. Die Sozialpartner können von dem Anhörungsrecht durch Übermittlung einer Stellungnahme oder einer Empfehlung an die Kommission Gebrauch machen (Art.&nbsp;138(3) EG/154(3) AEUV). Die Sozialpartner können aber auch von der Möglichkeit des Art.&nbsp;138(4) EG/154(4) AEUV Gebrauch machen und der Kommission mitteilen, dass sie den Prozess nach Art.&nbsp;139 EG/155 AEUV in Gang setzen wollen.<br />
<br />
=== b) Rechtsetzungskompetenz ===<br />
Der soziale Dialog nach Art.&nbsp;138(4), 139 EG/154(4), 155 AEUV eröffnet die Beteiligung der Sozialpartner an der europäischen Rechtsetzung in zweifacher Weise. Hat die Kommission bereits die Initiative ergriffen, können sie nach Art.&nbsp;138 (4) EG/154(4) AEUV in der Zweiten Konsultationsphase das Gesetzgebungsverfahren an sich ziehen. Zweitens können die europäischen Sozialpartner nach Art.&nbsp;139(1) EG/155(1) AEUV von sich aus die Initiative ergreifen und den Abschluss einer Vereinbarung über einen Gegenstand der europäischen Gesetzgebung anstreben.<br />
<br />
Die Umsetzung der von den Sozialpartnern geschlossenen Vereinbarung ist, soweit sie nicht durch die Sozialpartner selbst nach dem jeweiligen nationalen Tarifvertragsrecht oder durch den Mitgliedstaat selbst erfolgt (Art.&nbsp;139(2) 1.&nbsp;Alt. EG/155(2) 1.&nbsp;Alt. AEUV), auf gemeinsamen Antrag der Sozialpartner durch einen Beschluss des Rates auf Vorschlag der Kommission möglich, soweit der Gegenstand vom Regelungsbereich des Art.&nbsp;137 EG/153 AEUV erfasst wird (Art. 139(2) 2.&nbsp;Alt. EG/155(2) 2.&nbsp;Alt. AEUV).<br />
<br />
Die Regelung in Art.&nbsp;139(2) 1.&nbsp;Alt. EG/155(2) 1.&nbsp;Alt. AEUV zeigt, dass die Vereinbarung nach Art.&nbsp;139(1) EG/155(1) AEUV auf einen zweiaktigen Rechtsschöpfungsvorgang angewiesen ist und eine bloß politische, rechtlich aber unverbindliche Vorgabe mit empfehlendem Charakter für die Umsetzungsorgane darstellt. Nur die am Abschluss der Vereinbarung Beteiligten sind an den Inhalt gebunden, nicht aber die Sozialpartner auf mitgliedstaatlicher Ebene oder gar die Mitgliedstaaten selber. Auch wird durch Art. 139(1) EG/155(1) AEUV nicht die Setzung normativer Regelungen, d.h. die Basis für den Abschluss europäischer Tarifverträge ermöglicht. Unmittelbare Wirkung entfaltet der Inhalt der Vereinbarung erst durch nationales Kollektivvertragsrecht oder normative Rechtsakte der zuständigen Gesetzgebungsorgane.<br />
<br />
Die Durchführung der Vereinbarung nach Art.&nbsp;139(1) EG/155(1) AEUV durch Beschluss des Rates nach Art.&nbsp;139(2) 2.&nbsp;Alt. EG/155(2) 2.&nbsp;Alt. AEUV stellt die europarechtliche Transformation der Vereinbarung dar. Im Gegensatz zur Umsetzung seitens der Sozialpartner oder der Mitgliedstaaten (Art.&nbsp;139(1) 1.&nbsp;Alt. EG/155(1) 1.&nbsp;Alt. AEUV) ist eine Transformation durch Ratsbeschluss nur bei Vereinbarung in den durch Art.&nbsp;137 EG/153 AEUV erfassten Bereichen möglich. Zu beachten ist Art.&nbsp;137(5)/153(5) AEUV, wonach sich Vereinbarungen nicht auf das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht sowie das Aussperrungsrecht beziehen können. Der Rat beschließt bei der Umsetzung der Vereinbarungen mit qualifizierender Mehrheit, es sei denn, die Vereinbarung betrifft einen Bereich des Art.&nbsp;137(3) EG/153(3) AEUV; dann ist ein einstimmiger Beschluss des Rates erforderlich. Die Rechtsnatur des Ratsbeschlusses nach Art.&nbsp;139 (2) EG/155(2) AEUV ist vielfach diskutiert worden. Nach bisheriger Praxis hat der Beschluss nach Systematik, Sinn und Zweck des Art.&nbsp;139(2) Richtliniencharakter. Verfahrensrechtlich sind der gemeinsame Antrag der Unterzeichnerparteien der Vereinbarung und der Vorschlag der Kommission erforderlich.<br />
<br />
=== c) Durchführungskompetenz ===<br />
Nach Art.&nbsp;137(3) EG/153(3) AEUV kann ein Mitgliedstaat den Sozialpartnern auf deren gemeinsamen Antrag hin die Durchführung von aufgrund des Art.&nbsp;137(2) EG/153(2) AEUV angenommenen [[Richtlinie]]n übertragen. Der Mitgliedstaat vergewissert sich in diesem Fall, dass die Sozialpartner spätestens bis zu dem Zeitpunkt, zu dem eine Richtlinie nach Art.&nbsp;249 EG/288 AEUV umgesetzt sein muss, im Wege einer Vereinbarung die erforderlichen Vorkehrungen getroffen haben. Damit die durch die Richtlinie vorgeschriebenen Ergebnisse erzielt werden, muss der Mitgliedstaat notfalls selber tätig werden. In Deutschland wurde von Art.&nbsp;137(3)/153(3) AEUV bisher noch nicht Gebrauch gemacht.<br />
<br />
=== d) Kritik am sozialen Dialog ===<br />
Im Fokus der Kritiker ist die von ihnen so genannte „parlamentsersetzende Funktion“ des sozialen Dialogs, die mit dem Demokratieprinzip unvereinbar sein soll. Kritiker befürworten eine teleologische Reduktion des Art.&nbsp;139 EG/155 AEUV in der Weise, dass auch bei der Rechtsetzung nach dieser Vorschrift das Europäische Parlament gemäß den Vorgaben des Art.&nbsp;137 EG/153 AEUV zu beteiligen ist. Die institutionsrechtliche und die rechtspolitische Kritik an der Beteiligung der Sozialpartner im sozialen Dialog sind nicht berechtigt; die Mitwirkung ist vielmehr ein legitimes Element gemeinschaftlicher Sozialpolitik.<br />
<br />
=== e) Autonomie der Sozialpartner ===<br />
Die gewünschte Wirkung des sozialen Dialogs – Sachnähe, Effizienz und Akzeptanz – kann nur erzielt werden, wenn er sich in uneingeschränkter Autonomie der Sozialpartner vollzieht. In Verlautbarung der Kommission wird das Nichteinmischungsprinzip auch mehr oder weniger akzeptiert. Von der herrschenden Meinung wird ein allgemeiner Vorrang des sozialen Dialogs vor Regelungen durch den Gemeinschaftsgesetzgeber, der auch späteren Änderungen einer Sozialpartnervereinbarung durch den Gemeinschaftsgesetzgeber entgegenstünde, allerdings abgelehnt. Es ist somit wichtig, rechtspolitisch die zentrale Rolle der Sozialpartner für das europäische Arbeitsrecht zu betonen und das Bewusstsein für die Notwendigkeit eines von Kommissionsaktivitäten unbeeinflussten sozialen Dialogs zu schärfen.<br />
<br />
== 5. Richtlinien aufgrund von Sozialpartnervereinbarungen ==<br />
In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre hat der Rat der Europäischen Gemeinschaft ([[Rat und Europäischer Rat]]) verschiedene Richtlinien erlassen, die aus dem in Art.&nbsp;138(4), 139 EG/154(4), 155 AEUV geregelten sozialen Dialog hervorgehen. Drei Rahmenvereinbarungen der Sozialpartner sind so in sekundäres Gemeinschaftsrecht umgesetzt worden, und zwar über den Elternurlaub, die Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge. Hinzu kommen Vereinbarungen – z.B. über Telearbeit –, zu denen die Sozialpartner keine Umsetzung durch Ratsbeschluss beantragt haben, sowie eine größere Zahl sektoraler und branchenübergreifender Stellungnahmen.<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Christian Arnold'','' ''Die Stellung der Sozialpartner in der europäischen Sozialpolitik, Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht 2002, 1261&nbsp;ff.; ''Ursula Rust'', Art.&nbsp;98–188 EGV,'' ''in: Hans von der Groeben, Jürgen Schwarze (Hg.),'' ''Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Bd.&nbsp;3, 6.&nbsp;Aufl. 2003; ''Olaf Deinert'', Partizipation europäischer Sozialpartner an der Gemeinschaftsrechtssetzung, Recht der Arbeit 2004, 211&nbsp;ff.; ''Abbo Junker'', Die Zukunft des europäischen Arbeitsrechts, Recht der Internationalen Wirtschaft 2006, 721&nbsp;ff.; ''Maximilian Fuchs'','' Franz Marhold'', Europäisches Arbeitsrecht, 2.&nbsp;Aufl. 2006; ''Gregor Thüsing'','' ''Europäisches Arbeitsrecht, 2008; ''Roland Schwarze'','' ''Sozialer Dialog im Gemeinschaftsrecht, Teil B 8100, in: Hartmut Oetker, Ulrich Preis (Hg.), Europäisches Arbeits- und Sozialrecht (EAS) (Loseblatt).<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Consultation_and_Agreements_between_Management_and_Work%E2%80%91Force]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Ankn%C3%BCpfung&diff=1733Anknüpfung2021-09-08T10:47:14Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Kurt Siehr]]''<br />
== 1. Begriff und Funktion ==<br />
Der Begriff „Anknüpfung“ ist ein Spezialausdruck des [[internationales Privatrecht|internationalen Privatrechts]] (IPR). Dem deutschen Begriff „Anknüpfung“ entsprechen ungefähr die Begriffe „connection“, „rattachement“ oder „connexion“, „collegamento“, „aanknoping“, „conexão“, „conexión“. Angeknüpft wird eine Rechtsfrage oder ein rechtlich erheblicher Sachverhalt (z.B. der Unterhalt) an einen Anknüpfungsfaktor (z.B. den gewöhnlichen Aufenthalt einer Person), um auf diese Weise das auf die Frage anzuwendende Recht (nämlich das Unterhaltsstatut) zu bestimmen. Durch eine Anknüpfung an einen bestimmten personalen oder lokalen oder rechtsgeschäftlichen Faktor zu einem bestimmten Zeitpunkt wird also das auf eine Frage anzuwendende Recht festgelegt. Jedoch spricht man auch im internationalen Zivilverfahrensrecht (IZVR) von Anknüpfung der Zuständigkeit an einen bestimmten Anknüpfungsfaktor wie etwa den Wohnsitz, den Erfüllungsort oder den Ort einer unerlaubten Handlung. Hier treten jedoch wegen dieser Anknüpfung weniger Probleme auf als im IPR.<br />
<br />
== 2. Anknüpfungsfaktor ==<br />
Angeknüpft wird an einen Faktor, einen Anknüpfungsfaktor (connecting factor, facteur ou catégorie de rattachement, criterio di collegamento, elemento de conexão, punto de conexión), der entweder personal oder lokal ausgerichtet ist. Die personalen Anknüpfungsfaktoren (auch Anknüpfungsmomente, Anknüpfungspunkt oder Anknüpfungsbegriffe genannt) sind die Staats-, Gebiets-, Religions- und Stammeszugehörigkeit. Die lokalen oder territorialen Anknüpfungsfaktoren sind der Wohnsitz, der Sitz, der gewöhnliche Aufenthalt, der Ort, an dem gehandelt wird (locus actus oder locus delicti commissi) oder an dem eine Sache liegt (locus rei sitae), und der Ort des Gerichtsverfahrens (forum). Zu keiner dieser beiden Kategorien gehört die [[Rechtswahl]]. Hier wird ein Recht gewählt, das – von Ausnahmen einer beschränkten Rechtswahl abgesehen – keine personale oder lokale Beziehung zum Gegenstand der Rechtswahl (z.B. Vertrag) zu haben braucht. <br />
<br />
== 3. Anknüpfungspersonen ==<br />
Bei vielen Verweisungsnormen muss angegeben werden, auf welche Person es bei der Anknüpfung ankommen soll, auf den Ehemann, die Ehefrau oder beide Ehegatten, auf den Täter oder das Opfer einer unerlaubten Handlung oder auf den Beklagten statt des Klägers.<br />
<br />
== 4. Anknüpfungszeitpunkt ==<br />
Für die Bestimmung des anwendbaren Rechts ist es wichtig zu wissen, in welchem Zeitpunkt eine Anknüpfung erfolgt, z.B. an den gewöhnlichen Aufenthalt der Ehegatten im Zeitpunkt der Eheschließung (so für die Ehehindernisse), im jeweiligen Zeitpunkt (z.B. für den Unterhalt) oder im Zeitpunkt ihres Todes (z.B. für die Erbfolge). Hieraus wird deutlich, dass es zwei verschiedene Anknüpfungszeitpunkte gibt, eine feste ''unwandelbare'' Anknüpfung in einem bestimmten festgelegten Zeitpunkt und eine ''wandelbare'' Anknüpfung im jeweiligen Zeitpunkt. <br />
<br />
a)&nbsp;Bei der'' unwandelbaren'' Anknüpfung ist eine spätere Änderung des Anknüpfungsfaktors (z.B. gewöhnlicher Aufenthalt oder Staatsangehörigkeit) unerheblich. Ein Statutenwechsel ist belanglos. So wird etwa ein Vertrag im Zeitpunkt des Vertragsschlusses angeknüpft, und zwar – wenn die Vertragsparteien in ihrem Vertrag keine Rechtswahl getroffen haben – an den gewöhnlichen Aufenthalt der charakteristisch leistenden Vertragspartei. Ändert diese Person später ihren gewöhnlichen Aufenthalt, berührt dies nicht das einmal festgelegte Vertragsstatut. Das Vertragsstatut ändert sich erst, wenn später die Parteien gemeinsam ein neues Vertragsstatut wählen. <br />
<br />
b)&nbsp;Bei der ''wandelbaren ''Anknüpfung dagegen wird im jeweiligen Zeitpunkt angeknüpft. Das geschieht meistens bei außervertraglichen Dauerrechtsverhältnissen des Ehe- und Kindschaftsrechts. Beispiel ist Art.&nbsp;4(2) des Haager Unterhaltsübereinkommens von 1973, wonach beim Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts des Unterhaltberechtigten (an diesen Aufenthalt wird der Unterhaltsanspruch angeknüpft) „vom Zeitpunkt des Aufenthaltswechsels an das innerstaatliche Recht des neuen gewöhnlichen Aufenthalts anzuwenden“ ist. <br />
<br />
== 5. Unteranknüpfung ==<br />
Von einer Unteranknüpfung spricht man dann, wenn eine Anknüpfung deswegen noch nicht zu einem Ergebnis führt, weil die berufene Rechtsordnung ein persönlich oder räumlich gespaltenes Recht hat und es einer Unteranknüpfung bedarf, um die persönlich oder räumlich maßgebende Teilrechtsordnung zu bestimmen. Primär ist es Aufgabe der berufenen Rechtsordnung, durch interlokales und interpersonales Privatrecht die maßgebende Teilrechtsordnung festzulegen. Das sehen die Haager Übereinkommen vor (vgl. Art.&nbsp;46(a) und Art.&nbsp;47(a) des Haager Erwachsenenschutz-Übereinkommens vom 13.1. 2000) und auch nationale IPR-Gesetze (z.B. Art.&nbsp;4 Abs.&nbsp;3 S.&nbsp;1 EGBGB; Art.&nbsp;18 Abs.&nbsp;1 ital. IPR-Gesetz). Fehlt eine solche Regelung, muss das IPR des Forums die Unteranknüpfung vornehmen, und zwar nach dem Prinzip der engsten Verbindung. Maßgebend ist danach diejenige Teilrechtsordnung, mit der der Sachverhalt am engsten verbunden ist (so auch z.B. Art.&nbsp;47(b) des Haager Erwachsenenschutz-Übereinkommens vom 13.1.2000; Art.&nbsp;4 Abs.&nbsp;3 S.&nbsp;2 EGBGB, Art.&nbsp;18 Abs.&nbsp;2 ital. IPR-Gesetz). Eine dritte Methode, eine räumliche Rechtspaltung zu überwinden, findet sich in Art. 22 Abs. 1 Rom I-VO (VO&nbsp;593/2008). Danach gilt bei räumlicher Rechtspaltung in einem Staat, dessen Recht auf Verträge anwendbar ist, jede Gebietseinheit als Staat. <br />
<br />
== 6. Anknüpfungsarten ==<br />
Eine Anknüpfung kann sehr unterschiedlich ausgestaltet sein, Sie kann, wie meistens, sehr schlicht und einfach sein, aber außerdem noch konkret oder abstrakt generalisierend, primär oder subsidiär, alternativ oder kumulativ, singulär oder ubiquitär, dispositiv oder zwingend, autonom oder akzessorisch, wandelbar oder unwandelbar (s.o. 4.), objektiv oder subjektiv, personal oder lokal (s.o. 2.). <br />
<br />
a)&nbsp;''Konkret'' und nicht ''abstrakt generalisierend'' wird im allermeisten Fall angeknüpft. Der Anknüpfungsfaktor (z.B. gewöhnlicher Aufenthalt einer Person oder Lageort einer Sache) wird klar bezeichnet und nicht wie bei einer abstrakt generalisierenden Anknüpfung auf das Recht der engsten Verbindung (''closest connection'','' les liens plus étroits'','' collegamento più stretto'','' nauwste verbondenheid'','' vínculos más estrechos'') verwiesen. Eine solche abstrakt generalisierende Anknüpfung wird nur in drei Falltypen benutzt, nämlich zum Ersten als Vermutung mit einer darauf folgenden Konkretisierung der engsten Verbindung (z.B. §&nbsp;1 Abs.&nbsp;1 österr. IPR-Gesetz für das gesamte IPR; Art.&nbsp;117 Abs.&nbsp;1 schweiz. IPRG für das objektive Vertragsstatut), zum Zweiten als Hilfsanknüpfung (vgl. etwa Art.&nbsp;4(2)2 Rom&nbsp;I-VO) und schließlich als ''Ausnahmeklausel''<nowiki>, und zwar entweder ganz generell (z.B. Art.&nbsp;15 Abs.&nbsp;1 schweiz. IPRG) oder nur speziell für gewisse Anknüpfungsgegenstände (z.B. Art.&nbsp;4(3) Rom&nbsp;II-VO [VO&nbsp;864/2007]).</nowiki><br />
<br />
b)&nbsp;''Primär'' und nicht ''subsidiär'' wird meistens angeknüpft. Das maßgebende Statut wird ein für allemal festgelegt und nicht wie bei der subsidiären Anknüpfung davon abhängig gemacht, dass eine andere Anknüpfung zu keinem Ergebnis führt. Eine solche Situation gibt es dann, wenn der Gleichberechtigung von Eheleuten zuliebe primär an einen gegenwärtigen gemeinsamen Anknüpfungsfaktor (gemeinsamer gewöhnlicher Aufenthalt) angeknüpft wird und, wenn ein solcher fehlt, ''subsidiär ''an einen früheren gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt oder schließlich an eine gemeinsame engste Verbindung zu einer Rechtsordnung (vgl. etwa Art.&nbsp;14 Abs.&nbsp;1 Nr.&nbsp;3 EGBGB). <br />
<br />
c)&nbsp;Es gibt ''alternative'' und ''kumulative'' Anknüpfungen. Alternative Anknüpfungen wählen der Gesetzgeber und die Gerichtspraxis dann, wenn sie ein bestimmtes Ergebnis begünstigen wollen. So ist allgemein anerkannt (vgl. etwa Art.&nbsp;10(1) Rom&nbsp;I-VO), dass sich die Form eines Rechtsgeschäfts entweder nach dem Recht des Staates richtet, an dem das Rechtsgeschäft abgeschlossen worden ist (''lex loci'' ''actus''), oder nach dem Recht des Staates, dem der Vertrag inhaltlich untersteht (''lex causae''). – Eine ''kumulative'' Anknüpfung kommt verhältnismäßig selten vor, und zwar dann, wenn eine bestimmte Frage von mindestens zwei Rechtsordnungen positiv beantwortet werden muss, um bejaht werden zu können. Weltweit bekanntestes Beispiel war hierfür die englische Rechtsprechung zum internationalen Deliktsrecht nach dem Präjudiz ''Phillips v. Eyre'' (1870) mit der „double actionability rule for tort actions“, die seit 1995 für die meisten Delikte nicht mehr gilt (sec. 9&nbsp;ff. ''Private International Law (Miscellaneous Provisions) Act 1995''). Noch geltende Beispiele sind die Berufung des schwächeren Rechts (maßgebend sind die Wirkungen, die den beiden berufenen Rechtsordnungen gemeinsam sind) und die schweizerische Lösung des Rückgriffs gemäß Art.&nbsp;144 Abs.&nbsp;1 IPRG. ''Keine'' kumulative Anknüpfung liegt vor, wenn ''mehrere'' Fragen regulär an nur ''einen'' Faktor angeknüpft werden, aber nur ''alle'' Antworten zusammen eine Rechtswirkung entstehen lassen. Z.B. entfaltet ein Vertrag nur dann Wirkungen, wenn er nach dem Vertragsstatut wirksam ist, das Formstatut die Formgültigkeit bejaht und die Parteien nach ihrem Personalstatut handlungsfähig sind. Eine solche Kumulation bezieht sich auf verschiedene Teilfragen einer umfassenden Hauptfrage. <br />
<br />
d)&nbsp;Von einer ''ubiquitären'' Anknüpfung oder einer Ubiquitätstheorie spricht man dann, wenn bei einer Handlung mit Auswirkungen an mehreren Orten an jeden dieser Orte angeknüpft und die gesamte Handlung nach einem dieser Ortsrechte beurteilt wird (z.B. Art.&nbsp;5(1) Rom&nbsp;II-VO) oder sich rechtlichen Folgen der an jedem Ort spürbaren Teilwirkungen nach dem Recht des jeweiligen Ortes richten (Art.&nbsp;8(1) Rom&nbsp;II-VO). <br />
<br />
e)&nbsp;Eine Anknüpfung kann ''dispositiv ''oder ''zwingend ''sein. Dispositiv ist sie dann, wenn sie durch eine andere Anknüpfung ersetzt werden kann. Eine solche Ersetzung ist immer dann möglich, wenn die Parteien im Vertragsrecht, die Ehegatten im Ehegüterrecht oder im Erbrecht der Erblasser das primär durch gesetzliche Anknüpfung bestimmte objektive Statut durch ein Recht ihrer Wahl ersetzen dürfen. Diese Wahl ist entweder frei wie im Vertragsrecht oder beschränkt wie im Ehegüter- und Erbrecht. <br />
<br />
f)&nbsp;Von einer ''objektiven'' Anknüpfung spricht man dann, wenn die Anknüpfung ohne Rücksicht auf den Parteiwillen festgelegt wird und insofern im Gegensatz steht zu einer ''subjektiven'' Anknüpfung, nach der das anwendbare Recht durch die Parteien oder einseitig durch die Partei (z.B. Erblasser) gewählt werden kann. <br />
<br />
g)&nbsp;Die meisten Anknüpfungen sind ''autonom'', legen also selbständig das anzuwendende Recht fest. Im Gegensatz dazu steht die ''akzessorische'' Anknüpfung, die – wie z.B. in Art.&nbsp;133 Abs.&nbsp;3 schweiz. IPRG – das Deliktsstatut für unerlaubte Handlungen innerhalb einer vorbestehenden Sonderverbindung (z.B. Vertrag, Gesellschaft, Familie) dem Statut der jeweiligen Sonderverbindung unterstellt.<br />
<br />
== 7. Anknüpfung und ''dépeçage'' ==<br />
Von einer ''dépeçage'' spricht man dann, wenn eine bestimmte Teilfrage gesondert angeknüpft wird. Dies ist z.B. bei der Form der Fall. Um ein Rechtsgeschäft nicht an einem Formmangel scheitern zu lassen, wird die Form alternativ angeknüpft. Das erfordert also eine Trennung von Form und Inhalt. Das ist eine Frage der [[Qualifikation]], die grundsätzlich nach rechtsvergleichenden Auslegungsmaßstäben vorzunehmen ist, wobei auch das jeweilige Sachstatut zu Rate zu ziehen ist. Eine ähnliche Situation ergibt sich im Personenrecht dann, wenn die Geschäftsfähigkeit der betreffenden Person gesondert vom Geschäftsstatut anzuknüpfen ist. Hier ist eine Trennung von Geschäftsstatut und Geschäftsfähigkeit erforderlich.<br />
<br />
In früheren Zeiten gab es im internationalen Vertragsrecht die Unterscheidung zwischen dem Vertragsbindungsstatut und dem Vertragswirkungsstatut (große Vertragsspaltung), und bei dem Vertragswirkungsstatut unterschied man, ob ein Vertragspartner nach seinem Leistungsstatut (Anknüpfung des Leistungsstatuts an seine Leistung) zur Leistung verpflichtet war (kleine Vertragspaltung). Es gab also zwei Vertragswirkungsstatute. Diese Spaltungen sind heute überwunden. Vertragsbindung und Vertragswirkungen werden nach demselben Statut beurteilt und auch die Vertragswirkungen bestimmen sich für beide Parteien nach demselben Statut (vgl. Art.&nbsp;12 Rom&nbsp;I-VO).<br />
<br />
== 8. Anknüpfung und Qualifikation ==<br />
Um gewisse Fragen unter einen Anknüpfungsbegriff subsumieren zu können, braucht es eine bestimmte Form der Auslegung, die Qualifikation genannt wird. Soll z.B. die Frage, ob ein Fall der ''culpa in contrahendo'' vorliegt, unter Art.&nbsp;12 Rom&nbsp;II-VO subsumiert werden, so muss der Fall als ein solcher qualifiziert werden, der als ein auf außervertragliche Schuldverhältnisse aus Verhandlungen vor Abschluss eines Vertrages angesehen werden kann. Diese Art von [[Qualifikation]] wird unten gesondert behandelt werden. <br />
<br />
== 9. Anknüpfung von Vorfragen ==<br />
Bei Vorfragen ergibt sich eine Unsicherheit, nämlich die, nach welchen Maßstäben zu beurteilen ist, ob die Vorfrage gegeben ist oder nicht. Die Vorfrage wird vom anzuwendenden Recht aufgeworfen und muss nach diesem beantwortet werden. Wenn also das englische Recht für die Erbfolge maßgebend ist, muss dieses auch bestimmen, ob eine im Ausland vorgenommene Adoption eines Kindes nach englischem Recht wirksam und dem Kind ein Erbrecht nach englischem Recht gibt. Es hat wenig Sinn, diese Frage nach deutschem IPR zu behandeln, wenn die Erbfolge englischem Recht untersteht. <br />
<br />
Eine andere Behandlung kann sich dann ergeben, wenn die Vorfrage (hier die Wiederverheiratung von Eheleuten) nicht mit dem Grundsatz der Wiederverheiratung nach einer im Inland gültigen Scheidung vereinbar ist. Hier ist selbständig anzuknüpfen und die Eheschließung im Inland trotz der Ungültigkeit der Ehescheidung nach ausländischem Recht zuzulassen. <br />
<br />
== 10. Ergebnis der Anknüpfung ==<br />
Das Ergebnis einer Anknüpfung ist die Bestimmung eines anwendbaren Rechts. Die Anknüpfung verweist dabei entweder auf eine Rechtsordnung einschließlich des fremden IPR (sog. IPR-Verweisung oder Gesamtverweisung) oder unmittelbar auf das fremde Sachrecht (sog. Sachrechtsverweisung) einschließlich des eventuell bestehenden interlokalen und interpersonalen Privatrechts (s.o. 5. zur Unteranknüpfung), jedoch immer auch des fremden intertemporalen Privatrechts. Verwiesen wird nämlich immer (d.h. auch bei Anknüpfung an Merkmale der Vergangenheit) auf das im Zeitpunkt der heutigen Beurteilung geltende fremde Recht und diese bestimmt dann, ob bei einer zwischenzeitlichen Rechtsänderung altes oder neues Recht zur Anwendung kommt. Bei einer IPR-Verweisung wird eine Rück- oder Weiterverweisung (''[[Renvoi]]'') beachtet. <br />
<br />
Kommt das anzuwendende Recht zu einer Entscheidung, die unter keinen Umständen zu beachten ist, verstößt also das anzuwendende Recht gegen den ''[[ordre public]]'', so ist das Ergebnis der Rechtsanwendung entsprechend zu korrigieren.<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Wilhelm Wengler'','' ''Die Anknüpfung des zwingenden Schuldrechts im internationalen Privatrecht, Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft 54 (1941) 168&nbsp;ff.;'' Pierre Engel'','' ''La détermination des points de rattachement en droit international privé, 1953;'' Ivo Schwander'','' ''Lois d’application immédiate, Sonderanknüpfung, IPR-Sachnormen und andere Ausnahmen von der gewöhnlichen Anknüpfung im internationalen Privatrecht, 1975; ''Torger W. Wienke'','' ''Zur Anknüpfung der Vorfrage bei international-privatrechtlichen Staatsverträgen, 1977; ''Harald Baum'', Alternativanknüpfungen, 1985; ''Paolo Michele Patocchi'','' ''Règles de rattachement localisatrices et règles de rattachement à caractère sustantiel, 1985; ''Gerald C. Gonzenbach'','' ''Die akzessorische Anknüpfung, 1986; ''Frank Vischer'','' ''Connecting factors,'' ''in: IECL III, Kap.&nbsp;4, 1998; ''Roberto Baratta'','' ''Il collegamento piu stretto nel diritto internazionale privato dei contratti, 1991; ''Jan von Hein'','' ''Das Günstigkeitsprinzip im internationalen Deliktsrecht, 1999.<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Connecting_Factors_(PIL)]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Interessenkonflikte&diff=1731Interessenkonflikte2021-09-08T10:46:49Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Christoph Kumpan]]''<br />
== 1. Begriffsbestimmung ==<br />
<br />
Für den Begriff Interessenkonflikt hat sich bisher weder in der Rechtswissenschaft noch in benachbarten wissenschaftlichen Disziplinen, wie z.B. den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, ein einheitliches Verständnis herausgebildet. Eine sehr weite Fassung dieses Begriffs würde jegliches Aufeinandertreffen gegensätzlicher Interessen verschiedener Personen als Interessenkonflikt begreifen. Damit würden letztlich alle rechtlichen Beziehungen zwischen verschiedenen Personen umfasst, bei denen die Interessen der beteiligten Parteien einander offen gegenüberstehen und dieser Interessengegensatz der Transaktion notwendig inhärent ist. Hierzu gehören unter anderem gegenseitige Verträge, wie beispielsweise Kaufverträge, bei denen die eine Partei einen möglichst hohen, die andere hingegen einen möglichst niedrigen Preis anstrebt. In diesen Fällen ist der Interessengegensatz naturnotwendig in der jeweiligen Situation angelegt und die rechtlichen Regelungen darauf abgestimmt, den von den Parteien privatautonom zu vereinbarenden Ausgleich sicherzustellen. Ein weitergehendes einheitliches Regelungsregime ist für die Lösung dieser Konflikte nicht notwendig und auch nicht möglich, da jeder dieser so verstandenen Interessenkonflikte eine eigene spezifische Lösung erfordert.<br />
<br />
Besondere Regelungen verlangen jedoch solche Interessenkonflikte, wie sie beispielsweise bei Insichgeschäften von Vertretern, Eigengeschäften von Vorstandsmitgliedern oder bei Universalbanken, die gegensätzliche Kundeninteressen bedienen müssen, auftreten. Es handelt sich dabei um Konflikte von eigenen oder fremden Interessen mit anderen fremden Interessen, die innerhalb einer einzelnen Person bzw. Organisation aufeinander treffen und die gegensätzliches Handeln verlangen. Solche – enger verstandenen – Interessenkonflikte gehören zu den fundamentalen Problemstellungen der heutigen modernen Dienstleistungsgesellschaft. Angelegt sind sie in der wachsenden Komplexität der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Vorgänge, die zu einer immer stärkeren Spezialisierung und Arbeitsteilung führt. Immer mehr Aufgaben werden auf andere übertragen, und es wird immer schwieriger, diese zu kontrollieren. Oft fehlt es dem Einzelnen an Wissen, Zeit und/oder finanziellen Mitteln, um die für ihn tätigen Experten und spezialisierten Dienstleister angemessen zu überwachen. So ist er darauf angewiesen, sich auf diese Spezialisten zu verlassen. Diese nehmen regelmäßig von Berufs wegen fremde Interessen wahr und versprechen, ihre Dienstleistungen unter Zurückstellung eigener Interessen und unter Vermeidung einer unsachlichen Bevorzugung anderer fremder Interessen zu erbringen. Zu ihnen gehören z.B. Banken, Kommissionäre, Rechtsanwälte, Makler sowie Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder. Aber auch z.B. bei der Vormundschaft und bei der Testamentsvollstreckung sind Interessenkonflikte nicht ausgeschlossen.<br />
<br />
Fallkonstellationen für Interessenkonflikte sind hierbei insbesondere: (1)&nbsp;der Konflikt eigener und fremder Interessen; (2)&nbsp;die Kollision von gegensätzlichen Interessen verschiedener Dritter, die der jeweilige Interessenwahrer gleichermaßen zu wahren hat (meist als Pflichtenkollision bezeichnet). Diese können sowohl auf der (a)&nbsp;gleichen Marktseite auftreten als auch auf (b)&nbsp;gegensätzlichen Marktseiten. Besondere Situationen, die zwar auf den genannten Fällen basieren, aber dennoch Besonderheiten aufweisen sind (3)&nbsp;im Rahmen von Organisationen entstehende Interessenkonflikte.<br />
<br />
== 2. Rechtsentwicklungen ==<br />
<br />
Die Regelungen zu Interessenkonflikten (im engeren Sinne) sind in den letzten Jahren in vielen Rechtsgebieten Gegenstand weitreichender Entwicklungen geworden. So hat etwa die [[Europäische Union|EU]] im Bereich des Kapitalmarktrechts eine ganze Reihe von Vorschriften zur Regelung von Interessenkonflikten erlassen. Auch Internationale Organisationen, wie die OECD und die IOSCO haben sich in einzelnen Bereichen mit Interessenkonflikten und ihren Auswirkungen auseinandergesetzt und Vorschläge für deren Regelung unterbreitet. Allgemeine Regelungen für die Interessenkonflikte von Vertretern enthalten schließlich auch PECL, [[UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts|UNIDROIT PICC]] und DCFR (letzterer enthält darüber hinaus weitergehend Regelungen, wie z.B. für die Beratungssituation).<br />
<br />
Aufgrund der Umsetzung der von der EU erlassenen Richtlinien sind in den nationalen Rechtsordnungen zu den bisher existierenden Vorschriften vielfältige neue Interessenkonfliktsregelungen hinzugekommen. Die Regelungen zu Interessenkonflikten sind aufgrund dieser Entwicklung über viele verschiedene Gesetze und Rechtsgebiete verstreut, haben sich meist unabhängig voneinander entwickelt und beruhen daher auf keinem einheitlichen Regelungskonzept. Während in einigen Bereichen, wie z.B. dem [[Kapitalmarktrecht]], aufgrund der europäischen Entwicklungen mittlerweile sehr detaillierte Regelungen zu Interessenkonflikten eingeführt worden sind, sind spezifische Regelungen in anderen Rechtsgebieten, wie z.B. dem Maklerrecht, nicht oder nur kaum Gegenstand von Veränderungen worden. Die zunehmenden konzeptionellen Veränderungen bei der Regelung von Interessenkonflikten werden somit nur in einzelnen Bereichen nachvollzogen. <br />
<br />
Betrachtet man die größeren Rechtsordnungen Europas im Hinblick auf die rechtliche Behandlung von Interessenkonflikten, so zeigt sich, dass insbesondere die Ansätze im deutschen und englischen Recht sehr weit voneinander entfernt liegen. Während das deutsche Recht prinzipiell formal an die Regelung von Interessenkonflikten herangeht, verfolgt das englische Recht grundsätzlich einen materiellen Ansatz. Dieser materielle Ansatz stellt auf das materielle Kriterium des Interessenkonflikts ab und analysiert den konkret zu untersuchenden Fall darauf, ob die Voraussetzungen für die Anwendung der Interessenkonfliktsregelungen vorliegen. Dagegen versucht der formale Ansatz unter Zuhilfenahme formaler Kriterien diejenigen Situationen zu umschreiben, in denen typischerweise vom Vorliegen eines Interessenkonflikts ausgegangen werden kann (z.B. bei Vornahme eines „Insichgeschäfts“).<br />
<br />
== 3. Regelungsgestaltungen ==<br />
<br />
Ausgangspunkt für die Regelung von Interessenkonflikten ist bei jeder Form fremdnütziger Geschäftsführung, die mit der Verfügungsmacht über fremdes Vermögen einhergeht, die einseitig an den Interessen des Geschäftsherrn/Auftraggebers/Treugebers/Vertretenen ausgerichtete Interessenwahrungspflicht. Das Konzept und Verständnis der Interessenwahrungspflicht im ''civil law'' und der ''duty of loyalty'' im ''[[common law]]'' differieren. So entstammt die ''duty of loyalty'' des ''common law'' dem ''trust law'' und wurde unter den ''doctrines of equity'' weiter ausgeformt. Das Wesen des ''trust'' besteht darin, dass der ''trustee'' ein so genannter ''legal owner'' einer Vermögensmasse wird, die er für und im Sinne des ''equitable owner'' bzw. ''beneficiary'' zu verwalten hat. Als Treueverpflichtetem ist es dem ''trustee'' strikt verboten, sich in einen Interessenwiderstreit zu begeben. Aufbauend auf ihrem Vertrauenscharakter wurde unter anderem auch die ''agency'' (das funktionale Äquivalent zur Vertretung) als Anwendungsfall der ''relationships of trust and confidence'', den heutigen Treuepflichtenverhältnissen (''fiduciary relationships''), anerkannt ([[Trust und Treuhand|''Trust'' und Treuhand]]). Ein solches Treuepflichtverhältnis bildet auch das Verhältnis zwischen den ''company directors'' und ihrer Gesellschaft. Gegenüber der auf dem ''trust law'' gründenden ''common law'' ''duty of loyalty'' knüpft die Interessenwahrungspflicht im ''civil law'' regelmäßig an vertragliche Pflichten an. Aber auch das Berufsrecht oder die Stellung als Organ können Interessenwahrungspflichten begründen. Trotz solcher dogmatischer Unterschiede haben diese Interessenwahrungspflichten bzw. ''duties of loyalty'' den gleichen Kern: Dem Interessenwahrer ist die Förderung eigener Interessen oder der Interessen Dritter zulasten des Auftraggebers untersagt. Im ''common law'' ist die ''duty of loyalty'' weitgehend durch die Gerichte ausgeformt worden. Aber auch im ''civil law'' ist die Interessenwahrungspflicht vor allem von Gerichten näher ausgestaltet und konkretisiert worden, da sie sich aufgrund ihrer allgemeinen Formulierung für Einzelfallentscheidungen besonders eignet.<br />
<br />
Die ''ex post'' Konkretisierung der Interessenwahrungspflicht durch die Gerichte wurde – ausgehend insbesondere auch vom Europarecht – in einer Reihe von Rechtsgebieten nicht mehr als sachgerecht angesehen und dementsprechend konkreter ausgestaltete Pflichten gesetzlich verankert. Diese Pflichten können nach funktionalen Gesichtspunkten in vier größere Bereiche unterteilt werden: Dies sind organisatorische Pflichten, Mitteilungspflichten, Unterlassungspflichten sowie für Unternehmensgruppen besondere Regelungen in Form von gruppenweiten Strukturen und Grundsätzen des Wohlverhaltens. Für diese Regelungen gibt es jeweils besondere Sanktionen, die sich ebenfalls systematisieren lassen.<br />
<br />
Organisatorische Vorgaben spielen im Rahmen der Unternehmensorganisation eine immer wichtigere Rolle. So enthält z.B. die MiFID (RL&nbsp;2004/39) zusammen mit ihrer Durchführungs-RL (RL 2006/73, insb. Art.&nbsp;21) detaillierte Vorgaben an die Organisation von Wertpapierfirmen wie bspw. die Pflicht, in bestimmten Fällen Informationsbarrieren, sog. ''chinese walls'', zwischen einzelnen Abteilungen von Unternehmen zu errichten (siehe aber auch die gesellschaftsrechtlichen Vorgaben, auf nationaler Ebene z.B. in England jüngst aktualisiert).<br />
<br />
Mitteilungspflichten sind von Bedeutung, wenn der Interessenwahrer einen Konflikt nicht vermeiden kann. Die Mitteilung gibt dem Auftraggeber die Möglichkeit, das ihn treffende Risiko abzuschätzen und entsprechend zu handeln. Im Gegensatz zu einer Reihe von europäischen Richtlinien, vgl. z.B. Art.&nbsp;18 MiFID, sehen PECL, UNIDROIT PICC und DCFR keine ausdrückliche Mitteilungspflicht vor, führen sie allerdings mittelbar ein. Denn das von ihnen vorgesehene Anfechtungsrecht des Geschäftsherrn greift nicht, wenn der Interessenkonflikt vorher offen gelegt worden war und der Geschäftsherr nicht widersprochen hatte. Zur Lösung von Interessenkonflikten sind Mitteilungspflichten allerdings nicht immer geeignet. Neuere Erkenntnisse der ''Behavioral Economics'' deuten auf eine systematische Unterschätzung von Risiken hin. So ist der Einzelne z.B. vielfach davon überzeugt, dass er in der Lage ist, mit Interessenkonflikten angemessen umzugehen. Dies kann z.B. dazu führen, dass eine Mitteilung dem konfliktbefangenen Geschäftsbesorger/Intermediär schon gar nicht notwendig erscheint. Die Wirksamkeit von Mitteilungspflichten hängt außerdem davon ab, ob und inwieweit der Geschäftsherr die mitgeteilte Information zutreffend auswerten und sein Handeln entsprechend ausrichten kann. Daher müssen Mitteilungen zumindest zeitnah, wahr und vollständig sein.<br />
<br />
Schließlich kommen Unterlassungspflichten in Betracht, d.h. ein von einem Interessenkonflikt Betroffener muss sich gänzlich von dem jeweiligen Geschäft zurückziehen oder darf gar nicht erst tätig werden. Da es sich dabei jedoch um eine gravierende Beschränkung der Betroffenen handelt, müssen die erzielten Vorteile mit den negativen Konsequenzen besonders sorgfältig abgewogen werden. In vielen Fällen sind die Gesetzgeber daher bei der Auferlegung von Pflichten zur Abstandnahme von Geschäften sehr zurückhaltend (diesbezügliche. Regelungen finden sich aber z.B. im DCFR). Im Falle organschaftlicher Interessenwahrer kann die Pflicht zur Abstandnahme z.B. bei Abstimmungen dazu führen, dass für diese ein Stimmrechtsausschluss bzw. ein Stimmverbot gilt. In besonderen Fällen kann ein organschaftlicher Interessenwahrer sogar dazu verpflichtet sein, der betreffenden Sitzung insgesamt fernzubleiben. Auch die Amtsniederlegung und die Abberufung können in die Kategorie Abstandnahme eingeordnet werden.<br />
<br />
Infolge der zunehmenden Anzahl von Unternehmensverbänden bzw. &#8209;gruppen erhalten unternehmensübergreifende, gruppenweite Regelungsansätze eine immer größere Bedeutung. Eine vollkommene Separierung der Konfliktlagen einzelner Gruppenmitglieder kommt dabei nur selten in Betracht. Einen rechtsvergleichenden Beleg dafür liefert etwa die Entwicklung in den USA. Dort wurde mit dem ''Class-Steagall Act'' eine institutionelle Trennung von ''Commercial ''und ''Investment Banking'' eingeführt, die jedoch im Jahr 1999 wieder aufgehoben wurde. Demgegenüber könnte zur Umsetzung von gruppenweiten Interessenkonfliktsregelungen ein zentraler Ausschuss für das Konfliktmanagement eingerichtet werden, der aus Vertretern der gruppenzugehörigen Unternehmen zusammengesetzt ist. Aufgabe des Ausschusses ist es dann, Konfliktpotentiale zu ermitteln und entsprechende Empfehlungen an die Geschäftsführung zur Behandlung dieser Konflikte abzugeben. Voraussetzung dafür ist vor allem ein uneingeschränkter Zugang zu Informationen sowie eine hohe Reputation des Ausschusses innerhalb der Gruppe. Erforderlich ist deshalb einerseits ein hoher Standard an Unabhängigkeit und andererseits eine unmittelbare Unterstellung unter die Geschäftsführungsebene.<br />
<br />
Um diese Pflichten durchzusetzen und ihre Nichtbeachtung zu ahnden, sehen die gesetzlichen Regelungen unterschiedliche Rechtsfolgen vor: So kann der Geschäftsherr zur Anfechtung berechtigt (PECL, UNIDROIT PICC, DCFR) oder aber auch das Geschäft (zumindest schwebend) unwirksam sein (näheres dazu, insbesondere auch im Hinblick auf PECL, UNIDROIT PICC und DCFR unter [[Vertretungsmacht]]). Im letzteren Fall kann der Geschäftsherr genehmigen, andernfalls treffen den Auftragnehmer/Vertreter Schadensersatzpflichten; unter Umständen kann er auch wahlweise zur Erfüllung verpflichtet sein. Im Maklerrecht führt eine treuwidrige Doppeltätigkeit des Maklers zur Verwirkung des Lohnanspruchs. Erlangt der Auftragnehmer/Geschäftsbesorger aufgrund seines Interessenkonflikts einen Gewinn oder Vorteil, greifen vielfach Vorschriften, z.B. in Form von Herausgabepflichten, die diesen Gewinn bzw. Vorteil abschöpfen.<br />
<br />
Ein Verstoß gegen ein Stimmrechtsverbot im Aufsichtsrat führt zur Nichtigkeit der Stimme des betroffenen Aufsichtsratsmitglieds. Dies kann sogar auf den Beschluss durchschlagen, wenn ohne die Stimme das Beschlussergebnis nicht zustande gekommen wäre. Regelmäßig sehen gesetzliche Vorschriften auch die Schadensersatzhaftung als Sanktion vor. Außerdem müssen Interessenwahrer Zahlungen, die sie unter Verletzung ihrer Pflichten bei Interessenkonflikten erhalten haben, dem Geschäftsherrn herausgeben. Für berufsmäßige Interessenwahrer gibt es schließlich noch eine Reihe öffentlichrechtlicher und strafrechtlicher Sanktionen sowie Tätigkeits- und Berufsverbote.<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Ulrich Hübner'', Interessenkonflikt und Vertretungsmacht, 1977;'' Charles Hollander'','' Simon Salzedo'', Conflicts of Interest & Chinese Walls, 2000; ''Michael Davis'', ''Andrew Stark'' (Hg.), Conflict of Interest in the Professions, 2001; ''Karsten Krebs'', Interessenkonflikte bei Aufsichtsratsmandaten in der Aktiengesellschaft, 2002; ''Ulrich L. Göres'', Interessenkonflikte von Wertpapierdienstleistern und &#8209;analysten bei der Wertpapieranalyse, 2004; ''Klaus J. Hopt'', Interessenwahrung und Interessenkonflikte im Aktien-, Bank- und Berufsrecht: Zur Dogmatik des modernen Geschäftsbesorgungsrechts, Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht 2004, 1&nbsp;ff.; ''Cecilia Carrara'', Interessenkonflikte bei Interessenwahrungsverträgen, 2005; ''Stephan Festner'', Interessenkonflikte im deutschen und englischen Vertretungsrecht, 2006; ''Luc Thévenoz'', ''Raschid Bahar'' (Hg.), Conflicts of Interest: Corporate Governance & Financial Markets, 2007; ''Christoph Kumpan'','' Patrick C. Leyens'', Conflicts of Interest of Financial Intermediaries: Towards a Global Common Core in Conflicts of Interest Regulation, European Company and Financial Law Review 2008, 72&nbsp;ff. <br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Conflicts_of_Interest]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Bedingung_und_Befristung&diff=1729Bedingung und Befristung2021-09-08T10:45:50Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Thomas Finkenauer]]''<br />
== 1. Gegenstand, Zweck und Terminologie ==<br />
Eine Bedingung (''condicio'') ist eine vertragliche (Neben&#8209;)Bestimmung, welche die Rechtswirkungen eines Geschäfts vom Eintritt eines zukünftigen und ungewissen Ereignisses abhängig macht. Im Unterschied dazu macht eine Befristung (Zeitbestimmung oder ''dies'') die Rechtswirkungen von einem zukünftigen gewissen Ereignis abhängig. Nach traditioneller Einteilung ist daher von einer Bedingung auszugehen, wenn ungewiss ist, ob das gemeinte Ereignis eintritt und der Zeitpunkt seines Eintritts sicher oder unsicher ist: ''dies incertus'' ''an'' ''certus quando'' (das Erleben eines bestimmten Geburtstags) oder ''dies incertus an et quando ''(das Bestehen eines Examens). Dagegen spricht man von einer Befristung, wenn das Ereignis gewiss eintreten wird und der Zeitpunkt seines Eintritts sicher oder unsicher ist: ''dies certus an et quando ''(der 15.1. eines künftigen Jahres) oder'' dies certus an incertus quando ''(der Todestag einer Person). Über die Abgrenzung entscheidet die Auslegung: Der Tod einer Person ist ein gewisses Ereignis und damit eine Befristung; er ist indessen Bedingung, wenn stillschweigend auf das Überleben einer anderen Person, etwa des Bedachten, abgestellt wird. Die Unterscheidung ist jedoch theoretischer Natur, da Bedingung und Befristung im Wesentlichen demselben Regime folgen. Eine Bedingung oder Befristung kann aufschiebend oder auflösend sein: Im ersten Fall wird die Verbindlichkeit mit dem Eintritt des Ereignisses wirksam, im zweiten verliert sie mit Eintritt des Ereignisses ihre Wirkung.<br />
<br />
Während die ''condicio tacita'' eine durch schlüssiges Verhalten gesetzte Bedingung meint, ist weder die Rechtsbedingung (''condicio iuris'') noch die Scheinbedingung (''condicio in praesens vel in praeteritum collata'') eine Bedingung im Rechtssinne: erstere, weil sie das Rechtsgeschäft lediglich vom Eintreten gesetzlicher Voraussetzungen abhängig macht, letztere, weil nicht der Eintritt oder Nichteintritt des von den Parteien vorausgesetzten Ereignisses ungewiss, sondern diesen lediglich noch nicht bekannt ist.<br />
<br />
Schließlich lassen sich – bei schwankender Terminologie – die (zulässige) Potestativbedingung von der (zumeist als unzulässig angesehenen) Willkür- (oder Wollens&#8209;)bedingung unterscheiden. Bei ersterer werden die Wirkungen eines Rechtsgeschäfts von einer bestimmten Handlung seitens einer der Parteien abhängig gemacht, die vom Rechtsgeschäft selbst unabhängig ist. Das bekannteste Beispiel hierfür ist die Zahlung der letzten Rate beim Eigentumsvorbehalt ([[Mobiliarsicherheiten]]). Demgegenüber stellt die Willkürbedingung schlicht auf eine spätere Erklärung einer der Parteien ab, sie wolle nunmehr den ausgehandelten Vertrag; hier fehlt es zum Zeitpunkt des [[Vertragsschluss]]es am Rechtsbindungswillen.<br />
<br />
Bedingung wie Befristung dienen der Anpassung der Rechtswirkungen eines Rechtsgeschäfts an die erkannten Risiken künftiger Entwicklungen und damit der Durchbrechung der Gleichzeitigkeit von Rechtsgeschäft und Rechtswirkung. Die Parteien erreichen so größere Flexibilität bei der Ausgestaltung ihrer vertraglichen Beziehungen. Die Bedingung ist damit ein wesentliches Instrument der Privatautonomie; Einschränkungen sind nur auf Grund vorrangiger Interessen der öffentlichen Ordnung oder des Rechtsverkehrs möglich.<br />
<br />
== 2. Rechtsgeschichte ==<br />
Mit Recht wird die Bedingung als eine der großen Erfindungen des [[römisches Recht|römischen Recht]]s angesehen. Das römische Bedingungsrecht war eine kunstvoll entwickelte Rechtsmaterie; spätere Rechtsordnungen konnten dem nur wenig hinzufügen. Es unterstellte Bedingung und Befristung im Wesentlichen denselben Regeln. Man schuf namentlich den Kauf auf Probe (''pactum displicentiae''), den befristeten Vorbehalt eines besseren Gebots (''in diem addictio'') sowie die Auflösbarkeit eines Kaufs bei nicht rechtzeitiger Kaufpreiszahlung (''lex commissoria''). Die Schwebezeit, bis sich entscheidet, ob die Bedingung eintritt oder ausfällt, führt zu schwierigen Rechtsfragen, die man in aller Regel befriedigend löste. So fingierte man den Eintritt der Bedingung, wenn ihn diejenige Partei treuwidrig verhindert hatte, die an ihrem Nichteintritt interessiert war (Erfüllungsfiktion); im umgekehrten Fall wurde ihr Nichteintritt angenommen (Nichterfüllungsfiktion). Bereits nach den XII Tafeln von 450 v.&nbsp;Chr. hatte es überdies der in einem [[Testament]] bedingt freigelassene Sklave in der Hand, durch Zahlung einer bestimmten Geldsumme aus seinem Sondervermögen die Freiheit zu erlangen, und zwar selbst dann, wenn der Erbe ihn unterdessen an einen Dritten veräußert hatte. Mit solchen Entscheidungen erkannte man die Verdinglichung der (im Übrigen vererblichen) Rechtsposition des bedingt Berechtigten an.<br />
<br />
Der mittelalterliche Kommentator ''Bartolus'' entwickelt im 14.&nbsp;Jahrhundert als erster eine allgemeine (und später herrschende) Rückwirkungslehre, wonach alle relevanten Wirkungen des Rechtsgeschäfts bei Bedingungseintritt (hinsichtlich Zwischenverfügungen, Nutzungen, der Gefahrtragung etc.) auf den Geschäftsabschluss zurückbezogen werden. Dagegen leugnet ''Gottfried Wilhelm Leibniz'' die (fiktive) Rückwirkung und lässt bedingte Forderung und bedingtes Recht sofort mit dem Geschäftsabschluss entstehen, freilich behaftet mit der Ungewissheit der Parteien über den Bedingungseintritt. Er wird so, insbesondere über seine Wiederentdeckung im 19.&nbsp;Jahrhundert durch ''Hermann Fitting'', zum Vorreiter einer neuzeitlichen Bedingungslehre. Von den Naturrechtskodifikationen ([[Naturrecht]]) entscheidet sich deutlich nur der französische ''[[Code civil]]'' zu Gunsten des Rückwirkungsgedankens (Art.&nbsp;1179). In der Pandektenliteratur ([[Pandektensystem]]) nehmen die – eigentlich Auslegungsfragen betreffenden – Lehrsätze zur unmöglichen, sittenwidrigen, widersinnigen etc. Bedingung und insbesondere das Rückwirkungsproblem einen ungewöhnlich breiten Raum ein. Zwar bleibt die Lehre von der Rückwirkung zunächst herrschend, findet jedoch in ''Bernhard Windscheid'', sodann ''Fitting'','' Rudolf von Jhering ''und'' ''schließlich ''Ernst Zitelmann'' prominente Gegner, die maßgeblich ein Abrücken eines großen Teils des Schrifttums vom Rückwirkungsdogma bewirken. In umgekehrter Perspektive betont man nun die Vorwirkungen bedingter Rechtsgeschäfte. So insbesondere der Gesetzgeber des BGB in §§&nbsp;160&nbsp;f.: Zwischenverfügungen seien bei Bedingungseintritt deshalb unwirksam, weil die Sache bereits den Keim in sich trage, das Eigentum eines anderen zu werden; dieser andere habe ein eigenständiges und übertragbares Recht an der Sache, ein Anwartschaftsrecht.<br />
<br />
Mit der bereits auf das klassische römische Recht zurückgehenden Lehre von der ''condicio tacita'' konnte seit dem Mittelalter eine konditionelle Verknüpfung von Leistung und Gegenleistung erzielt werden, indem man eine entsprechende Bedingung in die vertragliche Abrede hineinlas. So konnte man jeden Vertrag als unter der stillschweigenden Bedingung geschlossen erachten, dass sich die Umstände nicht änderten (''clausula rebus sic stantibus''). Die ''clausula''-Lehre wurde unter dem Vorzeichen der neuzeitlichen Willenstheorie zurückgedrängt, und auch ihrer Wiederbelebung durch ''Windscheids'' Lehre von der Voraussetzung war kein Erfolg beschieden. Diese wirkt aber in §&nbsp;812 Abs.&nbsp;1 S.&nbsp;2 Alt.&nbsp;2 und §&nbsp;313 BGB („Wegfall der [[Geschäftsgrundlage]]“) noch heute wenigstens in Deutschland nach.<br />
<br />
== 3. Regelungsstrukturen und Tendenzen der Rechtsentwicklung ==<br />
In allen europäischen Rechtsordnungen finden sich in gemeinrechtlicher Tradition Regeln über die aufschiebende und auflösende Bedingung als ein künftiges ungewisses Ereignis (Art.&nbsp;1168 frz. ''Code civil''<nowiki>; §&nbsp;158 BGB; Art.&nbsp;201&nbsp;f. griech. ZGB; §&nbsp;696 ABGB; Art.&nbsp;1353 </nowiki>''Codice civile''). Nach Art.&nbsp;1181 Abs.&nbsp;1 frz. ''Code civil'' sowie Art.&nbsp;1113 span. ''Código civil'' kann eine Bedingung allerdings auch auf ein vergangenes, den Parteien noch unbekanntes Ereignis abstellen. In England und Irland spricht man häufiger von einer ''condition precedent'' statt von einer aufschiebenden und von einer ''condition subsequent'' statt von einer auflösenden Bedingung.<br />
<br />
Die Erfüllungs- bzw. Nichterfüllungsfiktion gehört ebenfalls zum gemeineuropäischen ''acquis''. Danach wird eine Bedingung dann als eingetreten angesehen, wenn ihr Eintritt von der Partei, zu deren Nachteil er gereichen würde, treuwidrig verhindert wurde; umgekehrt gilt eine Bedingung dann als nicht eingetreten, wenn ihr Eintritt von der Partei, zu deren Vorteil er gereicht, treuwidrig herbeigeführt wurde. Zweck der Regelung ist es, den treuwidrigen Eingriff einer Vertragspartei in den Lauf der Dinge im Sinne eines ''corriger la fortune'' zu verhindern ([[Treu und Glauben]]). Während etwa §&nbsp;162 BGB und Art.&nbsp;207 griech. ZGB beide Fiktionen kennen, nennen Art.&nbsp;1178 frz. ''Code civil'', Art.&nbsp;156 OR, Art.&nbsp;1119 span. ''Código civil'' sowie Art.&nbsp;1359 ''Codice civile'' nur die Erfüllungsfiktion; die Rechtsprechung erkennt aber offenbar auch die Nichterfüllungsfiktion an. Ohnehin auf der Rechtsprechung beruht die Anerkennung beider Fiktionen in Österreich und Schottland. Der französische Entwurf eines Obligationenrechts von 2005 (''Avant-Projet de réforme du droit des obligations et du droit de la prescription'') nennt nunmehr auch die Nichterfüllungsfiktion. In England und Irland wird das treuwidrige Verhalten als Verstoß gegen eine stillschweigende Vertragsbestimmung angesehen.<br />
<br />
In Übereinstimmung mit der jüngeren gemeinrechtlichen Lehre verwerfen die meisten europäischen Rechtsordnungen das vor allem die romanischen Rechte beherrschende Rückwirkungsdogma, also die ''ex tunc''-Wirkung des Bedingungseintritts. Zwar wurde die Rückwirkungslehre noch in Frankreich (Art.&nbsp;1179 ''Code civil''), Spanien (Art.&nbsp;1120 ''Código civil'') und Italien (Art.&nbsp;1360 ''Codice civile'') rezipiert, jedoch werden z.B. bei entgegenstehender Vereinbarung, für den [[Gefahrübergang]] (Art.&nbsp;1182 Abs.&nbsp;2 ''Code civil'') oder langfristige Verträge (Art.&nbsp;1360 Abs.&nbsp;2 ''Codice civile'') wichtige Ausnahmen gemacht. Dagegen haben sich Deutschland (§&nbsp;159 BGB), die Schweiz (Art.&nbsp;151 Abs.&nbsp;2, 154 Abs.&nbsp;2 OR), Griechenland (Art.&nbsp;203, 204, 206 ZGB), Art.&nbsp;3:38 Abs.&nbsp;2 BW und die österreichische Lehre gegen die Rückwirkung entschieden; allerdings können die Parteien eine entgegenstehende Vereinbarung treffen. In England, Irland und Dänemark wird die Frage als Problem der Vertragsauslegung behandelt. Die modernere, das Rückwirkungsdogma ablehnende Lehre schützt den bedingt Berechtigten mit einem Schadensersatzanspruch gegen den Vertragsgegner, wenn dieser das von der Bedingung abhängige Recht schuldhaft vereitelt oder beeinträchtigt hat (vgl. §&nbsp;160 BGB, Art.&nbsp;204 griech. ZGB) oder wenn er Zwischenverfügungen getätigt hat: Danach werden dingliche Verfügungen, die in der Zwischenzeit getroffen wurden, insofern hinfällig, als sie die Wirkung der Bedingung beeinträchtigen (vgl. §&nbsp;161 BGB; Art.&nbsp;152 III OR; Art.&nbsp;206 griech. ZGB). Letztlich sind die Unterschiede zwischen den beiden Lehren in der Praxis nicht allzu groß, weil man das Rückwirkungsdogma nicht streng durchführt; immerhin erscheint aber, wie schon vom BGB-Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, die Rückwirkungslehre kritikwürdig, weil sie in überschießender Weise auch solche Zwischenverfügungen beseitigt, die den bedingt Berechtigten begünstigen. Bemerkenswerterweise hat sogar die (erfolglose) ''Commission de Réforme du Code Civil'' (1946-47) die Abschaffung des Rückwirkungsdogmas gefordert. Der genannte neue Entwurf eines Obligationenrechts von 2005 bekennt sich dagegen nach wie vor zur Rückwirkung (Art.&nbsp;1182 Abs.&nbsp;2, 1184 Abs.&nbsp;1), nimmt aber die gezogenen Früchte von dieser Wirkung aus und möchte sogar, „je nach Fall“, neben der aufschiebenden (''condition'' ''suspensive'') und ''ex tunc'' wirkenden auflösenden Bedingung (''condition'' ''résolutoire'') eine dritte Kategorie, die ''condition extinctive'' mit ''ex nunc''-Wirkung, einführen (Art.&nbsp;1173 Abs.&nbsp;2, 1184 Abs.&nbsp;1).<br />
<br />
Es handelt sich insgesamt beim Bedingungsrecht um ein eher starres Rechtsgebiet. Bemerkenswert ist jedoch das sog. Anwartschaftsrecht, das die h.M. seit der Zeit des Inkrafttretens des BGB, gestützt auf §§&nbsp;160&nbsp;f. BGB, entwickelte: Der Käufer einer Sache, die unter Eigentumsvorbehalt und damit aufschiebend durch die Zahlung der letzten Kaufpreisrate bedingt veräußert wurde, erhält bereits mit der Übergabe der Sache ein veräußerliches, verpfändbares und pfändbares und damit wirtschaftlich verwertbares dingliches Anwartschaftsrecht, das deliktisch gegen unerlaubte Handlungen geschützt ist, gutgläubig erworben werden kann und mit der Zahlung der letzten Rate zum Eigentum „erstarkt“. Auch in Griechenland, Österreich und in der Schweiz wird der bedingt Berechtigte durch die Annahme eines Anwartschaftsrechts geschützt.<br />
<br />
== 4. Vereinheitlichungsprojekte und Einheitsrecht ==<br />
Art.&nbsp;16:101-103 der [[Principles of European Contract Law|PECL]], Art.&nbsp;III-1:106 des Draft [[Common Frame of Reference|DCFR]] sowie Art.&nbsp;49&nbsp;ff. des Vorentwurfs zu einem ''[[Code Européen des Contrats (Avant‑projet)]]'' behandeln das Recht der Bedingung: die aufschiebende und auflösende Bedingung, die Erfüllungs- und Nichterfüllungsfiktion sowie schließlich die Ablehnung des Rückwirkungsdogmas, soweit nicht anderes vereinbart wurde. Eine Regelung zu den in der Schwebezeit getroffenen Zwischenverfügungen war nicht erforderlich, weil der Übergang dinglicher Berechtigungen nicht Gegenstand der PECL ist. Allerdings nennt Art.&nbsp;51 des ''Avant-projet'' noch einen Schadensersatzanspruch des bedingt Berechtigten, wenn sein Recht in der Schwebezeit treuwidrig beeinträchtigt wurde.<br />
<br />
Das einheitliche UN-Kaufrecht ([[Warenkauf, internationaler (Einheitsrecht)]]) kennt ebenso wenig wie die [[UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts|UNIDROIT PICC]] eine Regelung des Bedingungsrechts. Das liegt daran, dass der sachenrechtliche Teil der Problematik außerhalb ihres sachlichen Anwendungsbereichs liegt, während das Bedingungsrecht im Übrigen als bloßes Auslegungsproblem begriffen wird.<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Andreas Bertalan Schwarz'', Bedingung, in: Franz Schlegelberger (Hg.), Rechtsvergleichendes Handwörterbuch für das Zivil- und Handelsrecht des In- und Auslandes, Bd.&nbsp;II, 1929, 391&nbsp;ff.; ''Domenico Maffei'', Condizione (dir. interm.), Enciclopedia del diritto, Bd.&nbsp;VIII, 1961, 761&nbsp;f.; ''Apostolos Georgiades'', Die Eigentumsanwartschaft beim Vorbehaltskauf: Zur Theorie der dinglichen Anwartschaften, 1963; ''Gottfried Schiemann'','' ''Pendenz und Rückwirkung der Bedingung: Eine dogmengeschichtliche Untersuchung, 1973; ''Wolfgang Marotzke'', Das Anwartschaftsrecht, ein Beispiel sinnvoller Rechtsfortbildung?, 1977; ''Reinhard Zimmermann'', The Law of Obligations, 1996, Kap. 23; ''idem'', „Heard melodies are sweet, those unheard are sweeter...“: Condicio tacita, implied condition und die Fortbildung des europäischen Vertragsrechts, Archiv für die civilistische Praxis&nbsp;193 (1993) 121&nbsp;ff.;'' Thomas Finkenauer'', §§&nbsp;158-163, in: Mathias Schmoeckel, Joachim Rückert, Reinhard Zimmermann (Hg.), Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Bd.&nbsp;I, 2003.<br />
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[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Condition_and_Time_Term]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Anspruchskonkurrenz&diff=1727Anspruchskonkurrenz2021-09-08T10:45:20Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Ulrich Magnus]]''<br />
== 1. Gegenstand und Zweck ==<br />
Der Begriff der Anspruchskonkurrenz im Zivilrecht ist schillernd, denn er fasst ein ganzes Bündel von Problemen zusammen. Er bezeichnet zunächst nur ganz allgemein die Situation, dass mehrere zivilrechtliche Ansprüche eines Gläubigers nebeneinander in Betracht kommen. Allerdings setzt der Begriff voraus, dass diese Ansprüche nicht völlig unabhängig voneinander sind, sondern so miteinander in Bezug stehen, dass sie sich gegenseitig beeinflussen können, insoweit also miteinander konkurrieren. Dabei sind zahlreiche Situationen unterschiedlichster Art denkbar, in denen ein solcher Bezug und damit eine Konkurrenz möglich sind. Ein Gläubiger kann etwa gegen einen Schuldner ein einheitliches Recht auf eine Leistung haben, das jedoch aus mehreren Rechtsgründen folgt (sog. ''Anspruchsgrundlagenkonkurrenz ''oder'' Anspruchsnormenkonkurrenz''). Hat beispielsweise ein Verkäufer wissentlich schlechte Ware geliefert und der Käufer dadurch einen Gesundheitsschaden erlitten, dann steht dem Verletzten theoretisch [[Schadensersatz]] aus [[Vertrag]] und Delikt ([[Deliktsrecht: Allgemeines und lex Aquilia|Deliktsrecht]]) zu. Hat ein Kraftfahrer einen Fußgänger angefahren, dann kann dieser einen Schadensersatzanspruch aus einer Verschuldens- oder einer [[Gefährdungshaftung]] haben. Hat jemand ein fremdes Kraftfahrzeug zu Unrecht in Besitz, so mag der Eigentümer die Herausgabe auf Grund seines Eigentums ([[Eigentumsschutz]]), aus ungerechtfertigter Bereicherung ([[Bereicherungsrecht]]) oder aus Delikt verlangen können.<br />
<br />
Nur wenig anders liegt die Konkurrenzsituation, wenn die Rechtsordnung innerhalb desselben Rechtsgebiets (Vertrag, Delikt etc.) mehrere Reaktionsmöglichkeiten vorsieht, etwa im Fall des Kaufs schlechter Ware dem Käufer unter Umständen einen Anspruch auf [[Nacherfüllung]] oder eventuell das Recht zur [[Vertragsaufhebung]] oder [[Minderung]] des Kaufpreises und/oder einen Anspruch auf Schadensersatz einräumt oder wenn sie für einen deliktisch verursachten Schaden Ausgleich in Natur oder durch Ersatz des Wertverlustes zulässt. Auch in diesen Fällen ergibt sich ein Konkurrenzverhältnis zwischen den unterschiedlichen Rechtsbehelfsmöglichkeiten, das gelöst werden muss. Klar ist, dass der Gläubiger nicht alle Rechtsbehelfe gleichzeitig ausüben darf. Soll er aber die freie Wahl unter ihnen haben? Soll er an eine bestimmte Reihenfolge der Ausübung der Möglichkeiten gebunden sein? Ist er an eine einmal getroffene Wahl gebunden? Soll er bestimmte Behelfe kumulieren können? Sonderfragen treten auf, wenn gesetzlich vorgesehene Vertragsansprüche, z.B. auf Schadensersatz, und vereinbarte Vertragsansprüche, z.B. auf eine Vertragsstrafe, miteinander konkurrieren.<br />
<br />
Schließlich kann man von Anspruchskonkurrenz sprechen, wenn ein Gläubiger aus einem einheitlichen Geschehen Ansprüche gegen mehrere Schuldner hat, diese Ansprüche aber ebenfalls nicht unabhängig voneinander sind, sondern in einem gegenseitigen Bezug stehen, etwa bei der gleichzeitigen Haftung eines Schädigers und seines Versicherers etc.<br />
<br />
In allen genannten – und zahlreichen ähnlichen – Fällen muss jede Rechtsordnung entscheiden, in welchem Verhältnis die mehreren Ansprüche zu einander stehen sollen, und es liegt auf der Hand, dass diese Entscheidung auch davon abhängt, was genau unter dem Begriff ''Anspruch'' zu verstehen ist. Ferner hat jede Entscheidung über das Verhältnis zwischen mehreren Ansprüchen Folgewirkungen für weitere Fragen: Wie steht es mit der Verjährung, wenn sie für jeden einzelnen der Ansprüche unterschiedlich ist? Erlöschen alle Ansprüche, wenn einer erfüllt wird? Was ist die Folge, wenn einer der Ansprüche abgetreten wird? Wenn er erlassen wird? Wenn für einen Anspruch ein Haftungsausschluss gilt? Etc. etc.<br />
<br />
Das verbindende Band, das mehrere Ansprüche in ein Verhältnis der Anspruchskonkurrenz setzt, lässt sich nur schwer abstrakt umschreiben und systematisieren. Ansprüche können in einem sich gegenseitig beeinflussenden Verhältnis stehen, das die Klärung der Rangfrage erfordert, weil sie vor allem aus einem einheitlichen Geschehen erwachsen oder weil sie ein einheitliches Rechtsschutzziel verfolgen oder trotz unterschiedlicher Zielsetzung ein einheitliches Interesse des Gläubigers abdecken, selbst wenn sie sich gegen mehrere Schuldner richten.<br />
<br />
Schließlich ist zu beachten, dass sich die Frage der Anspruchskonkurrenz keineswegs nur im Bereich des materiellen Rechts, sondern mit wohl noch größerer praktischer Bedeutung im Bereich des Prozessrechts stellt. Allerdings hat die Anspruchskonkurrenz im prozessrechtlichen Zusammenhang andere Bedeutung und Wirkungen als im materiellen Recht. Hier ist insbesondere zu entscheiden, ob und wann mehrere Ansprüche in einer Klage verbunden werden können, ob ein Gericht für die mehreren Ansprüche – auch international – zuständig ist, ob und welche Rechtskraftwirkung eine Entscheidung über einen Anspruch hat, der in einem Verhältnis der Anspruchskonkurrenz zu einem anderen Anspruch steht. Kann beispielsweise im Fall des Kaufs schädlicher Ware noch ein Deliktsanspruch eingeklagt werden, wenn der Vertragsanspruch schon rechtskräftig abgewiesen wurde? Auch die Frage, ob und welche von mehreren zivilrechtlichen Ansprüchen in einem möglichen Adhäsionsverfahren zu einem Strafprozess geltend gemacht werden können, kann eine Rolle spielen.<br />
<br />
Die Regeln zur Anspruchskonkurrenz bezwecken, für alle genannten Fragen Lösungen zu finden, die den beteiligten Interessen gerecht werden. Als Lösung kommt dabei im Grundsatz in Betracht, dass der Gläubiger die mehreren Ansprüche entweder kumulieren, sie also nebeneinander geltend machen kann (''kumulative Konkurrenz'') oder zwischen ihnen – unter Umständen mit unterschiedlichen Abstufungen – wählen darf (''alternative Konkurrenz'') oder aber nur einen bestimmten Anspruch geltend machen kann, während die übrigen ausgeschlossen sind (''Konsumtion ''oder'' Gesetzeskonkurrenz''). Allerdings können diese unterschiedlichen Lösungsansätze allenfalls als Ausgangspunkt dienen. Eine Einheitslösung für alle unterschiedlichen Konstellationen und Einzelfragen muss wegen deren Vielgestaltigkeit von vornherein ausscheiden. <br />
<br />
== 2. Tendenzen der Rechtsentwicklung ==<br />
Keine der großen europäischen [[Kodifikation]]en des 19.&nbsp;Jahrhunderts hat eine systematische Regelung des Rechts der zivilrechtlichen Anspruchskonkurrenz hervorgebracht. Schon der Grundbegriff des Anspruchs wird weder im österreichischen ABGB noch im französischen ''[[Code civil]]'' definiert. Nur das [[Bürgerliches Gesetzbuch|BGB]] bestimmt ihn sehr abstrakt als das „Recht, von einem anderen ein Tun oder Unterlassen zu verlangen“ (§&nbsp;194 Abs.&nbsp;1 BGB). Es hat sich damit unter dem Einfluss ''Bernhard Windscheids'' zum Ende des 19.&nbsp;Jahrhunderts von der römischrechtlichen Auffassung getrennt, die im Anspruch, der ''actio'', vor allem die prozessuale Klagemöglichkeit sah. Vielmehr wird der Anspruch nun primär als materiell-rechtliche Berechtigung, etwas fordern zu dürfen, aufgefasst. Indessen gehört zum Forderungsrecht auch ein im Tatsächlichen angesiedelter Entstehungsgrund (ein Vertragsbruch, eine deliktische Verletzung etc.), der den Anspruch erst entstehen lässt. Heute scheint es die weithin herrschende Auffassung geworden zu sein, dass es sich jedenfalls im Rahmen des materiellen Rechts um unterschiedliche Ansprüche handelt – die prinzipiell ein unterschiedliches Schicksal haben können –, wenn zwar ein einheitliches Anspruchsziel (z.B. Schadensersatz) verfolgt, aber aus unterschiedlichen Entstehungsgründen (z.B. einerseits aus Vertrag, andererseits aus Delikt) hergeleitet wird. Gesetzliche Regeln, die das Verhältnis mehrerer Ansprüche oder Rechtsbehelfe zueinander ausdrücklich festlegen, finden sich in den europäischen Zivilrechtskodifikationen bis heute nur vereinzelt. In der Regel ist es die Rechtsprechung, die hierzu Grundsätze aufstellt. Vielfach sind die Ergebnisse recht umstritten.<br />
<br />
Für das praktisch besonders wichtige Konkurrenzverhältnis zwischen vertraglichen und deliktischen Ansprüchen vertreten das deutsche, englische und französische Recht zudem zumindest im Ausgangspunkt bemerkenswert unterschiedliche Konzepte. Verkürzt ausgedrückt folgt Frankreich hier der Grundidee der Konsumtion, England sowie Deutschland haben das Modell der alternativen Konkurrenz übernommen. <br />
<br />
In Frankreich ist die Lehre des sog. ''non-cumul'' seit langem etabliert (z.B. Cass. civ. 11.1.1922, DP&nbsp;1922, 1, 16; Cass. civ. 24.5.2006, Bull. civ.&nbsp;II, no.&nbsp;136). Danach schließen vertragliche Ansprüche deliktische aus. Ursprünglich galt das auch für die Produkthaftung. Der geschädigte Endkäufer konnte sich nur auf Vertragsansprüche stützen, da er die fehlerhafte Ware durch Vertrag erworben hatte. Allerdings gewährte das französische Recht einen – vertraglichen – Direktanspruch (''action directe ''oder'' oblique) ''gegen den Hersteller. Ausnahmen bildeten nur Fälle, in denen die Vertragsverletzung zugleich eine Straftat war oder der Schuldner arglistig (mit ''faute dolosive'') gehandelt hatte Diese Lage musste Frankreich ändern, als es die Produkthaftungs-RL (RL&nbsp;85/374) der [[Europäische Gemeinschaft|EG]] von 1985 umzusetzen hatte. Obwohl die Umsetzungsfrist für die [[Richtlinie]] drei Jahre betrug, vergingen bis zur französischen Umsetzung 13&nbsp;Jahre. Anschließend folgten noch mehrere Verurteilungen Frankreichs, in denen der [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] eine nicht richtlinienkonforme Umsetzung monierte. Für den Bereich der Produkthaftung hebt heute Art.&nbsp;1386-18 ''Code civil'' das Prinzip des ''non-cumul'' auf, allerdings nur soweit der von der Richtlinie vorgeschriebene Anwendungsbereich reicht. Im Übrigen folgt Frankreich nach wie vor der Lehre vom ''non-cumul''. Begründet wird sie vor allem damit, dass die Vertragshaftung die speziellere Haftung sei und vertragliche Haftungsbeschränkungen bei einem Rückgriff auf das [[Deliktsrecht: Allgemeines und lex Aquilia|Deliktsrecht]] illusorisch würden, das aus faktischen Gründen selten einmal im Vorhinein abbedungen wird.<br />
<br />
Deutschland und England lassen demgegenüber vertragliche und deliktische Ansprüche nebeneinander zu. Der Gläubiger kann sich für den jeweils vorteilhafteren Anspruch entscheiden. Beide Rechte wollen hier den Gläubiger bevorzugen, dessen Schuldner mehrere Haftungsgründe verwirklicht hat. Allerdings müssen auch diese beiden Rechtsordnungen Abstriche an ihrem Ausgangspunkt vornehmen und sich der Frage stellen, ob und wieweit vertragliche Haftungsbeschränkungen auch konkurrierende Deliktsansprüche erfassen. Gewöhnlich wird diese Frage als Auslegungsproblem begriffen. Sinn und Zweck der Beschränkung müssen daraufhin geprüft werden, ob diese nur im relativen Verhältnis der Parteien für die daraus erwachsenen Pflichten gelten soll oder ob sie sich auch auf die allgemeinen Pflichten des Deliktsrechts beziehen soll.<br />
<br />
Für die Konkurrenz zwischen unterschiedlichen Rechtsbehelfen innerhalb des Vertragsrechts hat Europa mit der Verbrauchsgüterkauf-RL (1999/44) von 1999 ([[Verbrauchsgüterkauf]]) die Entwicklung nachhaltig beeinflusst. Für das Verbraucherkaufrecht gilt nicht mehr die Lösung des [[römisches Recht|römischen Recht]]s, die bis zur letzten Jahrtausendwende die wesentliche Grundlage der kontinentalen Kaufrechtsordnungen war und dem Käufer fehlerhafter Ware nach seiner Wahl sofort Wandlung (''actio redhibitoria'') oder [[Minderung]] (''actio quanti minoris'') gestattete. Vielmehr kann der Käufer zunächst nur [[Nacherfüllung]] in Form der Nachbesserung oder Nachlieferung beanspruchen. Erst wenn sie ausscheidet oder misslingt, erlaubt die Richtlinie einen Übergang zur Vertragsauflösung oder zur Minderung; die Vertragsauflösung steht dem Käufer zudem nur noch bei nicht unerheblichen Mängeln zu. Mit der primären Nacherfüllung mutet die Verbrauchsgüterkauf-RL auch dem englischen ''[[common law]] ''eine erhebliche Veränderung zu. Denn dort wird ein Erfüllungsanspruch (''specific performance'') grundsätzlich nur gewährt, wenn [[Schadensersatz]] ausnahmsweise keinen adäquaten Ausgleich des Schadens bietet, etwa weil es sich um einen einmaligen Gegenstand handelt. Statt der früher freien alternativen Konkurrenz mehrerer Rechtsbehelfe oder des Vorrangs des Schadensersatzanspruchs bei Mängeln der Kaufsache ist Europa also in diesem Bereich zu einer streng geregelten Abfolge und Abstufung der Behelfe übergegangen. Da sie den Schadensersatzanspruch freilich nicht behandelt, sondern seine Regelung den Mitgliedstaaten überlässt, ist die Richtlinie im Ergebnis weniger rigide, als es zunächst den Anschein hat. Denn sie steht der alternativen Konkurrenz zwischen Schadensersatzanspruch und primärem Nacherfüllungsanspruch bzw. dem Recht auf Vertragsaufhebung jedenfalls nicht entgegen.<br />
<br />
== 3. Regelungsstrukturen ==<br />
Von diesen jüngeren vereinheitlichenden Entwicklungen abgesehen, unterscheiden sich die Regelungsstrukturen für das Konkurrenzverhältnis zwischen unterschiedlichen Normenkomplexen, die je eigenständige Anspruchsgrundlagen zur Verfügung stellen, in Europa sehr erheblich. Die Konkurrenz zwischen Vertrags- und Deliktsrecht wird, wie schon geschildert, teils im Sinn des Vorrangs des Vertragsrechts, teils im Sinn der alternativen Gleichrangigkeit gelöst.<br />
<br />
Für die Konkurrenz zwischen Ansprüchen aus [[Bereicherungsrecht|Bereicherungs-]] bzw. [[Deliktsrecht: Allgemeines und lex Aquilia|Deliktsrecht]] gilt Ähnliches. Auch hier besteht ein deutlicher Unterschied zwischen dem französischen Recht einerseits und dem deutschen und englischen Recht andererseits. Nach französischer Auffassung greift das Bereicherungsrecht nur subsidiär ein, wenn andere, insbesondere deliktische Ansprüche, nicht bestehen. Sind sie gegeben, gehen sie vor, verdrängen also das Bereicherungsrecht im Sinn der Konsumtion. Wiederum alternative Konkurrenz zwischen Bereicherungs- und Deliktsansprüchen lassen dagegen das deutsche und englische Recht zu. Der Gläubiger kann Ansprüche aus beiden Normbereichen, wenn ihre Voraussetzungen erfüllt sind, alternativ geltend machen, allerdings nur einmal sein Anspruchsziel – sei es über Herausgabe/Wertersatz, sei es über Schadensersatz – erlangen. Im Prozess muss er sich daher für eines der beiden Ziele entscheiden und dieses seiner Klage primär zugrunde legen. Der alternative Anspruch ist allenfalls im Hilfsverhältnis geltend zu machen.<br />
<br />
Weitgehend einheitlich entscheiden die europäischen Rechtsordnungen allerdings die Frage, ob konkurrierende Ansprüche separaten Verjährungsfristen unterliegen können. Unabhängig von der Art des Konkurrenzverhältnisses wird jeder Anspruch grundsätzlich seiner eigenen Verjährungsfrist unterstellt. Soweit nicht die ''non-cumul''-Lehre, sondern das Prinzip der alternativen Konkurrenz herrscht, liegt in der unterschiedlichen Verjährung gerade ein Vorteil für den Gläubiger, der sich auf den unverjährten Anspruch auch dann noch stützen kann, wenn der alternative Anspruch bereits verjährt ist.<br />
<br />
Soweit die europäischen Rechtsordnungen eine alternative Anspruchskonkurrenz zulassen, wird die problematische Frage, ob einer der konkurrierenden Ansprüche allein abgetreten, erlassen, beschränkt, ausgeschlossen oder, von der [[Verjährung]] abgesehen, sonst einem Sonderschicksal unterworfen werden kann, wohl dahin beantwortet, dass darüber jeweils Sinn und Zweck der miteinander konkurrierenden Ansprüche und des jeweiligen Rechtsinstituts ([[Abtretung]], [[Erlass einer Forderung|Erlass]] etc.) entscheiden müssen. So kann der Käufer schlechter Ware den Vertragsanspruch auf Ersatz des Schadens, den die Ware verursacht hat, nicht getrennt von einem zugleich gegebenen Deliktsanspruch abtreten und ihn dadurch verdoppeln. Nur den Vertragsanspruch zu erlassen und den Deliktsanspruch aufrechtzuerhalten, mag dagegen dem Parteiwillen entsprechen und daher zulässig sein. Auch für die Konkurrenz zwischen gesetzlichen und vereinbarten Ansprüchen (etwa auf eine [[Vertragsstrafe]]) kommt es auf die Auslegung der Vereinbarung und deren Sinn und Zweck an.<br />
<br />
Für konkurrierende Rechtsbehelfe innerhalb eines Normenkomplexes, z.B. innerhalb des Vertragsrechts, kommt es ebenfalls zunächst auf den Zweck und Inhalt des jeweiligen Rechtsbehelfs an. Behelfe können etwa kumuliert werden, soweit sich das mit ihrem Rechtsschutzziel und ihrer Reichweite verträgt. Vertraglicher [[Schadensersatz]] kann daher etwa regelmäßig zusätzlich zu vertraglichen Gewährleistungsrechten geltend gemacht werden, soweit nicht Deckungsgleichheit des Ausgleichsziels besteht, der Schaden also nicht bereits vollständig durch [[Nacherfüllung]], [[Vertragsaufhebung]] oder [[Minderung]] ausgeglichen ist. Ähnlich kann Schmerzensgeld zusätzlich verlangt werden, wenn nur einige und nicht alle der verwirklichten Deliktstatbestände seinen Ersatz vorsehen. Miteinander inkompatible Behelfe (z.B. Erfüllung und Vertragsaufhebung) schließen sich dagegen gegenseitig aus und können nur alternativ geltend gemacht werden.<br />
<br />
<nowiki>Im prozessualen Zusammenhang wird der Anspruchsbegriff im Rahmen der Lehre vom Streitgegenstand zum Teil anders als im materiellen Recht definiert und etwa die Rechtskraftwirkung eines Urteils häufig auf das geltend gemachte Klageziel mit seiner tatsächlichen Grundlage erstreckt. Damit folgt man dann einem besonderen, aus einem bestimmten Lebenssachverhalt hergeleiteten prozessualen Anspruchsbegriff, für den gleichgültig ist, ob der Klageanspruch auf unterschiedlichen materiell- rechtlichen Anspruchsgrundlagen (etwa auf Vertrag und Delikt) beruht. Das europäische Gemeinschaftsrecht legt freilich inzwischen nahe, die materiell-rechtlich unterschiedenen Anspruchsgrundlagen auch prozessrechtlich zu übernehmen, wie sich etwa aus der unterschiedlichen internationalen Zuständigkeit für Vertrags- und Deliktsklagen (Art.&nbsp;5 Nr.&nbsp;1 und 3 EuGVO [VO-44/2001]), für Gewährleistungs- oder Interventionsklagen (Art.&nbsp;6 Nr.&nbsp;2 EuGVO) oder für im Zusammenhang stehende vertragliche und dingliche Klagen (Art.&nbsp;6 Nr.&nbsp;4 EuGVO) ableiten lässt.</nowiki><br />
<br />
== 4. Vereinheitlichungsprojekte ==<br />
Das Konkurrenzverhältnis zwischen Normenkomplexen unterschiedlicher Struktur und zwischen Rechtsbehelfen innerhalb eines Normenkomplexes ist nicht selbständiger Regelungsgegenstand internationaler Vereinheitlichungsprojekte. Doch enthalten einige Vereinheitlichungsvorhaben durchaus Einzelregelungen, die das Konkurrenzverhältnis festlegen.<br />
<br />
Für das Verhältnis zwischen Ansprüchen aus unterschiedlichen Normkomplexen, insbesondere aus Vertrag und Delikt, ergeben sich etwa im UN-Kaufrecht (CISG, [[Warenkauf, internationaler (Einheitsrecht)]]) Regelungsansätze. Diese Konvention schließt Ansprüche eines Käufers aus, die daraus herrühren, dass die Ware einen Personenschaden verursacht hat (Art.&nbsp;5 CISG). Das CISG betrachtet diese Ansprüche, auch wenn sie unter der Herrschaft eines Vertrages entstanden sind, nicht als originäre Fälle der Vertragshaftung, sondern eher als Fälle des [[Deliktsrecht: Allgemeines und lex Aquilia|Deliktsrecht]]s und folgt damit der international verbreiteten Auffassung, dass Produktschäden primär mit den Mitteln des Deliktsrechts auszugleichen sind ([[Produkthaftung]]). Da das CISG außerhalb seines Anwendungsbereichs liegende Materien jedoch naturgemäß nicht regelt, bleibt die Qualifikation als Vertrags- oder Deliktsanspruch dem anwendbaren nationalen Recht überlassen. Das CISG entscheidet das Konkurrenzverhältnis zwischen Vertrags- und Deliktsansprüchen damit aber mittelbar im Sinn des Vorrangs des Deliktsrechts. Die Produkthaftungsrichtlinie der EU greift diese Auffassung auf und gewährt ebenfalls bei Produktschäden Deliktsansprüche unabhängig davon, ob der Geschädigte die Ware durch Vertrag erworben hat (Art.&nbsp;13).<br />
<br />
Auch der Entwurf eines [[Common Frame of Reference|Gemeinsamen Referenzrahmens]] (DCFR, [[Europäisches Zivilgesetzbuch]]) regelt das Konkurrenzverhältnis zwischen dem Deliktsrecht und anderen Nor- menkomplexen. Er bestimmt als Grundsatz, dass Deliktsansprüche Ansprüche aus anderen Rechtsgründen, z.B. aus Vertrag, unberührt lassen (Art.&nbsp;VI.-1:103(d)). Er folgt damit nicht der ''non-cumul''-Lehre, sondern dem Modell der alternativen Anspruchskonkurrenz.<br />
<br />
Konkurrenzregeln finden sich in Vereinheitlichungsprojekten vor allem zum Binnenkonkurrenzverhältnis zwischen Vertragsrechtsbehelfen. Beispiel ist auch hier zunächst das CISG. [[Nacherfüllung]], [[Vertragsaufhebung]], [[Minderung]] und [[Schadensersatz]] stehen im CISG zueinander grundsätzlich im Verhältnis alternativer Konkurrenz, so dass der Gläubiger im Ergebnis nur einen dieser Rechtsbehelfe verfolgen kann (Art.&nbsp;45,&nbsp;46(1), 61,&nbsp;62 CISG). Zudem werden Nachlieferung und Vertragsaufhebung nur gewährt, wenn eine wesentliche Vertragsverletzung vorliegt. Nachlieferung und Vertragsaufhebung nehmen unter den Wahlmöglichkeiten damit Nachrang ein. Zur Nacherfüllung, Vertragsaufhebung oder Minderung kann aber jeweils der Anspruch auf Schadensersatz auch kumulativ hinzutreten, sofern noch ein weitergehender Schaden verblieben ist.<br />
<br />
Die Lösung des CISG für das Binnenkonkurrenzverhältnis zwischen den Vertragsrechtsbehelfen haben sowohl die [[UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts|UNIDROIT PICC]] (Art.&nbsp;7.4.1) als auch die [[Principles of European Contract Law|PECL]] (Art.&nbsp;8:101, 8:102) übernommen. Ebenso folgt der DCFR dieser Lösung (Art.&nbsp;III.-3:102, III.-3:303, III.-3:509(3), III.-3:&nbsp;601(3), IV.A.-4:201).<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Bernhard Windscheid'', Die Actio des römischen Zivilrechts vom Standpunkt des heutigen Rechts, 1856;'' Rolf Dietz'','' ''Anspruchskonkurrenz bei Vertragsverletzung und Delikt, 1934;'' Apostolos Georgiades'', Die Anspruchskonkurrenz im Zivilrecht und Zivilprozessrecht, 1968; ''Detlev Liebs'', Die Klagenkonkurrenz im römischen Recht, 1972; ''Peter Schlechtriem'', Vertragsordnung und außervertragliche Haftung: Eine rechtsvergleichende Untersuchung zur Konkurrenz von Ansprüchen aus Vertrag und Delikt, 1972; ''Tony Weir'', Complex Liabilities, in: IECL X/2, Kap.&nbsp;12, 1983; ''York G. von Amsberg'', Anspruchskonkurrenz, Cumul und Samenloop, 1994; ''Frauke Wernecke'', Die Einheitlichkeit des europäischen und des nationalen Begriffs vom Streitgegenstand, 2003;'' Karl Riesenhuber'', Europäisches Vertragsrecht, 2.&nbsp;Aufl. 2006, Rn.&nbsp;746&nbsp;ff., 882&nbsp;ff.;'' W.V. Horton Rogers'', Winfield & Jolowicz on Tort, 17.&nbsp;Aufl. 2006.<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Concurrent_Claims]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Fristberechnung&diff=1725Fristberechnung2021-09-08T10:44:51Z<p>Richter: </p>
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<div>von ''[[Hartmut Wicke]]''<br />
== 1. Gegenstand und Zweck ==<br />
<br />
Fristen spielen im Privatrechtsverkehr eine erhebliche Rolle. Sie können auf vertraglicher, gesetzlicher oder gerichtlicher Anordnung beruhen und maßgebliche Bedeutung für die Begründung und Durchsetzung von Rechten haben oder einen Zeitraum abgrenzen, innerhalb dessen eine Handlung vorzunehmen ist. Unklarheiten können darüber entstehen, wie eine Frist zu berechnen ist: Ist der erste oder der letzte Tag einer Frist mitzuzählen, inwieweit sind Sonn- und Feiertage zu berücksichtigen, was ist beispielsweise unter einem Monat zu verstehen? Die Funktion von Regelungen über die Berechnung von Fristen ist es, Auslegungszweifel zu vermeiden und Rechtssicherheit zu schaffen. Schon im [[römisches Recht|römischen Recht]] ist das Bedürfnis aufgetreten, für die Berechnung relevanter Zeitbestimmungen Normen aufzustellen. Aus den Digesten wurde der in den meisten modernen Rechtsordnungen bekannte Grundsatz hergeleitet, wonach im Rahmen der Fristberechnung der Anfangstag, in den ein fristauslösendes Ereignis fällt, nicht mitgerechnet wird: ''dies a quo non computatur''. Da die römischen Quellen zur Fristberechnung in dieser Frage und darüber hinaus auch während des gemeinen Rechts aber zu keiner Einheitlichkeit geführt haben, strebten die Kodifikationen insgesamt systematischere Regelungen an. Frühe Vorbilder für Fristenbestimmungen finden sich im Handelsrecht und in den Prozessordnungen, wo sich in dieser Hinsicht vergleichbare Problemlagen ergeben. Der Fristenberechnung vorgelagert ist die Berechnung der Zeit, die im europäischen Raum auf der Grundlage des von ''Papst Gregor XIII.'' im Jahre 1582 eingeführten gregorianischen Kalenders erfolgt.<br />
<br />
== 2. Systematik der europäischen Rechtsordnungen ==<br />
<br />
In der wissenschaftlichen Literatur hat das Thema Fristenberechnung bislang nur geringe Aufmerksamkeit erlangt. Nennenswerte Veränderungsbestrebungen sind nicht zu verzeichnen. Eine Auffälligkeit liegt in der systematisch unterschiedlichen Behandlung der über das Privatrecht hinausgreifenden Problematik der Fristenberechnung in den einzelnen Rechtsordnungen: So wird die Fristberechnung teilweise als eigenständige Materie und übergreifend im Rahmen der Zivilrechtskodifikation geregelt, teilweise nur in speziellen privatrechtlichen Zusammenhängen behandelt oder aber in prozessualen Verfahrensordnungen erfasst. Allgemeine zivilrechtliche Bestimmungen zur Fristberechnung gibt es im deutschen [[Bürgerliches Gesetzbuch|BGB]] (§§&nbsp;186&nbsp;ff.), im österreichischen [[Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch|ABGB]] (§§&nbsp;901&nbsp;f.), im [[schweizerisches Obligationenrecht|Schweizerischen Obligationenrecht]] (Art.&nbsp;75) und im [[Griechisches Zivilgesetzbuch|griechischen ZGB]] (Art.&nbsp;240&nbsp;ff.). Teilweise sind sie, wie im Fall des BGB und des griechischen ZGB, auf gesetzliche, vertragliche und in gerichtlichen Verfügungen enthaltene Fristen anwendbar. Demgegenüber bestimmt der ''[[Code civil]]'' lediglich im besonderen Zusammenhang der Verjährung (Art.&nbsp;2260&nbsp;f.) entsprechend dem römischen Begriff der Zivilkomputation, dass diese nach vollen Tagen und nicht nach Stunden berechnet wird und vollendet ist, wenn der letzte Tag der Frist abgelaufen ist (''ad dies numeratur'','' civiliter computatur''); den Gegensatz dazu bildet die Naturalkomputation, die einen Zeitraum in seiner natürlichen Länge, also nach Stunden und Minuten misst (''ad momenta ''oder'' a momento in momentum computatur''). Umfassendere Vorschriften zur Berechnung von Fristen finden sich in Frankreich demgegenüber im Zivilprozessrecht (Art.&nbsp;641&nbsp;f. CPC); entsprechendes gilt für Belgien (Art.&nbsp;48 ff. ''Code Judiciaire)''.<br />
<br />
== 3. Wesentliche gemein&shy;europäische Grundgedanken ==<br />
<br />
Unabhängig vom systematischen Regelungszusammenhang lassen sich einige gemeinsame Grundsätze über die Fristenberechnung identifizieren, die in den europäischen Rechtsordnungen überwiegend anerkannt sind. Dies gilt zunächst für den oben erwähnten Grundsatz, dass bei einer nach Tagen bemessenen Frist der Tag des fristauslösenden Ereignisses nicht mitgerechnet wird. Es handelt sich insoweit um ein europaweit verbreitetes Rechtsprinzip, das in den vorgenannten allgemeinen zivilrechtlichen Fristenregelungen anzutreffen ist, in Frankreich im Zivilprozessrecht anerkannt ist und das in ähnlicher Form in England aufgrund der Rechtsprechung regelmäßige Geltung beansprucht. Dieser Ansatz beruht, wie schon früh erkannt wurde, auf einer Billigkeitsentscheidung: Geht man – entsprechend dem vorgenannten Grundsatz der Zivilkomputation – von ganzen Tagen aus und fällt das fristauslösende Ereignis in die Mitte eines Tages, würde sich eine Fristverkürzung ergeben, wenn bereits der Resttag in die Berechnung einbezogen würde. Für das Ende einer nach Wochen, Monaten oder Jahren bestimmten Frist wird europaweit vielfach auf den Ablauf des Tages der letzten Woche bzw. des letzten Monats oder Jahres abgestellt, der seiner Benennung oder Zahl nach dem Tag des fristauslösenden Ereignisses entspricht (vgl. ''Chitty on Contracts'', §&nbsp;21-024 bis 026 und ''Halsbury’s Laws of England'', Bd.&nbsp;45, para. 237; §§&nbsp;187 Abs.&nbsp;1 und 188 Abs.&nbsp;1 BGB, §&nbsp;902 ABGB, Art.&nbsp;241&nbsp;f. griech. ZGB, Art.&nbsp;52 Abs.&nbsp;1 belg. ''Code Judiciare'', Art.&nbsp;279 lit.&nbsp;c portug. ''Código civil''<nowiki>; </nowiki>s. auch Art.&nbsp;80 der Verfahrensordnung des [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] sowie Schlussanträge des Generalanwalts''Mancini'' zu EuGH Rs.&nbsp;C-152/85 – ''Misset'', Slg. 1987, 223; ferner Art.&nbsp;58 des Vorentwurfs eines Europäischen Gesetzbuchs). Weit verbreitet ist ferner die Regel, wonach die Frist bis zum nächsten Arbeitstag verlängert wird, wenn der letzte Tag der Frist ein Feiertag oder ein arbeitsfreier Tag ist (s. z.B. §&nbsp;903 ABGB, Art.&nbsp;53 belg. ''Code Judiciare'', Art.&nbsp;642 frz. CPC; Art.&nbsp;279 lit.&nbsp;e portug. ''Código civil''<nowiki>; ferner das niederländische </nowiki>''Algemene termijnenwet''<nowiki>; in England gilt dies generell nur für Handlungen, die von einem Gericht oder vor einem Gericht vorgenommen werden sollen, </nowiki>''Halsbury’ Laws of England'', Bd.&nbsp;45, para 239).<br />
<br />
== 4. Frühe europäische Einheits&shy;projekte ==<br />
<br />
Auf europäischer Ebene sind zu Beginn der 1970er Jahre zwei wichtige Dokumente verabschiedet worden, welche die Fristenproblematik eigenständig in allgemeiner Form regeln und für die weitere Rechtsentwicklung von nachhaltiger Bedeutung sind. An erster Stelle zu nennen ist die VO&nbsp;1182/71 vom 3.6.1971 zur Festlegung der Regeln für die Fristen, Daten und Termine. Die Verordnung gilt nach ihrem Art.&nbsp;1 für Rechtsakte, die Rat und Kommission aufgrund des EG-Vertrags oder des Euratom-Vertrags erlassen haben bzw. erlassen werden. Inhaltlich weisen die Regelungen der Verordnung eine weit reichende Übereinstimmung mit den allgemeinen Vorschriften zur Fristberechnung in den Zivilrechtskodifikationen auf, insbesondere mit den §§ 186&nbsp;ff. BGB. Die Bestimmungen des Art. 3 der Verordnung wurden in jüngerer Zeit fast wortgleich in Art.&nbsp;I.-1:110 des DCFR übernommen (s.u. 6.). <br />
<br />
In zeitlicher Nähe zur VO&nbsp;1182/71 wurde das Europäische Übereinkommen über die Berechnung von Fristen vom 16.5.1972 durch den [[Europarat (Privatrechtsvereinheitlichung)|Europarat]] nach einer Befragung der Mitgliedstaaten erlassen. Das Europäische Fristenübereinkommen wurde bislang in den Staaten Liechtenstein, Luxemburg, Österreich und Schweiz ratifiziert und beansprucht dort unmittelbare Geltung. Ziel des Übereinkommens ist es, durch Vereinheitlichung der Vorschriften über die Berechnung von Fristen sowohl für innerstaatliche als auch für internationale Zwecke eine engere Verbindung zwischen den Mitgliederstaaten herzustellen. Seinem Regelungsumfang nach beschränkt sich das Europäische Fristenübereinkommen aber nicht auf rechtsgeschäftliche Fristenbestimmungen, sondern erstreckt sich auch auf die Berechnung von Fristen, die durch Gesetz, Gericht, eine Verwaltungsbehörde oder ein Schiedsgericht bestimmt worden sind (Art.&nbsp;1(1)). Das Europäische Fristenübereinkommen greift – ebenso wie die VO&nbsp;1182/ 71 – zentrale Regelungen zur Fristenberechnung auf, die, unabhängig vom systematischen Regelungsstandort, auch in den meisten europäischen Rechtsordnungen bekannt sind. So wird auch hier der ''dies a quo'' nicht mitgerechnet (Art. 3(1)), bei einer in Wochen, Monaten oder Jahren bemessenen Frist wird auf den Ablauf des Tages der letzten Woche bzw. des letzten Monats oder Jahres abgestellt, der seiner Benennung oder Zahl nach dem ''dies a quo ''entspricht (Art. 4, 3(1)), die Frist wird auf den nächstfolgenden Werktag verlängert, wenn der letzte Tag der Frist auf einen Samstag, Sonntag oder gesetzlichen Feiertag fällt (Art. 5).<br />
<br />
== 5. Die Regeln der PECL und der UNIDROIT PICC ==<br />
<br />
Sowohl die [[Principles of European Contract Law|PECL]] als auch die [[UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts|UNIDROIT PICC]] enthalten einen eigenständigen Artikel zum Thema Fristenberechnung (vgl. Art.&nbsp;1:304 PECL; Art.&nbsp;1.12 UNIDROIT PICC). Da beide Regelwerke Grundsätze zum Vertragsrecht kodifizieren, bezieht sich der Anwendungsbereich dieser Vorschriften auf Fristen, die von den Parteien eines Vertrags gesetzt wurden. Zumindest Art.&nbsp;1.12 UNIDROIT PICC erstreckt sich nach dem Wortlaut der Vorschrift hingegen nicht auf gesetzliche Fristen oder solche, die in gerichtlichen Verfügungen enthalten sind. Ihrer Natur nach handelt es sich bei diesen Bestimmungen um Auslegungsregeln, die nur dann zur Anwendung gelangen, wenn die Beteiligten keine vorrangige Vereinbarung getroffen haben. Beide Regelwerke sehen einerseits vor, dass in die Frist fallende gesetzliche Feiertage oder gesetzlich arbeitsfreie Tage nicht mitgezählt werden, bestimmen aber andererseits – im Einklang mit der vorgenannten Regelung in den europäischen Rechtsordnungen –, dass sich die Frist bis zum ersten darauf folgenden Arbeitstag verlängert, wenn der letzte Tag der Frist ein gesetzlicher Feiertag oder ein gesetzlicher arbeitsfreier Tag ist. Dem grenzüberschreitenden Charakter entsprechend tragen sowohl die PECL als auch die UNIDROIT PICC dem Umstand Rechnung, dass an unterschiedlichen Orten verschiedene Feiertage gelten können und erklären den Ort der Anschrift des Empfängers oder den Ort, an dem die vorgeschriebene Handlung zu verrichten ist (Art.&nbsp;1:304(2)2 PECL) bzw. den Ort der Niederlassung der Partei für maßgeblich, welche die Handlung vorzunehmen hat (Art.&nbsp;1.12(2) UNIDROIT PICC). Die UNIDROIT PICC gehen in ihrem internationalen Regelungscharakter noch einen Schritt weiter und bestimmen als maßgebliche Zeitzone diejenige des Orts der Niederlassung der Partei, welche die Frist setzt (Art.&nbsp;1.12 (3) UNIDROIT PICC) – eine Vorschrift, die insbesondere bei Transaktionen über Kontinente hinweg Bedeutung gewinnt.<br />
<br />
Während sich die Fristenregelung der UNIDROIT PICC in diesen Festlegungen erschöpft und insbesondere keine allgemeine Vorschrift zur Fristberechnung vorgesehen ist, verfolgen die PECL einen weitergehenden systematischen Ansatz. Es findet sich hier die europaweit verbreitete Regelung, dass Fristen vom Beginn des darauf folgenden Tages bis Mitternacht des letzten Tages laufen (Art.&nbsp;I:304(3)); einschränkend fügen die PECL hinzu, dass eine vor Ablauf der Frist vorzunehmende Handlung bis zum Geschäftsschluss des letzten Tages erfolgen muss (s. auch Art.&nbsp;52 Abs.&nbsp;2 belg. ''Code Judiciare''<nowiki>; §&nbsp;358 HGB). Erklärtermaßen ist Vorbild für diese Fristenregelung Art.&nbsp;3 des Europäischen Übereinkommens über die Berechnung von Fristen. Im Unterschied zum Europäischen Fristenübereinkommen lassen die PECL jedoch offen, wie das Ende einer nach Wochen, Monaten oder Jahren zu bemessenden Frist zu bestimmen ist.</nowiki><br />
<br />
Aus den PECL zu erwähnen ist schließlich noch die Bestimmung über den Fristbeginn in Art.&nbsp;I:304(1), die Verzögerungen zwischen Absenden und Empfang einer Mitteilung Rechnung tragen soll: Im Normalfall ist demnach als Anfangsdatum das in dem Schriftstück angegebene, in Abwesenheit eines solchen der Augenblick des Zugangs beim Empfänger maßgeblich. Diese praktisch bedeutsame Regelung wurde später in den Draft [[Common Frame of Reference|DCFR]] übernommen.<br />
<br />
== 6. Die Fristberechnung nach dem DCFR ==<br />
<br />
Der Draft [[Common Frame of Reference|DCFR]] enthält in Art. I.-1:110 eine umfangreiche Vorschrift zur Fristenberechnung, die sich inhaltlich eng an Art. 3 der VO&nbsp;1182/71 anlehnt. Der Anwendungsbereich der Vorschrift erstreckt sich auf alle Fristberechnungen, die nach dem Zweck des DCFR relevant werden können, also insbesondere auf vertraglich gesetzte Fristen, wohl aber auch auf Fristen, die in dem Regelwerk selbst vorgesehen sind. Einige wesentliche Bestimmungen des DCFR entsprechen – im Einklang mit Art. 3 der VO&nbsp;1182/71 – dem bereits erwähnten europäischen Standard: Der Tag eines fristauslösenden Ereignisses wird nicht mit berechnet (Art. I.-1:110(3)). Fristen enden regelmäßig mit Ablauf des letzten Tages (Art. I.-1:110(2)). Fällt der letzte Tag einer nicht nach Stunden berechneten Frist auf einen Feiertag, Sonntag oder Sonnabend, endet die Frist mit Ablauf des folgenden Arbeitstags, soweit die Frist nicht rückwärts berechnet wird. Als modern erscheint eine Regelung zu nach Stunden bemessenen Fristen: Auch hier wird regelmäßig nicht von Moment zu Moment gezählt, vielmehr wird die erste (angebrochene) Stunde nicht mitgerechnet, es sei denn die Frist beginnt ab einem konkret bestimmten Zeitpunkt (Art. I.-1:110(2)(a), (4)(a); s. auch Art. 3(1), (2)(a) der VO&nbsp;1182/71). Zu Zweifeln Anlass gibt die Regelung über das Fristende: Eine nach Wochen, Monaten oder Jahren bemessene Frist endet danach mit Ablauf der letzten Stunde des Tages der letzten Woche, des letzten Monats oder des letzten Jahres, der dieselbe Bezeichnung oder dieselbe Zahl wie der Tag des Fristbeginns trägt (Art. I.-1:110(2)(c); ebenso Art. 3(2)(c) der VO&nbsp;1182/71). Beginnt die Frist mit dem Eintritt eines Ereignisses oder der Vornahme einer Handlung und wird der Tag des Ereignisses bzw. der Handlung nach Maßgabe des DCFR daher nicht mitgerechnet, würde beispielsweise die Frist bei Ereignis bzw. Handlung am 16.1. erst am 17.2. enden, was kontraintuitiv erscheint und nicht dem Regelmodell der meisten Einzelstaaten entspricht (vgl. die Nachweise oben unter 3.). Bei einer nach Monatsbruchteilen berechneten Frist wird nach dem DCFR für die Berechnung der Monatsbruchteile ein Monat von dreißig Tagen zugrunde gelegt (Art. I.-1:110(2)(d); im Anschluss an Art. 3(2)(d) der VO&nbsp;1182/71).<br />
<br />
== 7. Weitere internationale Bestimmungen ==<br />
<br />
Das UN-Kaufrecht sieht keine ausdrückliche Regelung über die Berechnung von Fristen vor. Die Lücke ist nach Maßgabe der allgemeinen Auslegungsgrundsätze des Übereinkommens zu schließen (vgl. Art.&nbsp;7(1), Art.&nbsp;8, Art.&nbsp;20(2)). Eine ausführliche Regelung zur Berechnung gerichtlicher Fristen findet sich schließlich in Art.&nbsp;80&nbsp;f. der Verfahrensordnung des EuGH.<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Hans Georg Hermann'', §§&nbsp;186&nbsp;ff., in: Mathias Schmoeckel, Joachim Rückert, Reinhard Zimmermann (Hg.), Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Bd.&nbsp;I, 2003; ''Tilman Repgen'', §§&nbsp;186&nbsp;ff., in: Julius v. Staudingers'' ''Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen, 13.&nbsp;Bearb. 2003; ''Michaela Schmitz'', Die Fristberechnung nach römischem Recht, 2002; ''Stefan Vogenauer'', ''Jan Kleinheisterkamp'', Commentary on the UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts, 2009.<br />
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[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Computation_of_Time_Limits]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Pflichtversicherung&diff=1723Pflichtversicherung2021-09-08T10:44:11Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Robert Koch]]''<br />
== 1. Gegenstand, Zweck und Funktion ==<br />
Die Pflichtversicherung ist dadurch gekennzeichnet, dass der Versicherungsnehmer durch ein Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes durch Verordnung oder Satzung einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft oder – wie bei der Haftpflichtversicherung für Luftfahrtunternehmen und Luftfahrzeugbetreiber ([[Luftverkehr (Deliktische Haftung)]]) – durch eine gemeinschaftsrechtliche [[Verordnung]] zu ihrem Abschluss verpflichtet ist. Insoweit besteht ein gesetzlicher Zwang für den Versicherungsnehmer, sich zu versichern. Jedoch entsteht das Versicherungsverhältnis durch Abschluss eines privatrechtlichen Vertrages und nicht – wie im Sozialversicherungsrecht – unmittelbar kraft Gesetzes. Im Unterschied zur gesetzlichen Sozialversicherung bleiben die Regeln über das Zustandekommen von [[Versicherungsvertrag|Versicherungsverträgen]] anwendbar und behält der Verpflichtete die Freiheit der Auswahl des Versicherers. <br />
<br />
Die Gegenkategorie zur Pflichtversicherung bildet im Privatversicherungsrecht die ''freiwillige Versicherung''. Damit sind solche Versicherungen gemeint, die ohne gesetzlichen Zwang begründet werden. Freiwillige Versicherungen, zu deren Abschluss der Versicherungsnehmer gegenüber Dritten vertraglich verpflicht ist, fallen nicht unter den Begriff der Pflichtversicherung. An einer gesetzlichen Verpflichtung fehlt es auch, wenn die Pflicht zum Abschluss einer ansonsten freiwilligen Versicherung auf Verlangen einer Behörde, eines Gerichts, einer tarifvertraglichen Regelung oder auf Standesrecht zurückzuführen ist. Lässt die gesetzliche Regelung dem Betroffenen die Wahl, ob er eine Versicherung abschließt oder in anderer Form Sicherheit leistet, liegt eine„alternative Versicherungspflicht“ vor. Ob die in Ausübung der Wahlmöglichkeit abgeschlossene Versicherung denselben Regeln unterliegt, die für Versicherungen gelten, zu deren Abschluss der Versicherungsnehmer unmittelbar verpflichtet ist, hängt von den einschlägigen gesetzlichen Vorschriften ab. <br />
<br />
Pflichtversicherungen können grundsätzlich alle Risiken zum Gegenstand haben, die in der Nichtpersonenversicherung (Beschädigung, Zerstörung und Abhandenkommen von Sachen; Inanspruchnahme auf [[Schadensersatz]] durch Dritte; Zahlungsunfähigkeit) und in der Personenversicherung (Unfall, Krankheit/Pflege, Berufsunfähigkeit, Leben) versicherbar sind. <br />
<br />
Hinsichtlich der Zwecke der Pflichtversicherung ist innerhalb der [[Schadenversicherung]] zwischen Sach- und Haftpflichtversicherung zu unterscheiden. Die obligatorische ''Sachversicherung'' dient sowohl dem Interesse des Versicherungspflichtigen als auch dem Interesse der durch den Versicherungsfall wirtschaftlich nachteilig Betroffenen. Dies lässt sich am Beispiel der obligatorischen Gebäudefeuerversicherung'' ''illustrieren,'' ''deren Anfänge bis in das 16.&nbsp;Jahrhundert zurückreichen. Sie besteht noch heute in einigen europäischen Versicherungsrechtsordnungen (z.B. Deutschland, Portugal, Schweiz, England) und hat Eingang in Art.&nbsp;IX.-5:201(3) DCFR gefunden. Sie hat(te) die Aufgabe, den vom Brand betroffenen Gebäudeeigentümer vor wirtschaftlicher Not und die Realgläubiger vor dem Verlust der Haftungssubstanz zu schützen, Wohnungen und Arbeitsplätze zu erhalten und dem Fiskus eine wichtige Besteuerungsgrundlage zu sichern. Bei der obligatorischen ''[[Haftpflichtversicherung]]'' steht dagegen der Schutz des Geschädigten im Vordergrund. Ihm soll das Risiko genommen werden, seine Ersatzansprüche mangels Solvenz des Schädigers nicht realisieren zu können. Der Schutzgedanke findet seinen besonderen Ausdruck darin, dass es dem Versicherer verwehrt ist, dem Geschädigten Einwendungen aus dem Versicherungsvertrag entgegenzuhalten, er jedoch beim Versicherungsnehmer Rückgriff nehmen kann, soweit er diesem gegenüber zur Ablehnung oder Kürzung seiner Leistung berechtigt ist. Eine herausgehobene Stellung hat der Geschädigte in der ''Kfz-Haftpflichtversicherung''. Dort kann er seinen Haftpflichtanspruch direkt gegenüber dem Haftpflichtversicherer geltend machen (''action directe''). In der obligatorischen ''Personenversicherung'' (Kranken-, Pflege-, Berufsunfähigkeits- oder Unfallversicherung) geht es demgegenüber in erster Linie um den Schutz des Versicherungsnehmers. Soweit die Pflichtversicherung kraft Gesetzes zugunsten Dritter als Versicherung für fremde Rechnung abzuschließen ist, ist sie zusätzlich auf deren soziale Risikoabsicherung gerichtet. <br />
<br />
Die private Pflichtversicherung hat ''Risikovorsorgefunktion''. Die Versicherungspflichtigen werden durch den verordneten Versicherungsschutz zur Eigenvorsorge für sich und die Mitversicherten gegen die sie treffenden Vermögensgefahren gezwungen. Hierdurch werden die staatlichen sozialen Sicherungssysteme entlastet. Versicherungstechnisch wirkt sich vorteilhaft aus, dass das für den Risikoausgleich erforderliche Gesetz der großen Zahl wegen der Vielzahl von Versicherungspflichtigen leichter erreicht werden kann. Für den Versicherer vermindert sich dadurch die Gefahr einer negativen Risikoauslese, und für den Versicherungspflichtigen verbilligt sich der Versicherungsschutz. Andererseits stellt der gesetzliche Zwang zum Abschluss einer Versicherung einen Eingriff in die Privatautonomie des Versicherungspflichtigen dar. Ist die Ausübung eines Berufs oder die Führung eines Unternehmens vom Abschluss oder dem Fortbestehen einer Versicherung abhängig, sind zudem die Berufsfreiheit und das Eigentumsrecht des Versicherungspflichtigen betroffen. Soweit Pflichtversicherungen Mindeststandards der Versicherungsdeckung festlegen, greifen sie zudem in die Vertragsgestaltungsfreiheit der Versicherer ein. Die Einführung einer Pflichtversicherung bedarf deshalb besonderer Rechtfertigung. <br />
<br />
In Deutschland geht man davon aus, dass folgende Voraussetzungen für eine Pflichtversicherung erfüllt sein müssen: (i)&nbsp;Es muss eine besondere Gefahr für die Allgemeinheit oder einen größeren Personenkreis bestehen. (ii)&nbsp;Bei einem erheblichen Teil der Schadenfälle muss die Gefahr bestehen, dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Betroffenen nicht ausreicht, um die Vermögensnachteile auszugleichen, die er selbst oder ein geschädigter Dritter (auch die Umwelt) infolge einer Handlung erlitten hat, die den Dritten zum Schadensersatz berechtigt. (iii)&nbsp;Die Einhaltung einer gesetzlichen Pflichtversicherung muss kontrollierbar sein. (iv)&nbsp;Es muss gewährleistet sein, dass der erforderliche Versicherungsschutz auf dem Markt angeboten wird. (v)&nbsp;Die Versicherungspflicht muss zu wirtschaftlich tragbaren Prämien verfügbar sein. <br />
<br />
== 2. Tendenzen der Rechtsentwicklung ==<br />
Der Pflichtversicherung kommt in den europäischen Staaten unterschiedliche Bedeutung zu. In Frankreich besteht in rund 100&nbsp;Fällen die gesetzliche Pflicht, sich gegen ein bestimmtes Risiko zu versichern. In Portugal beläuft sich die Zahl der Pflichtversicherungen auf mehr als 70. Belgien kennt mehrere Dutzend verschiedener Versicherungspflichten, und in Deutschland beläuft sich die Zahl der bundesgesetzlichen Pflichtversicherungen nach einer Aufstellung der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) mittlerweile auf über 30&nbsp;Fälle. In anderen Ländern ist nur die Kfz-Haftpflichtversicherung obligatorisch. Einige Mitgliedstaaten der EU haben sich auf die Einführung der gemeinschaftsrechtlich vorgegebenen Pflichtversicherungen (s.u. 4.) beschränkt. <br />
<br />
Nur in Ausnahmefällen steht der Versicherungspflicht ein Annahmezwang des Versicherers gegenüber. Einige Länder sehen einen Kontrahierungszwang in der Kfz-Haftpflichtversicherung vor. In Dänemark besteht darüber hinaus ein Kontrahierungszwang in der Hundehalterhaftpflichtversicherung, soweit sich der Versicherungsnehmer den [[Allgemeine Geschäftsbedingungen|AGB]] des Versicherers unterwirft. Vereinzelt besteht ein Annahmezwang auch für die obligatorische Gebäudefeuerversicherung. In Deutschland existiert ein Kontrahierungszwang in der obligatorischen privaten Pflegeversicherung und zukünftig auch in der obligatorischen privaten Krankenversicherung. In Schweden kann sich ein Annahmezwang des Versicherers gegenüber Verbrauchern ergeben, wenn es sich um eine Massenversicherung handelt.<br />
<br />
Die unterschiedliche Verbreitung der Pflichtversicherung dürfte im Wesentlichen darauf zurückzuführen sein, dass es vor allem ''sozial- und wirtschaftspolitische Erwägungen'' sind, die die nationalen Gesetzgeber dazu bewegen, für die Abdeckung eines bestimmten Risikos eine Versicherungspflicht einzuführen. Der insoweit den Gesetzgebern zukommende Gestaltungsspielraum wird praktisch nur dadurch begrenzt, dass der erforderliche Versicherungsschutz auf dem Markt verfügbar sein muss. Dies ist in der Regel unproblematisch, wenn die notwendige Deckung bereits im Rahmen freiwilliger Versicherungen angeboten wird. Anderenfalls bedarf es der Mitwirkung der Versicherungswirtschaft. Ist diese nicht bereit, die gewünschte Deckung zur Verfügung zu stellen, weil sie das Risiko etwa von Elementarschäden, Schäden infolge von Terrorakten oder des Einsatzes der Gentechnik oder Nanotechnologie für nicht versicherbar hält, kann eine Pflichtversicherung nicht eingeführt werden.<br />
<br />
Gemessen an der Zahl der bestehenden Pflichtversicherungen kommt der obligatorischen [[Haftpflichtversicherung]] die größte Bedeutung zu. Sie begegnet einem sowohl in Bereichen, in denen eine [[Gefährdungshaftung]] besteht, als auch in Fällen reiner Verschuldenshaftung. Neben den gemeinschaftsrechtlich vorgegeben Haftpflichtversicherungen (s.u. 4.) kennen die meisten europäischen Versicherungsrechtsordnungen obligatorische Haftpflichtversicherungen im Hinblick auf besonders gefahrgeneigte Tätigkeiten (z.B. die Jagd), das Halten von Tieren (z.B. Hunden), bestimmte berufliche Tätigkeiten (z.B. der Rechtsanwälte, Notare, Architekten, Wirtschaftsprüfer; [[Berufshaftung]]), den Betrieb gefährlicher/umweltgefährdender Anlagen ([[Umwelthaftung]]), den gewerblichen Güterverkehr ([[Binnenschifffahrt]]; [[Eisenbahnverkehr]]; [[Luftverkehr (Deliktische Haftung)]]; [[Straßengüterverkehr]]), die Herstellung und/oder den Vertrieb medizinischer Produkte ([[Produkthaftung]]). <br />
<br />
Obligatorische Sachversicherungen bestehen für den Eigentümer von Gebäuden oder Objekten von Bedeutung für die Allgemeinheit (z.B. Kunstwerke). Obligatorische Personenversicherungen betreffen das (Arbeits&#8209;)Unfall-, Pflege- und Krankheitsrisiko. <br />
<br />
In der Tendenz dürfte die Zahl der Pflichtversicherungen vor allem zur Absicherung von Haftpflichtrisiken aus gewerblicher und selbständig beruflicher Tätigkeit als Reaktion auf die Verschärfung bestehender und die Einführung neuer Haftungstatbestände weiter zunehmen ([[Berufshaftung]]). Nicht zuletzt im Hinblick darauf, dass die Versicherungswirtschaft der Pflichtversicherung kritisch bis ablehnend gegenübersteht, ist jedoch zu erwarten, dass die nationalen Gesetzgeber eine „alternative“ Versicherungspflicht einführen, d.h. den Betroffenen die Möglichkeit geben, das Gebot der Deckungsvorsorge auch anders als durch Haftpflichtversicherung zu erfüllen, z.B. durch Stellung finanzieller Sicherheiten Dritter (z.B. Bankgarantien &#91[[Garantie]] &#93;), Gründung einer Versicherungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit oder die/durch Beteiligung an kollektiven Entschädigungsfonds.<br />
<br />
== 3. Ausgestaltung der obligatorischen Versicherung ==<br />
Eine Pflichtversicherung kann ihren Zweck nur dann erfüllen, wenn ''erstens'' ein Mindestinhalt'' ''vorgeschrieben wird, der den versicherten Schaden (Sach-, Personen- oder Vermögensschaden), die versicherte Gefahr (z.B. Feuer, Inanspruchnahme auf [[Schadensersatz]], medizinisch notwendige Heilbehandlung wegen Krankheit oder Unfallfolgen) und den Umfang der Leistungspflicht des Versicherers (Deckungssumme, Ersatzwertregelungen) umfasst. ''Zweitens'' muss sichergestellt sein, dass der Zweck der Pflichtversicherung nicht durch die Versicherungsbedingungen gefährdet wird. Dies bedeutet, dass es dem Versicherer verwehrt sein muss, dem Geschädigten (obligatorische Haftpflichtversicherung) oder dem Begünstigten (obligatorische Sachversicherung) bis zur Höhe der Versicherungssumme Einwendungen aus dem Versicherungsvertrag entgegenzuhalten, die an das persönliche Verhalten des Versicherungsnehmers anknüpfen (Ausschlüsse, Obliegenheitsverletzungen). Dies gilt grundsätzlich auch hinsichtlich eines zwischen dem Versicherer und dem Versicherungsnehmer vereinbarten Selbstbehalts. ''Drittens'' muss ein Überwachungssystem geschaffen werden, das sicherstellt, dass die Versicherungspflichtigen auch tatsächlich versichert sind.<br />
<br />
Diesen Vorgaben tragen die europäischen Länder im Wesentlichen Rechnung. Ganz überwiegend wird in der obligatorischen Haftpflichtversicherung eine Mindestdeckungssumme vorgegeben. In der obligatorischen Gebäudeversicherung bestimmt sich der Ersatzwert nach den Wiederherstellungskosten. In Deutschland ist der obligatorische Haftpflichtversicherer dem Geschädigten gegenüber nicht zur Leistung verpflichtet, wenn der Versicherungsnehmer den subjektiven Risikoausschluss der vorsätzlichen Schadenzufügung verwirklicht. Diese Deckungslücke wird in der obligatorischen Kfz-Haftpflichtversicherung durch „Entschädigungsfonds für Schäden aus Kraftfahrzeugunfällen“ kompensiert, bei Notarhaftungsfällen durch eine von der Notarkammer zusätzlich abgeschlossene Vertrauensschadenversicherung. Auch in anderen Staaten gibt es Entschädigungsfonds, zumeist für Verkehrsschäden. In Italien gibt es einen Fonds für die Opfer von Jagdunfällen, der dann in Anspruch genommen werden kann, wenn sich der „Täter“ nicht identifizieren lässt, sowie den Fonds für Versicherungsmakler. In dem Umfang, in dem der Versicherer leistet, kann er üblicherweise gegen seinen Versicherungsnehmer Rückgriff nehmen, soweit er nach dem [[Versicherungsvertrag]] oder nach den Regeln des Versicherungsvertragsrechts zur Ablehnung oder Kürzung seiner Leistung berechtigt wäre. <br />
<br />
Unterschiede bestehen in Bezug auf die Möglichkeit der direkten Inanspruchnahme des Versicherers in der obligatorischen Haftpflichtversicherung. Während in manchen europäischen Staaten (z.B. Griechenland, Spanien, Belgien, Luxemburg, Frankreich) der Geschädigte stets einen direkten Anspruch gegen den Versicherer des Haftpflichtigen geltend machen kann, ist er in anderen Staaten auf den Bereich der obligatorischen Kfz-Haftpflichtversicherung beschränkt. In Deutschland hat der Geschädigte außerhalb der obligatorischen Kfz-Haftpflichtversicherung einen Direktanspruch gegen Versicherer nur im Falle der Insolvenz oder bei unbekanntem Aufenthalt des versicherungspflichtigen Schädigers. <br />
<br />
Zur Sicherstellung des gesetzlich vorgeschriebenen Versicherungsschutzes werden dem Versicherer bei obligatorischen Haftpflichtversicherungen in der Regel besondere Pflichten auferlegt. Er muss dem Versicherungsnehmer eine Versicherungsbestätigung aushändigen. Vielfach ist der Versicherer darüber hinaus verpflichtet, den zuständigen Behörden den Abschluss des Versicherungsvertrages und den Versicherungsbeginn mitzuteilen. In diesem Fall trifft ihn zumeist auch die Pflicht, den Behörden Unterbrechungen und die Beendigung, zum Teil auch Veränderungen des Versicherungsvertrages anzuzeigen.<br />
<br />
== 4. Einheitsrecht ==<br />
Auf der Ebene völkerrechtlicher Konventionen sieht das Straßburger Übereinkommen des Europarats über die obligatorische Kfz-Haftpflichtversicherung von 1959 die Einführung einer obligatorischen Haftpflichtversicherung und eines Direktanspruchs des Geschädigten gegen den Versicherer vor. Das Montrealer Übereinkommen von 1999 über die Beförderung im internationalen Luftverkehr hat die Einführung einer obligatorischen Haftpflichtversicherung für Luftfrachtführer zum Gegenstand. Eine „alternative“ Versicherungspflicht in dem Sinne, dass die Betroffenen „eine Versicherung oder sonstige finanzielle Sicherheit, wie etwa die Bürgschaft einer Bank oder eines ähnlichen Finanzinstituts, aufrechtzuerhalten“ haben, sehen u.a. vor das Übereinkommen von 1996 über Haftung und Entschädigung für Schäden bei der Beförderung gefährlicher und schädlicher Stoffe auf See (HNS-Übereinkommen), das Übereinkommen von 1969 über die zivilrechtliche Haftung für Ölverschmutzungsschäden, das Übereinkommen von 2001 über die zivilrechtliche Haftung für Bunkerölverschmutzungsschäden (Bunkeröl-Übereinkommen) sowie das Protokoll von 2002 zum Athener Übereinkommen von 1974 über die Beförderung von Reisenden und ihrem Gepäck auf See.<br />
<br />
Die [[Europäische Gemeinschaft]] griff 1972 den Gedanken einer obligatorischen Haftpflichtversicherung für Kraftfahrzeuge mit der 1.&nbsp;Kfz-Haftpflicht-RL (RL&nbsp;72/166) auf. Mittlerweile sieht das Gemeinschaftsrecht durch Verordnung eine obligatorische Haftpflichtversicherung für Luftfahrtunternehmen und Luftfahrzeugbetreiber hinsichtlich ihrer luftverkehrsspezifischen Haftung in Bezug auf Fluggäste, Reisegepäck, Güter und Dritte vor (VO&nbsp;785/2004). Die versicherten Risiken müssen Kriegshandlungen, Terrorakte, Entführungen, Sabotage, die unrechtmäßige Inbesitznahme von Luftfahrzeugen und Aufruhr einschließen. Des Weiteren sind Eisenbahnunternehmen ([[Eisenbahnverkehr]]) nach der Verordnung über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr (VO&nbsp;1371/2007) verpflichtet, ihre Unfallhaftpflicht insbesondere für Fahrgäste, Gepäck, Fracht, Post und Dritte durch eine ausreichende Versicherung zu decken oder gleichwertige Vorkehrungen zu treffen. <br />
<br />
Auf Richtlinienebene sind die 2.-5.&nbsp;Kfz-Haftpflichtversicherungs-RL (2.:&nbsp;RL&nbsp;84/5; 3.:&nbsp;RL 90/232; 4.:&nbsp;RL&nbsp;2000/26; 5.:&nbsp;RL&nbsp;205/14) zu nennen. Die Versicherungsvermittler-RL (RL&nbsp;2002/92) sieht die Einführung einer Berufshaftpflichtversicherung für [[Versicherungsvermittler]] vor. Nach der Zulassungs-RL (RL&nbsp;2004/114) über die Bedingungen für die Zulassung von Drittstaatsangehörigen zur Absolvierung eines Studiums oder zur Teilnahme an einem Schüleraustausch, einer unbezahlten Ausbildungsmaßnahme oder einem Freiwilligendienst müssen Drittstaatsangehörige, die die Zulassung zu einem Studium in der EU beantragen, über eine Krankenversicherung verfügen, die sich auf alle Risiken erstreckt, die normalerweise in dem betreffenden Mitgliedstaaten versichert sind.<br />
<br />
Ursprüngliche Pläne der [[Europäische Kommission|Europäischen Kommission]], eine obligatorische Haftpflichtversicherung zur Abdeckung der Umwelthaftungsrisiken in der Umwelthaftungs-RL (RL&nbsp;2004/35) vorzusehen, sind auf Druck der Versicherungswirtschaft nicht verwirklicht worden ([[Umwelthaftung]]). Gleiches gilt für die Futtermittelhygiene-VO (VO&nbsp;183/2005). In der Dienstleistungs-RL (RL&nbsp;2006/123) hat die EU es zwar für wünschenswert gehalten, dass jeder Marktteilnehmer, dessen Dienstleistungen ein unmittelbares und besonderes Risiko für die Gesundheit, Sicherheit oder die finanzielle Lage des Dienstleistungsempfängers oder eines Dritten darstellen, grundsätzlich über eine angemessene Berufshaftpflichtversicherung oder eine andere gleichwertige oder vergleichbare Sicherheit verfügt. Sie hat sich im Ergebnis jedoch gegen detaillierte Vorschriften für die Versicherungsdeckung ausgesprochen, um den Dienstleistungserbringern und Versicherern Spielraum für die Aushandlung auf Art und Ausmaß des Risikos abgestimmter Versicherungspolicen zu geben.<br />
<br />
Konkrete Vorgaben zur Mindestversicherungssumme enthalten die VO&nbsp;785/2004 für Luftfahrtunternehmen und Luftfahrzeugbetreiber hinsichtlich ihrer luftverkehrsspezifischen Haftung, die Versicherungsvermittler-RL und die 2. und 5. Kfz-Haftpflichtversicherungs-RL. Die Verordnung über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr beschränkt sich auf die Aussage, dass sich ein Eisenbahnunternehmen ausreichend gegen die Unfallhaftpflicht zu versichern hat. Über die Festlegung der Mindestversicherungssumme hinausgehende Regelungen enthalten die Kfz-Haftpflichtversicherungs-RL’en. Festgelegt werden die versicherten Schäden und die versicherten Personen. Klauseln, nach denen bei einem bestimmten Verhalten des Versicherungsnehmers der Versicherungsschutz ausgeschlossen ist, können den geschädigten Dritten nicht entgegengehalten werden. Für nicht versicherte oder nicht ermittelte Kfz muss eine Entschädigungsstelle aufkommen.<br />
<br />
Auf der Ebene des ''Kollisionsrechts'' gestattet die 2.&nbsp;RL Schaden (RL&nbsp;88/357) den Mitgliedstaaten die Einführung einer Versicherungspflicht. Macht ein Mitgliedstaat hiervon Gebrauch, muss der Versicherungsvertrag nach der 2.&nbsp;RL Schaden den von diesem Mitgliedstaat vorgeschriebenen spezifischen Bestimmungen für diese Versicherung entsprechen. Im Falle des Widerspruchs zwischen dem Recht des Mitgliedstaats, in dem das Risiko belegen ist, und demjenigen des Mitgliedstaats, der die Versicherungspflicht vorschreibt, gilt nach der 2.&nbsp;RL Schaden das letztere. Schließlich gestattet Art.&nbsp;8(4)(c) der 2.&nbsp;RL Schaden den Mitgliedstaaten auf den Vertrag betreffend eine Pflichtversicherung das Recht des Staates anzuwenden, der die Versicherungspflicht vorschreibt. Die Rom&nbsp;I-VO (VO&nbsp;593/2008), die für alle Verträge gilt, die nach dem 17.12.2009 geschlossen werden, enthält in Art.&nbsp;7(4)(a) und (b) inhaltsgleiche Regelungen. Nach den Vorstellungen des Gemeinschaftsrechtsgesetzgebers liegt kollisionsrechtlich eine Pflichtversicherung somit nur dann vor, wenn der Betroffene zum Abschluss nach dem Gesetz verpflichtet ist und außerdem gesetzliche Mindestanforderungen an Umfang und Ausgestaltung des Versicherungsschutzes bestehen (s.o. 3.). Nur wenn solche Mindestanforderungen aufgestellt werden, scheint es gerechtfertigt, Pflichtversicherungsverträge dem Recht desjenigen Staates zu unterwerfen, der die Versicherungspflicht vorschreibt.<br />
<br />
Die von der Projektgruppe ''Restatement of European Insurance Contract Law'' Ende 2007 vorgelegten ''[[Principles of European Insurance Contract Law]]'' (PEICL) enthalten noch keine speziellen Regelungen zur obligatorischen Haftpflichtversicherung.<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Manfred Deiters'', Die Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch privatrechtliche Pflichtversicherungen, in: Festschrift für Reimer Schmidt, 1976, 379&nbsp;ff.; ''Géza v.&nbsp;Puskás'', in: Alfred Manes (Hg.), Handwörterbuch der Versicherung, 1988, 513&nbsp;ff.; ''Jürgen Basedow'','' Till Fock ''(Hg.),'' ''Europäisches Versicherungsvertragsrecht, Bde. I-III, 2002/2003; ''Ulrich Magnus'', Ökonomische Analyse des Rechts, in: Hamburger Gesellschaft zur Förderung des Versicherungswesens (Hg.), Pflichtversicherung – Segnung oder Sündenfall –, 2005, 101&nbsp;ff.; ''Robert Pohlhausen'', Pflichtversicherungen – aus Sicht der Versicherer, in: Hamburger Gesellschaft zur Förderung des Versicherungswesens (Hg.), Pflichtversicherung – Segnung oder Sündenfall, 2005, 75&nbsp;ff.; ''Wulf-Henning Roth'','' ''Verfassungsrecht, Wettbewerbsrecht, Europarecht, in: Hamburger Gesellschaft zur Förderung des Versicherungswesens (Hg.), Pflichtversicherung: Segnung oder Sündenfall, 2005, 141&nbsp;ff.<nowiki>; </nowiki>''Peter Reiff'', Sinn und Bedeutung von Pflichthaftpflichtversicherungen, Transportrecht 2006, 15&nbsp;ff.<nowiki>; </nowiki>''Martin Fricke'', Das Versicherungs-IPR im Entwurf der Rom-I-Verordnung: Ein kurzer Überblick über die Änderungen, Versicherungsrecht 2006, 745&nbsp;ff.; ''Jürgen Basedow'', Der Gemeinsame Referenzrahmen und das Versicherungsvertragsrecht, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 15 (2007) 280&nbsp;ff.<br />
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[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Compulsory_Insurance]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Wettbewerbsregeln,_Anwendbarkeit&diff=1721Wettbewerbsregeln, Anwendbarkeit2021-09-08T10:43:36Z<p>Richter: </p>
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<div>von ''[[Reinhard Ellger]]''<br />
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Die Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags/AEUV dienen der Aufrechterhaltung und dem Schutz eines funktionsfähigen Wettbewerbs auf dem [[Europäischer Binnenmarkt|europäischen Binnenmarkt]]. Dieser hängt wesentlich von der Reichweite der Wettbewerbsregeln der Art.&nbsp;81-86 EG/101-106 AEUV in persönlicher (1.), sachlicher (2.) und räumlicher (3.) Hinsicht sowie vom Umfang der im Vertrag vorgesehenen Ausnahmen von der Geltung der Wettbewerbsregeln (4.) ab.<br />
<br />
== 1. Persönlicher Anwendungsbereich ==<br />
Der persönliche Anwendungsbereich der Wettbewerbsregeln wird durch den Unternehmensbegriff bestimmt. Die Adressaten der Wettbewerbsregeln der Art.&nbsp;81-86 EG/101-106 AEUV sind „Unternehmen“; dementsprechend trägt der 1.&nbsp;Abschnitt des 1.&nbsp;Kapitels (Wettbewerbsregeln) des VII.&nbsp;Titels die Überschrift: Vorschriften für Unternehmen. Der Begriff des Unternehmens ist für Anwendung und Reichweite der Wettbewerbsregeln grundlegend; gleichwohl hat der EG-Vertrag/AEUV darauf verzichtet, eine Legaldefinition für das in ihm verwendete Unternehmenskonzept aufzunehmen. In der Verwaltungspraxis der Kommission und der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte hat sich ein funktionaler Unternehmensbegriff durchgesetzt: als Unternehmen wird „jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einrichtung (oder: Einheit) unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung“ aufgefasst (st.&nbsp;Rspr., siehe etwa EuGH Rs.&nbsp;C-41/90 – ''Höfner und Elser'', Slg. 1991, I-1979, Rn.&nbsp;21; EuGH Rs.&nbsp;C-309/99 – ''Wouters'', Slg. 2002, I-1563, Rn.&nbsp;46; EuG Rs.&nbsp;T-319/99 – ''FENIN'', Slg. 2003, II-357, Rn.&nbsp;35; EuG Rs.&nbsp;T-155/04 – ''Eurocontrol'', Slg. 2006, II-4797, Rn.&nbsp;50). Damit hängt die Abgrenzung der Unternehmen von anderen Einrichtungen des sozialen Lebens, die nicht den Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags/AEUV unterliegen, im Wesentlichen davon ab, wann eine Einheit eine „wirtschaftliche Tätigkeit“ ausübt. Bei der Unterscheidung wirtschaftlicher von nicht-wirtschaftlichen Tätigkeiten ist der Sinn und Zweck des Unternehmensbegriffs im Rahmen der Wettbewerbsregeln der Art.&nbsp;81, 82 EG/101, 102 AEUV zu berücksichtigen: einerseits sollen Tätigkeiten des Staates, die er in Ausübung seiner Hoheitsgewalt vornimmt, aus dem Anwendungsbereich der Wettbewerbsregeln ausgeschieden werden. Den Art.&nbsp;39(4), 45(1) und 55 EG/45(4), 51(1) und 62 AEUV lässt sich entnehmen, dass der EG/AEUV keine Anwendung auf Tätigkeiten finden soll, die die Mitgliedstaaten in Ausübung ihrer Hoheitsgewalt vornehmen. Andererseits dient die Definition des Unternehmensbegriffs dazu, die privaten Verbraucher außerhalb des Anwendungsbereichs der Wettbewerbsregeln zu halten. Ein Ziel des Wettbewerbs (unter mehreren Zielen) ist es, den Konsumenten ein nach ihren Präferenzen gestaltetes, im Verhältnis zur Leistung günstiges Angebot an Waren und Dienstleistungen anzubieten. Der private Endverbraucher soll durch die Wettbewerbsregeln der Art.&nbsp;81, 82 EG/101, 102 AEUV geschützt werden. Daher begründet die Nachfragetätigkeit des privaten Endverbrauchers nicht seine Unternehmenseigenschaft i.S. dieser Bestimmungen (EuGH verb. Rs.&nbsp;C-180/98, C-184/98 – ''Pavlov'', Slg. 2000, I-6451, Rn.&nbsp;75&nbsp;ff.) Zudem werden auch nicht-wirtschaftliche Tätigkeiten anderer Art aus dem Anwendungsbereich der Wettbewerbsregeln ausgeschlossen, weil diese auf den Schutz des wirtschaftlichen Wettbewerbs abzielen. Nach ständiger Rechtsprechung des [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] und des [[Europäisches Gericht erster Instanz|EuG]] wird die wirtschaftliche Tätigkeit durch das Angebot von Waren und Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt gekennzeichnet. Eine bestimmte Dauerhaftigkeit der wirtschaftlichen Betätigung ist nicht Voraussetzung des Unternehmensbegriffs. Waren und Dienstleistungen werden auf Märkten grundsätzlich gegen Entgelt angeboten. Gleichwohl hindert der Umstand, dass im Einzelfall einmal eine Leistung unentgeltlich am Markt angeboten wird, nicht die Unternehmenseigenschaft des Anbieters, soweit nur üblicherweise Leistungen dieser Art entgeltlich erbracht werden. Weiterhin ist es für die Unternehmenseigenschaft unerheblich, ob der Leistungserbringer die Absicht der Gewinnerzielung verfolgt. Die Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte und die Verwaltungspraxis der Kommission stellen für das Kriterium der wirtschaftlichen Betätigung vor allem auf das Angebot von Waren und Dienstleistungen auf Märkten ab; der Einkauf solcher Güter ist nur dann wirtschaftliche Betätigung, wenn er dazu dient, Güter oder Dienstleistungen im Rahmen einer wirtschaftlichen Tätigkeit anzubieten. <br />
<br />
=== a) Einzelfälle ===<br />
Erfolgt der Einkauf jedoch, um die erworbenen Gegenstände für nicht-wirtschaftliche Zwecke, etwa rein soziale Zwecke, zu verwenden, ist auch der Einkauf als nicht-wirtschaftlich zu qualifizieren, selbst wenn es sich um sehr umfangreiche Einkaufsaktivitäten handelt (EuG Rs.&nbsp;T-319/99 – ''FENIN'', Slg. 2003, II-357, Rn.&nbsp;37). Einer nicht-wirtschaftlichen Tätigkeit gehen Einrichtungen der Sozialversicherung nach, wie etwa der gesetzlichen Krankenversicherung und der Rentenversicherung, die Aufgaben von ausschließlich sozialem Charakter erfüllen, diese Tätigkeit auf dem Grundsatz der nationalen Solidarität beruht und ohne Gewinnzweck ausgeübt wird, weil die Leistungen gesetzlich vorgesehen sind und unabhängig von der Höhe der Beiträge der Versicherten erbracht werden (EuGH Rs.&nbsp;C-244/94 – ''Fédération française des sociétés d ássurances'', Slg. 1995, I-4013, Rn.&nbsp;22; EuGH verb. Rs.&nbsp;C-264/01, C-306/01, C-354/01 und C-355/01 – ''AOK-Bundesverband'', Slg. 2004, I-2524, Rn.&nbsp;47; EuG Rs.&nbsp;T-319/99 – ''FENIN''<nowiki>, Slg. 2003, II-357, Rn.&nbsp;37 [gesetzliche Krankenversicherung]; EuGH Rs.&nbsp;C-67/96, – </nowiki>''Albany International''<nowiki>, Slg. 1999, I-5751, Rn.&nbsp;60&nbsp;ff. [Rentenversicherung]). Die Ausgrenzung der Systeme der sozialen Sicherheit aus dem Unternehmensbegriff des </nowiki>Wettbewerbsrechts überlässt den Mitgliedstaaten die Ausgestaltung dieser Einrichtungen. Auch unselbständig beschäftigte Arbeitnehmer sind nicht Unternehmen im Sinne der Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags/AEUV. Ebenso wenig fallen Tarifverträge zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen über die Entlohnung und andere Arbeitsbedingungen in den Anwendungsbereich der Wettbewerbsregeln (EuGH Rs.&nbsp;C-115/99 bis C-117/99 – ''Albany'', Slg.1999, I-5863&nbsp;ff., Rn.&nbsp;60&nbsp;ff.; EuGH Rs.&nbsp;C-67/96 – ''Albany International'', Slg. 1999, I-5751, Rn.&nbsp;63).<br />
<br />
Demgegenüber bieten die Angehörigen der freien Berufe, wie z.B. Rechtsanwälte, Fachärzte oder Zollspediteure, Leistungen auf Märkten an; sie üben daher eine wirtschaftliche Tätigkeit aus und sind als Unternehmen i.S.v. Art.&nbsp;81&nbsp;ff. EG/101&nbsp;ff. AEUV zu qualifizieren. Handelsvertreter sind selbständige Unternehmer, die für einen Prinzipal in dessen oder im eigenen Namen Waren vertreiben. Soweit ein Handelsvertreter dergestalt in die Vertriebsorganisation seines Prinzipals eingegliedert ist, dass er kein Risiko (außerhalb seines Provisionsrisikos) zu tragen hat, ist er kein Unternehmen i.S. der Wettbewerbsregeln (echter Handelsvertreter). Trägt er hingegen ein eigenes wirtschaftliches Risiko in Bezug auf den Verkauf der Waren des Prinzipals (unechter Handelsvertreter), indem er etwa für die Lagerung der zu vertreibenden Waren aufzukommen hat, ist er Unternehmen i.S.v. Art.&nbsp;81&nbsp;ff. EG/101&nbsp;ff. AEUV.<br />
<br />
Selbständig tätige Künstler, Erfinder und Sportler sind als Unternehmen aufzufassen, soweit sie am Wirtschaftsleben teilnehmen, indem sie ihre Leistungen wirtschaftlich verwerten. Insbesondere der professionell betriebene Sport kann Teil des Wirtschaftslebens sein und als solcher den Wettbewerbsregeln unterliegen.<br />
<br />
=== b) Öffentliche Unternehmen ===<br />
Die Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags/AEUV unterscheiden hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit nicht danach, ob es sich bei den in Frage stehenden Unternehmen um öffentliche oder private Unternehmen handelt. Öffentliche Unternehmen sind solche, bei denen der Staat aufgrund einer Kapitalbeteiligung oder auf anderem Wege (beispielsweise über die Besetzung der Leitungsgremien des Unternehmens) einen beherrschenden Einfluss auf die Unternehmensentscheidungen besitzt (EuGH verb. Rs.&nbsp;188-190/80 – ''Transparenzrichtlinie'', Slg. 1982, 2545, Rn.&nbsp;12). Für die Unternehmenseigenschaft solcher Einrichtungen kommt es nicht auf die Rechtsform an, die der betreffende Staat für sein Tätigwerden gewählt hat: privatrechtliche oder öffentlich-rechtliche Organisationsformen werden gleich behandelt. Ebenso verhält es sich mit der Ausgestaltung der Leistungsbeziehungen zwischen öffentlichem Unternehmen und seinen Abnehmern: auch hier schließt die Wahl einer öffentlich-rechtlichen Form die wirtschaftliche Betätigung und damit die Unternehmenseigenschaft der Einrichtung nicht aus. Der EuGH hat in diesem Zusammenhang entschieden, dass eine durch Verordnung erfolgte Ausgestaltung der Benutzungsbedingungen eines öffentlichen Telekommunikationsunternehmens für den Zugang seiner Kunden zu seinen Netzen ungeachtet der Ausübung einer delegierten Rechtssetzungskompetenz eine wirtschaftliche Tätigkeit sei und der Telekommunikationsanbieter insoweit als (seine Marktmacht missbrauchendes) Unternehmen i.S.v. Art.&nbsp;82 EG/102 AEUV zu qualifizieren sei (EuGH Rs.&nbsp;41/83 – ''British Telecom'', Slg. 1985, 873, Rn.&nbsp;17&nbsp;ff.). Für die Anwendbarkeit der Wettbewerbsregeln des EG-Vertrages ist es weiterhin unerheblich, ob ein öffentliches Unternehmen rechtlich verselbständigt ist oder ob der Staat selbst oder eine seiner Untergliederungen unmittelbar wirtschaftlich handelt. In einem solchen Fall ist der Staat selbst Unternehmen. Voraussetzung ist allerdings immer, dass sich die betreffende Einrichtung wirtschaftlich betätigt. Die wirtschaftliche Betätigung öffentlicher Unternehmen bzw. des Staates als Unternehmer ist vom hoheitlichen Handeln staatlicher Institutionen abzugrenzen. Der Unternehmensbegriff in den Art.&nbsp;81&nbsp;ff. EG/101&nbsp;ff. AEUV ist ein Begriff des Gemeinschaftsrechts und als solcher autonom auszulegen; die rechtlichen Qualifizierungen bestimmter Handlungsweisen als wirtschaftlich oder hoheitlich können die gemeinschaftsrechtliche Einordnung nicht präjudizieren; sonst wären die Mitgliedstaaten in der Lage, durch die jeweilige Zuordnung einer Betätigung zum wirtschaftlichen oder hoheitlichen Bereich in ihrem eigenen Recht den Anwendungsbereich der Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags/AEUV zu bestimmen und bestimmte Sektoren deren Anwendung zu entziehen. Allerdings sind die unterschiedlichen Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten bei der Unterscheidung des wirtschaftlichen vom hoheitlichen Handeln auch der gemeinschaftsrechtlichen Auslegung des Unternehmensbegriffs zu berücksichtigen. So ist anerkannt, dass wesentliche Staatsaufgaben, etwa im Bereich der Landesverteidigung, von Sicherheit und Ordnung und der sozialen Sicherheit, nicht als wirtschaftliche Betätigung zu beurteilen sind. Demgemäß wird etwa eine internationale Einrichtung, die von Mitgliedstaaten gegründet wurde, um die Zusammenarbeit der Staaten auf dem Gebiet der Forschung, Planung und Ausbildung von Personal für Zwecke der Luftraumkontrolle und der Flugsicherheit zu fördern sowie für einen Teil der Mitgliedstaaten Aufgaben bei der Überwachung und Sicherung des zivilen Flugverkehrs durchzuführen, nicht wirtschaftlich tätig und ist daher auch kein Unternehmen i.S.v. Art.&nbsp;81 oder 82 EG/101 oder 102 AEUV ist (EuGH Rs.&nbsp;C-364/92 – ''Eurocontrol'', Slg. 1994, I-43 ff., Rn.&nbsp;22&nbsp;ff.). Anerkannt ist die hoheitliche Betätigung auch für die Kontrolle von Hafengewässern aus Gründen des Umweltschutzes, auch wenn dafür Gebühren erhoben werden (EuGH Rs.&nbsp;C-343/95 – ''Diego Cali & Figli'', Slg. 1997, I-1547, Rn.&nbsp;16&nbsp;ff.). Demgegenüber hat der Gerichtshof in nicht wenigen Entscheidungen Tätigkeiten als wirtschaftlich beurteilt, die in manchen Mitgliedstaaten durch öffentliche Unternehmen bzw. staatliche Einrichtungen ausgeübt wurden. Danach bildet die Arbeitsvermittlung (EuGH Rs.&nbsp;C-41/90 – ''Höfner und Elser'', Slg. 1991, I-1979, Rn.&nbsp;22&nbsp;ff.), das Angebot von Bodenabfertigungsdiensten gegen Gebühr durch ein öffentliches Unternehmen, das im Auftrag des Mitgliedstaats den (staatlichen) Flughafen betreibt (EuGH Rs.&nbsp;C-82/01P – ''Aéroports de Paris'', Slg. 2002, I-9297, Rn.&nbsp;74&nbsp;ff.) sowie die gebührenpflichtige Sammlung von Abfällen und Verpackungsmaterialien im Rahmen der Müllabfuhr durch Kommunen wirtschaftliche Betätigung (Komm.,'' Eco-Emballages'', ABl. 2001 L 233/37, 45, Rn.&nbsp;70). Die damit betrauten Einrichtungen sind Unternehmen i.S.v. Art.&nbsp;81&nbsp;ff. EG/101&nbsp;ff. AEUV.<br />
<br />
=== c) Erfordernis der Rechtsfähigkeit? ===<br />
Diskutiert wird im Schrifttum die Frage, ob die „Einheiten“, die einer wirtschaftlichen Betätigung nachgehen und daher als Unternehmen zu qualifizieren sind, Rechtssubjektivität besitzen müssen. Richtigerweise ist davon auszugehen, dass dies für die materiellrechtliche Erfassung der Unternehmen nicht zu fordern ist; nach dem Schutzzweck der Wettbewerbsregeln wird jede (rechtsfähige oder unselbständige) Stelle erfasst, die in der Lage ist, sich an wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen zu beteiligen oder eine marktbeherrschende Stellung missbräuchlich auszunutzen. Die Frage weist aber auch einen verfahrensrechtlichen Aspekt auf, nämlich den, an wen die Wettbewerbsbehörden eine Verfügung, z.B. zur Abstellung von wettbewerbsbeschränkenden Maßnahmen, zu richten haben. Adressat solcher Verfügungen ist – falls das unter die Wettbewerbsregeln fallende Unternehmen nicht selbst rechtsfähig ist – der rechtsfähige Träger des Unternehmens. Fallgestaltungen, bei denen die wirtschaftliche Betätigung und die rechtliche Trägerschaft an der Einheit der wirtschaftlichen Betätigung auseinander fallen können, kommen etwa bei Konzernen und beim Tätigwerden staatlicher Stellen im wirtschaftlichen Bereich vor.<br />
<br />
=== d) Unternehmensvereinigungen. ===<br />
Art.&nbsp;81(1) EG/101(1) AEUV nennt neben den Unternehmen selbst auch noch Unternehmensvereinigungen als Adressaten des Kartellverbot, um insoweit eine Schutzlücke zu schließen, die bestehen würde, wenn den Unternehmen die Möglichkeit gegeben wäre, über Unternehmensvereinigungen wettbewerbsbeschränkende Abreden zu treffen. Unternehmensvereinigungen sind Zusammenschlüsse mehrerer Unternehmen, deren Zwecke darin bestehen, die Interessen ihrer Mitglieder zu fördern. <br />
<br />
== 2. Der sachliche Anwendungsbereich der Wettbewerbsregeln: Zwischenstaatlichkeitsklausel ==<br />
Die Anwendbarkeit der Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags/AEUV erfordert gemäß Art.&nbsp;81(1), 82 S.&nbsp;1 EG/101(1) und Art.&nbsp;102 S.&nbsp;1 AEUV neben der Unternehmenseigenschaft der handelnden wirtschaftlichen Einheiten, dass die von ihnen getroffenen Maßnahmen geeignet sind, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Die Funktion dieser sog. Zwischenstaatlichkeitsklausel liegt einerseits darin, den Anwendungsbereich der Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags/AEUV von den Gesetzen gegen Wettbewerbsbeschränkungen der Mitgliedstaaten abzugrenzen. Andererseits ist die Beeinträchtigung des innergemeinschaftlichen Handelsverkehrs materielles Tatbestandsmerkmal der Art.&nbsp;81, 82 EG/101, 102 AEUV. Die Norm hat insoweit eine Doppelfunktion. Die Zwischenstaatlichkeitsklausel hat für die Entwicklung der EG-Wettbewerbspolitik und des EG-Wettbewerbsrechts eine große praktische Bedeutung gehabt. Von Anfang an hat der EuGH keinen Zweifel daran gelassen, die Zwischenstaatlichkeitsklausel denkbar weit auszulegen, um den Wettbewerbsregeln des EG-Vertrages einen möglichst großen Anwendungsbereich zu geben und die integrationspolitischen Ziele des EG-Vertrages (Errichtung eines gemeinsamen Marktes) möglichst wirkungsvoll durchzusetzen. (EuGH Rs.&nbsp;56/65 – ''Société technique minière'', Slg. 1966, 282, 303; ähnlich EuGH verb. Rs.&nbsp;56/64 und 58/64 – ''Consten und Grundig'', Slg. 1966, 322, 389). Zur Abgrenzung des Anwendungsbereichs der Wettbewerbsregeln des Gemeinschaftsrechts von den mitgliedstaatlichen Wettbewerbsgesetzen ([[Wettbewerbsrecht (Verhältnis des europäischen zum nationalen Recht)]]). Die Kommission hat im Jahr 2004 „Leitlinien über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags“ (ABl. 2004 C 101/81) vorgelegt, die zwar die mitgliedstaatlichen Gerichte und die Gemeinschaftsgerichte sowie die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten nicht binden, aber gleichwohl eine beachtliche Hilfe für die Interpretation der Zwischenstaatlichkeitsklausel bieten, da sie sich eng an die in der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte entwickelten Vorgaben für die Auslegung dieser Klausel halten.<br />
<br />
Der Begriff des „Handels zwischen den Mitgliedstaaten“ ist weit auszulegen und erfasst alle grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Tätigkeiten im Binnenmarkt. Er setzt nicht voraus, dass sich die wettbewerbsbeschränkenden Maßnahmen unmittelbar auf dem Gebiet mindestens zweier Mitgliedstaaten auswirken müssen. Eine mittelbare Wirkung reicht aus. Weiterhin erfordert die Erfüllung der Zwischenstaatlichkeitsklausel die Eignung der in Frage stehenden Maßnahme zur Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten. Eine solche Eignung einer Maßnahme ist nach der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte dann anzunehmen, wenn sich aufgrund objektiver rechtlicher und tatsächlicher Umstände mit hinreichender Wahrscheinlichkeit voraussehen lässt, dass die Maßnahme (Vereinbarung, abgestimmte Verhaltensweise oder Beschluss gemäß Art.&nbsp;81(1) EG/101(1) AEUV oder die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung nach Art.&nbsp;82 EG/102 AEUV) den Warenverkehr zwischen Mitgliedstaaten unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell beeinflussen kann (EuGH Rs.&nbsp;172/80 – ''Züchner'', Slg. 1981, 2021, Rn.&nbsp;18; EuGH verb. Rs.&nbsp;240/82 u.a. – ''Stichting Sigarettenindustrie'', Slg. 1985, 3831, Rn.&nbsp;48; EuG verb. Rs.&nbsp;T-25/95 u.a. – ''Cimenteries CBR'', Slg. 2000, II-491, Rn.&nbsp;3930). Für die Ermittlung, ob die objektiven rechtlichen und tatsächlichen Umstände eine Beeinträchtigung hinreichend wahrscheinlich erscheinen lassen, sind alle Umstände des Einzelfalles, etwa die Art der Vereinbarung oder des Verhaltens, die betroffenen Waren sowie die Stellung und Bedeutung der beteiligten Unternehmen zu berücksichtigen. Nicht notwendig ist es, das durch die Vereinbarung oder Verhaltensweise beeinträchtigte tatsächliche Volumen des zwischenstaatlichen Handels zu berechnen. Der Begriff des Warenverkehrs ist neutral. Er kann auch beeinflusst werden, wenn die Maßnahme zu einem Anstieg des Handelsvolumens geführt hat. Die Zwischenstaatlichkeitsklausel eröffnet den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts bereits dann, wenn sich der zwischenstaatliche Handel mit der Vereinbarung oder Verhaltensweise anders entwickelt hat als er sich ohne die Maßnahme entwickelt hätte. Für die Beeinflussung des Warenverkehrs sind sowohl unmittelbare wie mittelbare als auch tatsächliche wie auch potenzielle (mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwartende) Wirkungen der Maßnahme zu berücksichtigen. Unmittelbare Auswirkungen betreffen die Waren, die von einer Vereinbarung betroffen sind, während mittelbare Auswirkungen Produkte betreffen, die mit den von der Vereinbarung oder Verhaltensweise erfassten Waren verwandt sind, z.B. Vorprodukte. <br />
<br />
Es bedarf keiner näheren Erläuterung, dass Vereinbarungen und missbräuchliche Verhaltensweisen, die mehrere Mitgliedstaaten betreffen bzw. in mehreren Mitgliedstaaten durchgeführt werden, in aller Regel geeignet sind, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Darüber hinaus erfüllen in der Regel aber auch Kartelle, die das Gebiet eines Mitgliedstaates vollständig abdecken und Verhaltensweisen von Unternehmen, deren marktbeherrschende Stellung das Gebiet eines ganzen Mitgliedstaates erfasst, die Zwischenstaatlichkeitsklausel. Vereinbarungen über die horizontale oder vertikale Zusammenarbeit zwischen Unternehmen, die nur das Gebiet eines Mitgliedstaates betreffen, erfüllen nicht regelmäßig die Erfordernisse der Zwischenstaatlichkeitsklausel, sondern sind näher zu untersuchen. Schließlich können die zu berücksichtigenden Umstände auch zu dem Ergebnis führen, dass Kartelle oder missbräuchliche Verhaltensweisen, die nur einen Teil eines Mitgliedstaates betreffen, geeignet sind, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, wenn das Teilgebiet des Mitgliedstaates einen wesentlichen Teil des gemeinsamen Marktes darstellt. Die außerordentlich große Reichweite der Zwischenstaatlichkeitsklausel wird begrenzt durch das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der Spürbarkeit der Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten. Dieses Erfordernis gehört in den tatbestandlichen und systematischen Zusammenhang der Zwischenstaatlichkeitsklausel und ist klar zu unterscheiden von dem Spürbarkeitserfordernis, welches als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal im Rahmen der Wettbewerbsbeschränkung zu prüfen ist ([[Kartellverbot und Freistellung]]). Beide Spürbarkeitskriterien haben unterschiedliche Anforderungen. Im Rahmen der Prüfung der Zwischenstaatlichkeitsklausel dient das Kriterium dazu, Vereinbarungen und Verhaltensweisen aus dem Anwendungsbereich der Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags/AEUV auszuscheiden, die aufgrund der schwachen Marktstellung der beteiligten Unternehmen die betroffenen Produktmärkte nur wenig beeinträchtigen. Die Kommission hat einige quantitative Kriterien entwickelt, bei deren Vorliegen der Handel zwischen Mitgliedstaaten in der Regel nicht beeinträchtigt wird. Diese quantitativen Kriterien weisen zwei kumulativ anwendbare Elemente auf, nämliche eine Marktanteilsschwelle und eine absolute Umsatzschwelle. Die Spürbarkeit ist dann nicht gegeben, wenn der gemeinsame Marktanteil der an einer Vereinbarung beteiligten Unternehmen 5&nbsp;% nicht überschreitet und bei horizontalen Vereinbarungen der aggregierte gemeinschaftsweite Jahresumsatz aller beteiligten Unternehmen bzw., bei Vertikalvereinbarungen, der gemeinschaftsweite Jahresumsatz des Lieferanten EUR 40 Mio. nicht übersteigt. Sind diese Werte höher, ist im Einzelnen zu prüfen, ob das Erfordernis der Spürbarkeit bejaht werden kann. Insgesamt hat die sehr weite Auslegung der Zwischenstaatlichkeitsklausel dazu geführt, dass nur noch regionale oder lokal begrenzte Vereinbarungen oder Verhaltensweisen in den Anwendungsbereich des mitgliedstaatlichen Wettbewerbsrechts fallen, während für alle wettbewerbsbeschränkenden Maßnahmen von einiger Bedeutung der Anwendungsbereich der Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags/AEUV eröffnet ist.<br />
<br />
== 3. Territorialer Geltungsbereich der Wettbewerbsregeln ==<br />
Der territoriale Geltungsbereich der Wettbewerbsregeln des EG/AEUV erfasst das Gebiet der 27 Mitgliedstaaten der Union. Darüber hinaus gelten die Wettbewerbsregeln des Gemeinschaftsrechts in der Fassung der Art.&nbsp;53 und 54 des EWR-Vertrages auch in den EFTA-Staaten, die mit der Gemeinschaft am 2.5.1992 den Vertrag über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) geschlossen haben, der am 1.1.1994 in Kraft getreten ist. Da in der Zwischenzeit die ehemaligen EFTA-Mitgliedstaaten Schweden, Finnland und Österreich der Gemeinschaft beigetreten sind, gilt der EWR im Verhältnis zu Norwegen, Island und Liechtenstein. Die Schweiz, die den EWR-Vertrag unterzeichnet hat, ist dem EWR nicht beigetreten. Vom territorialen Geltungsbereich der Wettbewerbsregeln zu unterscheiden ist die Frage, ob und inwieweit die Wettbewerbsregeln auf Vereinbarungen und Verhaltensweisen Anwendung finden, die auf dem Territorium von Drittstaaten vorgenommen werden, sich aber innerhalb der Gemeinschaft auswirken ([[Wettbewerbsrecht, internationales]]).<br />
<br />
== 4. Ausnahmebereiche ==<br />
Anders als das deutsche GWB 1957, das einen umfangreichen Katalog von (nach und nach aus dem Gesetz entfernten) Wirtschaftssektoren vorsah, in denen es keine oder nur eingeschränkte Anwendung haben sollte, hat der EG-Vertrag von Anfang an auf einen Katalog von Ausnahmen von der Geltung der Wettbewerbsregeln für bestimmte Wirtschaftsbereiche verzichtet. So sind im EG/AEUV nur ganz wenige Vorschriften vorgesehen, die der Gemeinschaft die Befugnis einräumen, unter bestimmten Voraussetzungen die Anwendbarkeit der Wettbewerbsregeln auszuschließen oder zu begrenzen.<br />
<br />
=== a) Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse ===<br />
Nach Art.&nbsp;86(2) EG/106(2) AEUV sind Unternehmen, die Leistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse und Finanzmonopole (die im Rahmen dieser Vorschrift keine große praktische Bedeutung erlangt haben) unter bestimmten, eng gefassten Tatbestandsvoraussetzungen von der Geltung der Vorschriften des EG-Vertrags/AEUV, insbesondere der Wettbewerbsregeln, ausgenommen. Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse werden von allem durch Unternehmen erbracht, die dazu verpflichtet sind, Universaldienstleistungen anzubieten. Dies sind Leistungen, die ein Unternehmen zugunsten aller Nutzer im Gebiet eines Mitgliedstaates flächendeckend auch dann erbringt, wenn sie im Einzelfall unrentabel sind. Dazu gehören etwa Energieversorgungsunternehmen, die damit beauftragt sind, die Versorgung mit Strom oder Gas in einem bestimmten Gebiet zu einheitlichen Tarifen und Bedingungen für alle Nutzer sicherzustellen (EuGH Rs.&nbsp;C-393/92 – ''Almelo'', Slg. 1994, I-1477, Rn.&nbsp;51; EuGH Rs.&nbsp;C-159/94 – ''Französische Energiemonopole'', Slg. 1997, I-5815, Rn.&nbsp;55&nbsp;f.) und das Angebot von Universaldienstleistungen durch die Post (EuGH Rs.&nbsp;C-340/99 – ''TNT Traco'', Slg. 2001, I-4109, Rn.&nbsp;53&nbsp;ff.) sowie im Bereich der Telekommunikation. Auch Unternehmen, die – wie Rettungs- und Notfalldienste – Leistungen der Daseinsvorsorge erbringen, können unter Art.&nbsp;86(2) EG/ 106(2) AEUV fallen (EuGH Rs.&nbsp;C-475/99 – ''Ambulanz Glöckner'', Slg. 2001, I-8089, Rn.&nbsp;55&nbsp;ff.). Die Vorschrift setzt voraus, dass die Unternehmen durch Gesetz oder einen anderen Hoheitsakt eines Mitgliedstaates zur Erbringung der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse verpflichtet werden. Art.&nbsp;86(2) EG/ 106(2) AEUV geht davon aus, dass die Vorschriften des Vertrages und damit auch die Wettbewerbsregeln in der Regel auch auf Unternehmen anwendbar sind, die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse erbringen. Derartige Unternehmen sind nur dann von der Geltung der Wettbewerbsregeln ausgenommen, wenn deren Anwendung die Erfüllung der besonderen Aufgaben dieser Unternehmen rechtlich oder tatsächlich verhindern würde und durch diese Ausnahme die Entwicklung des Handelsverkehrs in der Gemeinschaft nicht in einem Maße beeinträchtigt wird, das dem Interesse der Gemeinschaft zuwiderläuft. <br />
<br />
=== b) Landwirtschaft ===<br />
Nach Art.&nbsp;36 EG/42 AEUV finden die Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags/AEUV auf die Produktion von und den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen nur insoweit Anwendung, soweit dies der Rat und das Parlament nach dem in Art.&nbsp;37 EG/43 AEUV vorgesehenen Verfahren unter Berücksichtigung der in Art.&nbsp;33 EG/39 AEUV niedergelegten Ziele der gemeinsamen Agrarpolitik bestimmen. Von dieser Ermächtigung hat der Rat zunächst in der VO&nbsp;26/62 Gebrauch gemacht. Diese Verordnung ist durch die VO&nbsp;1184/2006 vom 24.7.2006 zur Anwendung bestimmter Wettbewerbsregeln auf die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse und den Handel mit diesen Erzeugnisse abgelöst worden, die nunmehr die Anwendbarkeit der Wettbewerbsregeln im Landwirtschaftssektor näher ausgestaltet. <br />
<br />
== Literatur==<br />
''Daniel G. Goyder'','' ''EC Competition Law, 3.&nbsp;Aufl. 1998;'' Laurence Idot'','' ''Droit Communautaire de la Concurrence, 2004; ''Ernst-Joachim Mestmäcker'', ''Heike Schweitzer'', Europäisches Wettbewerbsrecht, 2.&nbsp;Aufl. 2004; ''Volker Emmerich'', Kartellrecht, 11.&nbsp;Aufl. 2008; ''Eugen Lange'', ''Hermann-Josef Bunte ''(Hg.), Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, Bd.&nbsp;2: Europäisches Kartellrecht, 10.&nbsp;Aufl. 2006;'' Thorsten Mäger'', §&nbsp;16: Kartellrecht, in: Reiner Schulze, Manfred Zuleeg (Hg.), Europarecht: Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 2006; ''Jonathan Faull'','' Ali Nikpay'','' ''The EC Law of Competition, 2.&nbsp;Aufl. 2007; ''Ulrich Immenga'', ''Ernst-Joachim Mestmäcker ''(Hg.), Wettbewerbsrecht EG/Teil 1 und 2, 4.&nbsp;Aufl. 2007; ''Peter Roth'','' Vivien Rose'' (Hg.), European Community Law of Competition, 6.&nbsp;Aufl. 2008.<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Competition_Rules_(Applicability)]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Kartellrecht,_Rechtsfolgen_von_Verst%C3%B6%C3%9Fen&diff=1719Kartellrecht, Rechtsfolgen von Verstößen2021-09-08T10:43:08Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Friedrich Wenzel Bulst]]''<br />
== 1. Gegenstand, Zweck und Verfahren ==<br />
Kartellrechtsverstöße können in öffentlichrechtlichen Verfahren ebenso festgestellt werden wie in zivil- und strafrechtlichen. Dementsprechend breit ist die Palette möglicher Rechtsfolgen. Öffentlichrechtliche Sanktionen dienen gemeinhin der Beendigung des Verstoßes und der (Wieder&#8209;) Herstellung unverfälschten [[Wettbewerb im Binnenmarkt|Wettbewerbs im Binnenmarkt]], der Spezial- und Generalprävention sowie der Pönalisierung. Strafrechtliche Sanktionen haben ebenfalls sowohl die Spezial- und Generalprävention als auch die Pönalisierung des Rechtsverletzers zum Ziel. Zivilrechtliche Rechtsfolgen sind gemeinhin auf die Kompensation der Opfer des Verstoßes gerichtet und sollen gleichzeitig spezial- und generalpräventiv wirken. Inwieweit ihnen auch eine pönalisierende Wirkung zukommen soll, ist im Gemeinschaftsrecht ebenso umstritten wie in den meisten nationalen Rechtsordnungen ([[Kartellrecht, private Durchsetzung]]).<br />
<br />
Das in Art.&nbsp;81, 82 EG/101, 102 AEUV niedergelegte europäische Kartellrecht ([[Kartellverbot und Freistellung]]; [[Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung]]) wird ''öffentlichrechtlich'' durch die ''[[Europäische Kommission]]'' und die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten durchgesetzt ([[Kartellverfahrensrecht]]). ''Strafrechtliche sowie zivilrechtliche'' Rechtsfolgen von Verstößen gegen die Art.&nbsp;81, 82 EG/101, 102 AEUV werden nur durch nationale Behörden bzw. Gerichte ausgesprochen ([[Kartellrecht, private Durchsetzung]]).<br />
<br />
Die Art.&nbsp;81, 82 EG/101, 102 AEUV erlegen Rechtspflichten und &#8209;folgen nur ''Unternehmen und Unternehmensvereinigungen ''auf. Unternehmen sind nach der Rechtsprechung des EuGH Einheiten, die nicht nur gelegentlich eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben, unabhängig von ihrer Rechtsform, der Art ihrer Finanzierung und dem Vorliegen oder Fehlen einer Gewinnerzielungabsicht. Das heißt, dass natürliche Personen, die für ein kartellrechtswidrig handelndes Unternehmen tätig sind, gemeinschaftsrechtlich nicht belangt werden können, auch wenn sie als Organe oder (leitende) Mitarbeiter die den Verstoß ausmachenden Handlungen begangen haben. Nach vielen nationalen Rechten sind sie jedoch vor Sanktionen nicht gefeit, weder bei Verstößen gegen das Gemeinschafts- noch gegen nationales Kartellrecht.<br />
<br />
Die mitgliedstaatlichen Kartellrechte werden allein durch nationale Behörden und Gerichte durchgesetzt ([[Kartellverfahrensrecht]]; [[Kartellrecht, private Durchsetzung]]). <br />
<br />
== 2. Rechtsfolgen ==<br />
=== a) Nach Gemeinschaftsrecht ===<br />
Die gemeinschaftsrechtlichen Folgen von Kartellrechtsverstößen ergeben sich aus Art.&nbsp;81(2) EG/101(2) AEUV sowie der VO&nbsp;1/2003 in Verbindung mit den Bußgeldleitlinien der Kommission.<br />
<br />
''Nichtigkeitsfolge'': Nach Art.&nbsp;81(2) EG/101(2) AEUV sind die nach Art.&nbsp;81 EG/101 AEUV ([[Kartellverbot und Freistellung]]) verbotenen Vereinbarungen oder Beschlüsse nichtig. Diese gemeinschaftsrechtliche ''Nichtigkeitsfolge'' erstreckt sich nur auf die Bestimmungen, die unter das Kartellverbot fallen. Die gesamte Vereinbarung ist nach Art.&nbsp;81(2) EG nur dann nichtig, wenn sich die verbotenen Teile nicht von den übrigen trennen lassen (EuGH Rs.&nbsp;56/65 – ''Société Technique Minière'', Slg. 1966, 282, 304). Folgeverträge mit Dritten, also etwa zwischen einem Kartellanten und seinem Abnehmer, sind grundsätzlich nicht erfasst. Die weiteren Rechtsfolgen des Art.&nbsp;81(2) EG/101(2) AEUV sind nach nationalem Recht zu bestimmen. <br />
<br />
''Abhilfemaßnahmen'': Gemäß Art.&nbsp;7 VO&nbsp;1/2003 kann die Kommission ein an einem Kartellrechtsverstoß beteiligtes Unternehmen verpflichten, die Zuwiderhandlung einzustellen, und ihm alle verhältnismäßigen ''Abhilfemaßnahmen'' auferlegen ([[Verhältnismäßigkeit]]), die erforderlich sind, um die Zuwiderhandlung abzustellen. Die Kommission kann Unternehmen mithin nicht nur zur Unterlassung eines bestimmten Marktverhaltens, sondern auch zu konkreten Maßnahmen verpflichten, wie dem Abschluss von Lizenzverträgen, der Offenlegung bestimmter Informationen oder dem (Mit&#8209;)Vertrieb von Produkten Dritter. Solche Abhilfemaßnahmen sind insbesondere bei Verstößen gegen Art.&nbsp;82 EG/101 AEUV ([[Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung]]) von Bedeutung. Abhilfemaßnahmen können nicht nur verhaltensorientierter, sondern auch struktureller Art sein. Wenn ein erhebliches, durch die Struktur eines Unternehmens als solcher bedingtes Risiko anhaltender oder wiederholter Zuwiderhandlungen gegeben ist, kann ein Verstoß auch mit einer Änderung der Unternehmensstruktur sanktioniert werden, also einer Entflechtung (Erwägungsgrund 12 der VO&nbsp;1/2003). Die Kommission kann, bei berechtigem Interesse, auch einen bereits beendeten Wettbewerbsverstoß festellen. In dringenden Fällen erlaubt Art.&nbsp;8 VO&nbsp;1/2003 die Anordnung ''einstweiliger Maßnahmen''.<br />
<br />
Unternehmen können auch ''Verpflichtungszusagen'' abgeben, um eine Abhilfemaßnahme abzuwenden. Nach Art.&nbsp;9 VO&nbsp;1/2003 kann die Kommission eine solche Verpflichtungszusage für bindend erklären, wenn diese die Bedenken der Kommission ausräumen. Auch Verpflichtungszusagen können Maßnahmen struktureller Art enthalten.<br />
<br />
''Geldbußen'': Im Vordergrund der Rechtsfolgenbetrachtung stehen gemeinhin die von der Kommission auf der Grundlage des Art.&nbsp;23 VO&nbsp;1/2003 verhängten ''Geldbußen''. Vorsätzliche oder fahrlässige Verstöße eines Unternehmens gegen die Art.&nbsp;81, 82 EG/101, 102 AEUV können danach mit einer Geldbuße in Höhe von bis zu 10&nbsp;% des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes des Unternehmens geahndet werden. Nach dem oben definierten Unternehmensbegriff des EG-Kartellrechts gilt diese 10&nbsp;%-Grenze grundsätzlich für den gesamten Konzernumsatz und nicht nur für den Umsatz etwa einer handelnden Tochtergesellschaft. <br />
<br />
Die Methode, nach der die Kommission Geldbußen festsetzt, ist in den Bußgeldleitlinien von 2006 niedergelegt, die die Leitlinien von 1998 ablösten. Nach den neuen Leitlinien setzt die Kommission Geldbußen innerhalb der 10&nbsp;%-Obergrenze auf bis zu 30&nbsp;% des Jahresumsatzes des betroffenen Unternehmens fest, der mit dem Verstoß in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang steht, multipliziert mit der Anzahl Jahre der Beteiligung an der Zuwiderhandlung. Auf den mit dem betroffenen Produkt erzielten Umsatz wird abgestellt, um einen Bezug zum rechtswidrig erlangten Gewinn herzustellen und auf diese Weise eine abschreckende Wirkung zu erreichen. Bei der Bestimmung der genauen Höhe der Ausgangsbetrags berücksichtigt die Kommission mehrere Umstände, u.a. die Art der Zuwiderhandlung, den kumulierten Marktanteil sämtlicher beteiligter Unternehmen, den Umfang des von der Zuwiderhandlung betroffenen räumlichen Marktes und die etwaige praktische Umsetzung der Zuwiderhandlung, z.B. einer Absprache. Darüber hinaus kann ein bestimmter Anteil der Geldbuße, die so genannte “Eintrittsgebühr”, unabhängig von der Dauer der Zuwiderhandlung verhängt werden, um Unternehmen auch vor einer nur kurzen Beteiligung an einem Verstoß abzuschrecken.<br />
<br />
Die Leitlinien sehen eine Reihe von erschwerenden und mildernden Umständen vor, wie die Rolle des betroffenen Unternehmens im Rahmen der Zuwiderhandlung (Rädelsführer, Anstifter; fahrlässige, geringfügige, von echtem Wettbewerb begleitete Beteiligung) und sein Verhalten während der behördlichen Untersuchung (Behinderung; über rechtliche Verpflichtungen hinausgehende Kooperation außerhalb eines Kronzeugenprogramms). Insbesondere kann die Buße bei Wiederholungstätern für jede ähnliche frühere Zuwiderhandlung um bis zu 100&nbsp;% erhöht werden. Um eine wirksame Abschreckung sicherzustellen, kann die Geldbuße erhöht werden, wenn der mit anderen als den betroffenen Produkten erzielte Umsatz besonders hoch ist. Wenn der nach den vorstehenden Grundsätzen ermittelte Betrag die 10&nbsp;%-Obergrenze überschreitet, wird die Buße auf den zulässigen Höchstbetrag reduziert. Das heißt, die Obergrenze führt nicht bereits bei früheren Berechnungsschritten zu einer Kappung. Bußgelder können unter außergewöhnlichen Umständen auch herabgesetzt werden, wenn sie die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit des betroffenen Unternehmens unwiderruflich gefährden.<br />
<br />
Die Kommission kann nach ständiger Rechtsprechung von ihren Leitlinien nicht abweichen, ohne gegen allgemeine Rechtsgrundsätze wie die Gleichbehandlung und den Vertrauensschutz zu verstoßen. Zu den Leitlinien von 1998 haben [[Europäisches Gericht erster Instanz|EuG]] und [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] entschieden, dass ein verständiger Wirtschaftsteilnehmer in hinreichend genauer Weise die Berechnungsmethode und die Größenordnung der Geldbußen vorhersehen kann, die ihm bei einem bestimmten Verhalten drohen, und dass die Tatsache, dass er das genaue Niveau einer zu erwartenden Geldbuße nicht im Voraus genau erkennen kann, keine Verletzung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Strafen darstellt (EuGH verb. Rs.&nbsp;C 189/02 P, C 202/02 P, C 205/02 P bis C 208/02 P und C 213/02 P – ''Dansk Rørindustri'', Slg. 2005, I-5425, Rn.&nbsp;209–211).<br />
<br />
Die bislang höchste Geldbuße wegen eines Verstoßes gegen Art.&nbsp;81 EG/101 AEUV wurde 2008 verhängt und betrug rund EUR 896 Mio. (Saint-Gobain – Autoglas; Gesamtgeldbuße aller Kartellbeteiligten: rund EUR 1.3 Mrd.). Die bislang höchste Geldbuße wegen eines Verstoßes gegen Art.&nbsp;82 EG/102 AEUV wurde 2009 verhängt und betrug rund EUR 1 Mrd. (Intel).<br />
<br />
Unternehmen haben die Möglichkeit, einer Geldbuße zu entgehen oder eine solche zu reduzieren, indem sie sich an dem Kronzeugenprogramm der Kommission beteiligen ([[Kartellverfahrensrecht]]).<br />
<br />
Gemäß Art.&nbsp;23(5) VO&nbsp;1/2003 haben Bußgeldentscheidungen der Kommission keinen strafrechtlichen Charakter, was unter Hinweis auf die Höhe der von der Kommission verhängten Bußen in Anfechtungsklagen vor dem EuG und der Literatur bisweilen in Zweifel gezogen wird, verbunden mit der Forderung, die verfahrensrechtlichen Garantien des Art.&nbsp;6(3) EMRK ([[Grund- und Menschenrechte: GRCh und EMRK]]; [[Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte|EGMR]]) zur Gänze zur Anwendung zu bringen ([[Kartellverfahrensrecht]]). Das ''ne bis in idem''-Prinzip gilt jedoch unbestritten und zwar, nach der Rechtsprechung des EuGH, unter der dreifachen Voraussetzung der Identität des Sachverhalts, des Zuwiderhandelnden und des geschützten Rechtsguts. Der Grundsatz verbietet es mithin, dasselbe Unternehmen mehr als einmal wegen desselben rechtswidrigen Verhaltens zum Schutz desselben Rechtsguts mit einer Sanktion zu belegen. Bei Kartellrechtsverstößen, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen können, wenden nicht nur die Kommission, sondern gemäß Art.&nbsp;3(1) VO&nbsp;1/2003 auch die nationalen Behörden die Art.&nbsp;81, 82 EG/101, 102 AEUV an (ggf. neben nationalem Kartellrecht), d.h. dieselben Rechtsnormen.<br />
<br />
''Zwangsgelder'': Art.&nbsp;24 VO&nbsp;1/2003 ermächtigt die Kommission unter anderem, gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen, die ihren Verpflichtungen aus einer Kommissionsentscheidung nach Art.&nbsp;7, 8 oder 9 VO&nbsp;1/2003 nicht nachkommen, ein Zwangsgeld in Höhe von bis zu 5&nbsp;% des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten durchschnittlichen Tagesumsatzes pro Tag der Nichterfüllung zu verhängen. Auf der Grundlage dieser Vorschrift hat die Kommission im Fall Microsoft (COMP/37.792) Zwangsgelder in Höhe von EUR 280 Mio. (2006) und EUR 899 Mio. (2008) verhängt.<br />
<br />
''Rechtsmittel'': Das EuG überprüft als Rechtsmittelgericht auf Antrag Entscheidungen der Kommission, mit denen ein Buß- oder Zwangsgeld festgesetzt wird, unbeschränkt auf ihre Rechtmäßigkeit ([[Kartellverfahrensrecht]]) und kann das festgesetzte Buß- oder Zwangsgeld aufheben, herabsetzen oder erhöhen, vgl. Art.&nbsp;31 VO&nbsp;1/2003 und Art.&nbsp;229 EG/261 AEUV. Das EuG erkennt der Kommission bei der Festsetzung von Bußgeldern einen Ermessensspielraum zu, der seine Grenzen vor allem in den Prinzipien der Gleichbehandlung und der [[Verhältnismäßigkeit]] findet.<br />
<br />
=== b) Nach nationalem Recht ===<br />
Die nationalen Behörden setzen die Art.&nbsp;81, 82 EG/101, 102 AEUV mit Hilfe ihres nationalen Verfahrensrechts durch ([[Kartellverfahrensrecht]]). Die VO&nbsp;1/2003 verpflichtet sie dazu und enthält in Art.&nbsp;5 VO&nbsp;1/2003 die zulässigen Entscheidungsarten, die denjenigen entsprechen, die der Kommission nach der Verordnung zur Verfügung stehen (mit Ausnahme der Feststellung eines beendeten Verstoßes und einer Positiventscheidung nach Art.&nbsp;10 VO&nbsp;1/2003 [[Kartellverfahrensrecht]]). Vor Inkrafttreten der VO&nbsp;1/2003 waren nur etwa in der Hälfte der damaligen Mitgliedstaaten die nationalen Kartellbehörden durch die nationale Gesetzgebung ermächtigt, die Art.&nbsp;81, 82 EG/101, 102 AEUV anzuwenden. In nahezu allen Mitgliedstaaten bestehen inzwischen die notwendigen Voraussetzungen dafür, dass den nationalen Wettbewerbsbehörden fast alle der in Art.&nbsp;5 VO&nbsp;1/2003 aufgeführten Entscheidungsarten zur Verfügung stehen. Strukturelle Abhilfemaßnahmen stehen jedoch nur etwa der Hälfte der nationalen Behörden zu Gebote. Auch Zwangsgelder nach dem Vorbild des Art.&nbsp;24 VO&nbsp;1/2003 können nicht überall verhängt werden.<br />
<br />
Rechtsfolgen und Verfahren sind innerhalb eines Mitgliedstaates grundsätzlich identisch, was Verstöße gegen europäisches und nationales Kartellrecht angeht. Die innerstaatlichen Rechte sehen als Sanktionen vor allem Geldbußen für Unternehmen vor, bisweilen auch alternativ die Abschöpfung eines durch einen Verstoß erzielten Mehrerlöses. Die Bußgeldrahmen sind in ca. 2/3 der Mitgliedstaaten auf 10&nbsp;% des Unternehmensumsatzes beschränkt. Die Berechnung des relevanten Umsatzes und der maßgebliche Referenzzeitraum unterscheiden sich jedoch. In einigen erst seit 2004 zur Gemeinschaft gehörenden Mitgliedstaaten gelten absolute betragsmäßige Obergrenzen (vgl. auch unter 3.). In einigen wenigen Mitgliedstaaten, wie Großbritannien, Irland, Rumänien und Estland, können verantwortliche Unternehmensmitarbeiter bzw. Organmitglieder jedenfalls im Falle von Absprachen mit Wettbewerbern (sog. horizontale Vereinbarungen) mit Geldstrafen oder Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren belegt werden. In anderen Mitgliedstaaten, wie Deutschland, Österreich und Ungarn, sind solche strafrechtlichen Sanktionen auf Fälle der Abstimmung bei öffentlichen Ausschreibungen (Ausschreibungsbetrug) beschränkt. Ausschreibungsbezogene Verstöße können auch den zeitlich beschränkten Ausschluss des fraglichen Unternehmens von späteren Vergabeverfahren nach sich ziehen. <br />
<br />
Was zivilrechtliche Sanktionen einschließlich der Nichtigkeitsfolge des Art.&nbsp;81(2) EG/101(2) AEUV betrifft, so sind nach Art.&nbsp;6 VO&nbsp;1/2003 auch die einzelstaatlichen Gerichte für die Anwendung der Art.&nbsp;81, 82 EG/101, 102 AEUV zuständig. Nach der Rechtsprechung des EuGH muss grundsätzlich jedermann Ersatz des Schadens verlangen können, der ihm durch einen Verstoß gegen europäisches Kartellrecht entstanden ist ([[Kartellrecht, private Durchsetzung]]). Ob sich dieser Schadensersatzanspruch aus dem Gemeinschaftsrecht selbst ergibt oder aber die Mitgliedstaaten nach Art.&nbsp;10 EG/im Wesentlichen ersetzt durch Art.&nbsp;3a(3) EU (2007) verpflichtet sind, einen solchen Schadensersatzanspruch vorzusehen, ist in der Literatur umstritten und allenfalls von geringer praktischer Bedeutung. Jedenfalls obliegt es den Mitgliedstaaten, in Abwesenheit einschlägiger Gemeinschaftsregelungen in den Grenzen des gemeinschaftsrechtlichen Äquivalenz- und [[Effektivitätsgrundsatz]]es die nötigen Voraussetzungen für eine Durchsetzung dieses Anspruches zu schaffen. Theoretisch steht in allen Mitgliedstaaten den Opfern eines Kartellrechtsverstoßes Anspruch auf Ersatz zu. In der Mehrheit der Mitgliedstaaten ist dieser Anspruch bislang jedoch ohne praktische Bedeutung geblieben. Ansprüche sind gemeinhin auf Ersatz des entstandenen Schadens beschränkt, also allein kompensatorischer Natur. Strafschadensersatz wurde bislang nur vereinzelt zugesprochen ([[Kartellrecht, private Durchsetzung]]).<br />
<br />
== 3. Tendenzen der Rechtsentwicklung ==<br />
Die Höhe der von der Kommission verhängten Bußgelder ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Während das EuG an der Höhe von durch die Kommission festgesetzten Bußgeldern bislang kaum umfangreichere Korrekturen vornahm, die überwiegend aus geringen Herabsetzungen bestanden, ist in der jüngsten Vergangenheit eine Tendenz zu einer umfassenderen Überprüfung auszumachen, die auch zur Erhöhung von Bußgeldern durch das EuG geführt hat (EuG verb. Rs.&nbsp;T-101/05 und T-111/05 – ''BASF'', Slg. 2007, II-4949).<br />
<br />
Seit Inkrafttreten der VO&nbsp;1/2003 haben sich die den Behörden zu Gebote stehenden Sanktionen dem Instrumentarium der Verordnung angeglichen. Diese Entwicklung betraf vor allem die Möglichkeit, einstweilige Maßnahmen zu verhängen, Zusagen für verbindlich zu erklären und – obwohl hier die Kovergenz am wenigsten weit fortgeschritten ist – die Verfügbarkeit struktureller Abhilfemaßnahmen.<br />
<br />
Was die Methoden der Bußgeldberechnung angeht, so verwendet weniger als die Hälfte der nationalen Wettbewerbsbehörden Leitlinien, die, beginnend mit einem Ausgangsbetrag, eine schrittweise abzuarbeitende Bußgeldberechnung vorgeben, wie es die Bußgeldleitlinien der Kommission tun. Die übrigen Behörden berücksichtigen im Rahmen der Bußgeldbemessung eine Reihe von Kriterien, deren Gewichtung gar nicht oder aber nicht in demselben Umfang vorgegeben ist wie in der vorgenannten Gruppe. Auch zeigen sich bei der Bestimmung des für einen Ausgangsbetrag, sofern ein solcher vorgesehen ist, oder für die Bußgeldobergrenze maßgeblichen Umsatzes Divergenzen.<br />
<br />
Trotz dieser Unterschiede ist ein erhebliches Maß an Konvergenz festzustellen. Das gilt vor allem, was die Akzeptanz der Bedeutung des mit dem betroffenen Produkt erzielten Umsatzes für die Bußgeldberechnung angeht. Auch werden die Bußgeldobergrenzen, die mit Ausnahme Dänemarks überall vorgesehen sind, ganz überwiegend umsatzabhängig formuliert (also nicht absolut). Daraus wird deutlich, dass Einigkeit über die anzustrebende general- und spezialpräventive Wirkung von Geldbußen besteht. Auch werden, bei möglichen Unterschieden der Gewichtung, von nahezu allen Behörden im Wesentlichen dieselben erschwerenden und mildernden Umstände als relevant angesehen (vgl. 2. a) zu diesen Umständen). Die Arbeitsgruppe Sanktionen der ''European Competition Authorities'' (ECA), eines Diskussionsforums der Wettbewerbsbehörden der EWR-Mitgliedstaaten, der Kommission und der EFTA-Überwachungsbehörde, hat im Mai 2008 unverbindliche Empfehlungen zur Bemessung von Geldbußen in Kartellverfahren gegen Unternehmen verabschiedet (''Principles for Convergence'') mit dem Ziel, das Bußgeldniveau der ECA-Mitglieder anzugleichen. <br />
<br />
==Literatur==<br />
''Dermot Cahill'','' John D. Cooke'' (Hg.), The Modernisation of EU Competition Law Enforcement in the EU, FIDE 2004 National Reports, 2004; ''Dorothe Dalheimer'','' Christoph T. Feddersen'','' Gerald Miersch'', EU-Kartellverfahrensverordnung – Kommentar zur VO&nbsp;1/2003, Sonderausgabe aus Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union – Nach Art. 83&nbsp;EGV, 2005; ''Wouter P.J. Wils'', Principles of European antitrust enforcement, 2005; ''idem'', The European Commission’s 2006 Guidelines on Antitrust Fines: A Legal and Economic Analysis, World Competition 2007, 197&nbsp;ff.; ''Philip Lowe'','' Frank Maier-Rigaud'', Quo Vadis Antitrust Remedies, in: Barry Hawk (Hg.), International Antitrust Law & Policy, 2007, 597&nbsp;ff.; ''Heribert Franz Koeck'', ''Margit Maria Karollus ''(Hg.), The Modernisation of European Competition Law – Initial Experiences with Regulation 1/2003, FIDE Congress 2008, Bd.&nbsp;2, 2008; ''Callum Campbell'' (Hg.), Cartel Regulation, 2008; ''Per Hellström'','' Frank Maier-Rigaud'','' Friedrich Wenzel Bulst'', Remedies in European Antitrust Law, Antitrust Law Journal 2009, im Erscheinen.<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Competition_Law_(Sanctions)]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Wettbewerbsrecht_(Verh%C3%A4ltnis_des_europ%C3%A4ischen_zum_nationalen_Recht)&diff=1717Wettbewerbsrecht (Verhältnis des europäischen zum nationalen Recht)2021-09-08T10:42:31Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Reinhard Ellger]]''<br />
== 1. Problem ==<br />
Die Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags/AEUV sollen – ergänzt durch die Instrumente der Zusammenschlusskontrolle der FKVO (VO&nbsp;139/ 2004) – den Wettbewerb auf dem europäischen Binnenmarkt vor Beschränkungen durch Unternehmen schützen. Die Anwendbarkeit des europäischen Wettbewerbsrechts hängt daher davon ab, dass die in Frage stehenden Maßnahmen der betroffenen Unternehmen einen Binnenmarktbezug aufweisen. Dieser wird im tatbestandlichen Rahmen der Art.&nbsp;81, 82 EG/101,102 AEUV durch die sog. Zwischenstaatlichkeitsklausel und in der FKVO durch das Erfordernis der gemeinschaftsweiten Bedeutung eines Zusammenschlusses in Art.&nbsp;1 FKVO hergestellt. Dem Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaft stehen die Gesetze gegen Wettbewerbsbeschränkungen ihrer gegenwärtig 27 Mitgliedstaaten gegenüber. Diese legen ihren eigenen Anwendungsbereich autonom, d.h. unabhängig vom Gemeinschaftsrecht, fest. Die Zwischenstaatlichkeitsklausel ist durch die Gemeinschaftsorgane von Anfang an außerordentlich weit ausgelegt worden, so dass die Schwelle für die Anwendbarkeit der Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags/AEUV niedrig liegt. Dadurch kommt es häufig dazu, dass sich die Anwendungsbereiche der Wettbewerbsregeln der EG einerseits und die Anwendungsbereiche der mitgliedstaatlichen Gesetze gegen Wettbewerbsbeschränkungen andererseits überschneiden. So entstand die Frage, welche der anwendbaren Regelungsmaterien sich im Konfliktfall durchsetzen soll. Ein Konfliktfall tritt dann auf, wenn die Wettbewerbsregeln des Gemeinschaftsrechts und das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen eines Mitgliedstaates in einem Fall parallel anwendbar sind und für den Konflikt unterschiedliche Lösungen vorsehen. Dies ist etwa der Fall, wenn eine Vereinbarung nach Art.&nbsp;81(1), (3) EG/ 101(1), (3) AEUV zwar als wettbewerbsbeschränkend qualifiziert, aber vom Kartellverbot freigestellt ist, während das mitgliedstaatliche Wettbewerbsgesetz die Vereinbarung als verbotenes Kartell einstuft. Dann ist zu entscheiden, welche Regelung Vorrang genießen soll. Lange Zeit hat das Gemeinschaftsrecht diese Frage nicht ausdrücklich geregelt. Zwar sah bereits der ursprüngliche EWG-Vertrag von 1957 in seinem Art.&nbsp;87(2)(e) die Befugnis für die Gemeinschaft vor, „das Verhältnis zwischen den innerstaatlichen Rechtsvorschriften einerseits und den in diesem Abschnitt enthaltenen oder aufgrund dieses Artikels getroffenen Bestimmungen andererseits festzulegen“ (jetzt Art.&nbsp;83(2)(e) EG/ 103(2)(e) AEUV), doch hat die Gemeinschaft erst mit dem Erlass der VO&nbsp;1/2003 des Rates vom 16.12.2002 zur Durchführung der in den Art.&nbsp;81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln von dieser Ermächtigung Gebrauch gemacht. Art.&nbsp;3 der VO&nbsp;1/2003 enthält nunmehr eine Regelung des Verhältnisses von dem gemeinschaftsrechtlichen zu dem mitgliedstaatlichen Kartellrecht, die auf dem Grundsatz des Geltungsvorrangs europäischen Gemeinschaftsrechts vor mitgliedstaatlichem Recht beruht. Wenn auch die Regelung in Art.&nbsp;3 VO&nbsp;1/2003 das Recht der Mitgliedstaaten nicht formell innerhalb seines eigenen Anwendungsbereichs ausschließt, führt sie doch weitgehend zu einer Verdrängung des mitgliedstaatlichen Kartellrechts in den Fällen, in denen die Maßnahme der Unternehmen den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigt und damit die Anforderungen der Zwischenstaatlichkeitsklausel erfüllt.<br />
<br />
== 2. Überblick über die Rechtsentwicklung ==<br />
=== a) Altes Recht ===<br />
Der vor dem Inkrafttreten der VO&nbsp;1/2003 am 1.5.2004 geltende Rechtszustand war durch ein weitgehendes Fehlen einer gesetzlichen Regelung des Verhältnisses des gemeinschaftlichen Wettbewerbsrechts zu den mitgliedstaatlichen Gesetzen gegen Wettbewerbsbeschränkungen gekennzeichnet. Die weite Auslegung der Zwischenstaatlichkeitsklausel und die damit verbundenen Kollisionsmöglichkeiten führten bereits frühzeitig im Schrifttum zu einer Diskussion darüber, wie die Anwendungsbereiche beider Regelungsmaterien voneinander abzugrenzen seien. Die sog. Zwei-Schranken-Theorie ging davon aus, dass das Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft und das der Mitgliedstaaten unterschiedliche Schutzbereiche aufwiesen. Ersteres diene dem Schutz des Wettbewerbs im gemeinsamen Markt, letzteres habe die Aufgabe, den innerstaatlichen Handel vor Wettbewerbsbeschränkungen zu schützen. Die Vorstellung, dass beide Rechtsordnungen unverbunden koexistieren und in ihrem jeweiligen Anwendungsbereich gewissermaßen selbständig Regelungen treffen, erlaubt es, sie als Schranken zu begreifen, die den wettbewerbsbeschränkenden Maßnahmen von Unternehmen Grenzen setzen. Diese Theorie führt zu dem Ergebnis, dass eine wettbewerbsbeschränkende Maßnahme, die in den Anwendungsbereich sowohl des gemeinschaftsrechtlichen wie auch des mitgliedstaatlichen Kartellrechts fällt, nur dann rechtmäßig ist, wenn sie nach den Normen beider Rechtsordnungen erlaubt ist. Die Zwei-Schranken-Theorie führt damit zum Prinzip des strengeren Rechts, dass sich auch dann durchsetzt, wenn es nicht das Gemeinschaftsrecht, sondern das Recht eines Mitgliedstaates ist. Diese Theorie verfolgte vor allem den Zweck, die Anwendbarkeit des mitgliedstaatlichen Kartellrechts neben den Wettbewerbsregeln des Vertrages zu gewährleisten. Der [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] hingegen akzeptierte die Zwei-Schranken-Theorie nicht, sondern bestimmte das Verhältnis zwischen dem gemeinschaftsrechtlichen und dem mitgliedstaatlichen Kartellrecht in enger Anlehnung an die Gesichtspunkte, die er in seiner Rechtsprechung allgemein für das Verhältnis des europäischen Gemeinschaftsrechts zu dem Recht der Mitgliedstaaten herausgearbeitet hatte (siehe dazu etwa EuGH Rs.&nbsp;6/64 – ''Costa/E.N.E.L.'', Slg. 1964, 1251, 1269&nbsp;f.). In seiner Leitentscheidung (EuGH Rs.&nbsp;14/68 – ''Walt Wilhelm/Bundeskartellamt'', Slg. 1969, 1) erkennt der EUGH an, dass auf ein Kartell grundsätzlich sowohl Wettbewerbsregeln des Vertrages wie die Vorschriften eines mitgliedstaatlichen Wettbewerbsgesetzes Anwendung finden könnten, weil beide Rechtsordnungen solche Vereinbarungen unterschiedlich behandelten, die in Betracht kommenden wirtschaftlichen Vorgänge und der rechtliche Sachverhalt jedoch eng miteinander verzahnt sein könnten. Allerdings zieht der EuGH der parallelen Anwendbarkeit mitgliedstaatlichen Kartellrechts neben den Wettbewerbsregeln des Vertrages Grenzen, um die Funktionsfähigkeit und die einheitliche und gleichmäßige Geltung des Gemeinschaftsrechts in allen Mitgliedstaaten zu sichern. Danach ist eine gleichzeitige Anwendung mitgliedstaatlichen Kartellrechts neben dem gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsrecht nur statthaft, wenn dadurch die einheitliche Anwendung und die praktische Wirksamkeit der zu seinem Vollzug ergriffenen Maßnahmen nicht beeinträchtigt werden. Normenkonflikte zwischen beiden Rechtsordnungen seien daher nach dem Grundsatz des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts zu lösen (EuGH Rs.&nbsp;14/68 – ''Walt Wilhelm/Bundeskartellamt'', Slg. 1969, 1, Rn.&nbsp;6). Demzufolge setzt sich ein gemeinschaftsrechtliches Verbot einer Maßnahme oder eines Verhaltens gegen eine Erlaubnis des mitgliedstaatlichen Rechts durch. Als problematischer erwies sich hingegen die Konkretisierung des Anwendungsvorrangs des europäischen Kartellrechts im Verhältnis zum mitgliedstaatliche Wettbewerbsrecht in den Fallkonstellationen, in denen eine Freistellung des Gemeinschaftsrechts mit dem strengeren Kartellrecht der Mitgliedstaaten kollidierte. Vor Inkrafttreten der VO&nbsp;1/2003 wurde Art.&nbsp;81(3) EG/101(3) AEUV nicht als Legalausnahme vom Kartellverbot angesehen, sondern als nur mittelbar anwendbare Norm, deren Rechtswirkung (Freistellung vom Kartellverbot) nur eintrat, wenn eine Vereinbarung zuvor bei der Kommission angemeldet und – nach Prüfung der Voraussetzungen des Art.&nbsp;81(3) EG/101(3) AEUV – durch Entscheidung als freigestellt erklärt wurde. Zur Vereinfachung des Verwaltungsverfahrens und als Hilfe bei der Bewältigung der großen Zahl angemeldeter Vereinbarungen ging die Verwaltungspraxis der Kommission seit den 1970er Jahren dazu über, Freistellungsverfahren nicht durch förmliche Entscheidung, sondern durch nicht-förmliche Verwaltungsschreiben (''comfort letters'') zu erledigen. Darin erklärte die Kommission, dass sie nach kursorischer Prüfung des Sachverhalts keinen Anlass für ein Einschreiten sehe. Die Unternehmen konnten die Vereinbarungen auf dieser Grundlage praktizieren. Daneben war die Kommission ermächtigt, auf Antrag eines Unternehmens zu erklären, dass eine bestimmte Vereinbarung nicht das Kartellverbot des Art.&nbsp;81(1)EG/ 101(1) AEUV) verletzte (Negativattest). In Bezug auf diese Ausnahmen vom Kartellverbot erfolgte auf der Grundlage der ''Walt-Wilhelm''-Rechtsprechung eine differenzierte Beurteilung der in Betracht kommenden Rechtsakte: erfolgte die Freistellung durch Entscheidung der Kommission oder durch Gruppenfreistellungsverordnung, so setzte sich die Freistellung gegen ein strengeres mitgliedstaatliches Kartellverbot durch. Erteilte die Kommission hingegen lediglich ein Verwaltungsschreiben oder ein Negativattest, wurde dadurch der Vorrang des Gemeinschaftsrechts nicht ausgelöst. Insoweit konnte eine Vereinbarung strengeren Maßnahmen des mitgliedstaatlichen Kartellrechts unterworfen werden (EuGH Rs.&nbsp;253/78, 1-3/79 – ''Giry/Guerlain'', Slg. 1980, 2327, 2374&nbsp;f.).<br />
<br />
=== b) Gegenwärtig geltendes Recht ===<br />
Die VO&nbsp;1/2003 verlagert die Durchführung der Wettbewerbsregeln des Vertrages im Vergleich zum früheren Rechtszustand sehr stark auf die Wettbewerbsbehörden und Gerichte der Mitgliedstaaten (Art.&nbsp;5, 6 VO&nbsp;1/2003). Diese Zielsetzung war bereits im 1999 veröffentlichten „Weißbuch über die Modernisierung der Vorschriften zur Anwendung der Artikel&nbsp;85 und 86 E‑Vertrag“ (81, 82 EG/101, 102 AEUV) unter dem Motto Dezentralisierung der Anwendung der Wettbewerbsregeln enthalten; die Kommission wollte sich dadurch von Verwaltungstätigkeiten entlasten, um sich effizienter der Bekämpfung der wirklich schwerwiegenden Wettbewerbsbeschränkungen widmen zu können. Um die einheitliche Rechtsanwendung, die wirksame Durchsetzung der Wettbewerbsregeln des Gemeinschaftsrechts und die reibungslose Zusammenarbeit der Wettbewerbsbehörden und der Gerichte der Mitgliedstaaten zu gewährleisten, müssten die mitgliedstaatlichen Stellen verpflichtet sein, Art.&nbsp;81, 82 EG/101, 102 AEUV anzuwenden, wenn sie innerstaatliches Recht auf Vereinbarungen und Verhaltensweisen anwendeten, die den innergemeinschaftlichen Handel beeinträchtigen könnten. Darüber hinaus erfordere die Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt die nähere Bestimmung des Verhältnisses der Wettbewerbsregeln des Vertrages mit den innerstaatlichen Gesetzen gegen Wettbewerbsbeschränkungen auf der Grundlage des Art.&nbsp;83(2)(e) EG/103(2)(e) AEUV (VO&nbsp;1/2003, Erwägungsgrund 8). Zunächst hatte die Kommission in dem Entwurf zur VO&nbsp;1/2003 angestrebt, das Verhältnis des gemeinschaftsrechtlichen zum mitgliedstaatlichen Kartellrecht dem Exklusivitätsgrundsatz zu unterwerfen: immer wenn der Anwendungsbereich der Wettbewerbsregeln des Vertrages eröffnet sei, sollten die mitgliedstaatlichen Wettbewerbsvorschriften unanwendbar sein. Diese Regelung konnte die Kommission indessen im Rechtssetzungsverfahren nicht durchsetzen. Vielmehr geht Art.&nbsp;3 VO&nbsp;1/2003, der das Verhältnis der Wettbewerbsregeln des Vertrages zu den mitgliedstaatlichen Wettbewerbsvorschriften regelt, von der parallelen Anwendbarkeit gemeinschaftsrechtlichen und mitgliedstaatlichen Wettbewerbsrechts aus. Allerdings wird durch die Konvergenzregeln, die Art.&nbsp;3 VO&nbsp;1/2003 aufstellt, sichergestellt, dass sich die Wettbewerbsregeln des Vertrages gegenüber den mitgliedstaatlichen Gesetzen gegen Wettbewerbsbeschränkungen weitestgehend durchsetzen. <br />
<br />
Art.&nbsp;3(1) VO&nbsp;1/2003 verpflichtet die Wettbewerbsbehörden und Gerichte der Mitgliedstaaten, die die Vorschriften ihres innerstaatlichen Wettbewerbsrechts auf Vereinbarungen von Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen sowie abgestimmte Verhaltensweisen anwenden, dazu, Art.&nbsp;81 EG/101 AEUV auf solche Maßnahmen anzuwenden, wenn diese Maßnahmen dazu geeignet sind, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Dasselbe gilt, wenn Wettbewerbsbehörden oder Gerichte der Mitgliedstaaten die einzelstaatlichen Normen über den Missbrauch marktbeherrschender Stellungen anwenden: sie haben dann zugleich auch Art.&nbsp;82 EG/102 AEUV anzuwenden, wenn die Voraussetzungen der Zwischenstaatlichkeitsklausel erfüllt sind. Art.&nbsp;3 (2)1 VO&nbsp;1/2003 macht deutlich, dass die Vorrangregelung im Bereich des Art.&nbsp;81 EG/101 AEUV praktisch zu einer Verdrängung des mitgliedstaatlichen Wettbewerbsrechts führt. Nach dieser Vorschrift darf die Anwendung des mitgliedstaatlichen Rechts nicht zu einem Verbot von Vereinbarungen (und sonstigen Maßnahmen nach Art.&nbsp;81(1) EG/101(1) AEUV) führen, die die Voraussetzungen der Zwischenstaatlichkeitsklausel erfüllen, die aber den Wettbewerb nach Art.&nbsp;81(1) EG/101(1) AEUV nicht beschränken oder die nach Art.&nbsp;81(3) EG/101(3) AEUV oder durch eine Gruppenfreistellungsverordnung vom Kartellverbot freigestellt sind. Die Vorrangregel sorgt auch im umgekehrten Fall (Verbot des gemeinschaftsrechtlichen Kartellrechts, kein Verbot nach mitgliedstaatlichem Wettbewerbsrecht) dazu, dass sich das Gemeinschaftsrecht gegenüber dem Recht des Mitgliedstaats durchsetzt. Im Vergleich zur Vorrangregelung des Art.&nbsp;3(2)1 VO&nbsp;1/2003 für Art.&nbsp;81 EG/101 AEUV ist die Reichweite des Prioritätsgrundsatzes im Hinblick auf Art.&nbsp;82 EG/102 AEUV begrenzter. Zwar gilt auch im Hinblick auf den Missbrauch marktbeherrschender Stellungen nach Art.&nbsp;3(1) VO&nbsp;1/2003, dass die Wettbewerbsbehörden – neben ihrem eigenen Wettbewerbsrecht – Art.&nbsp;82 EG/102 AEUV anzuwenden haben, wenn die Voraussetzungen der Zwischenstaatlichkeitsklausel erfüllt sind. Gemäß Art.&nbsp;3(2)2 VO&nbsp;1/2003 ist es den Mitgliedstaaten jedoch nicht verwehrt, in ihrem Hoheitsgebiet strengere Vorschriften zur Unterbindung und Ahndung einseitiger Maßnahmen zu erlassen. Diese sog. „deutsche Klausel“ ermöglicht es, Vorschriften des mitgliedstaatlichen Wettbewerbsrechts zur Verhinderung missbräuchlichen, einseitigen Verhaltens, die strenger sind als Art.&nbsp;82 EG/102 AEUV, zu erlassen oder anzuwenden. In einem solchen Fall setzt sich somit das strengere mitgliedstaatliche Wettbewerbsrecht gegen Art.&nbsp;82 EG/102 AEUV durch. Als Beispiel ist hier etwa §&nbsp;20 Abs.&nbsp;4 dt. GWB zu nennen, der Unternehmen mit überlegener Marktmacht verbietet, diese durch Verkauf von Waren unter Einstandspreis dazu auszunutzen, ihre kleinen und mittleren Wettbewerber unbillig zu behindern. Die Wettbewerbsregeln des Gemeinschaftsrechts, insbesondere Art.&nbsp;82 EG/102 AEUV, kennen keine Entsprechung dieser Vorschrift. In einem Fall, in dem zugleich §&nbsp;20 Abs.&nbsp;4 GWB und Art.&nbsp;82 EG/102 AEUV anwendbar wären, aber nur §&nbsp;20 Abs.&nbsp;4 GWB zu einer Untersagung des Verhaltens führte, würde sich das deutsche GWB durchsetzen. Die Vorrangregelung des Art.&nbsp;3(1), (2) VO&nbsp;1/2003 gilt nicht für die Anwendung mitgliedstaatlicher Vorschriften über die Fusionskontrolle. Art.&nbsp;3 VO&nbsp;1/2003 steht auch nicht der Anwendung von Normen der Mitgliedstaaten entgegen, die andere Zwecke als Art.&nbsp;81, 82 EG/101, 102 AEUV verfolgen, wie z.B. Normen des unlauteren Wettbewerbs oder des Verbraucherschutzes. Die Vorschriften des Art.&nbsp;3 VO&nbsp;1/ 2003 sind mit der 7.&nbsp;GWB-Novelle 2005 in §&nbsp;22 GWB übernommen worden. <br />
<br />
== 3. Verhältnis der Vorschriften der FKVO zu den mitgliedstaatlichen Regelungen zur Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen ==<br />
Das Verhältnis der gemeinschaftsrechtlichen FKVO zu den Vorschriften der Mitgliedstaaten über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen unterliegt nicht dem Prinzip paralleler Anwendbarkeit von Gemeinschaftsrecht und mitgliedstaatlichem Recht, wie es Art.&nbsp;3 VO&nbsp;1/2003 für Art.&nbsp;81, 82 EG/101, 102 AEUV festlegt. Im Bereich der Fusionskontrolle gilt vielmehr das Exklusivitätsprinzip: nach Art.&nbsp;21(3) FKVO wenden die Mitgliedstaaten ihr innerstaatliches Wettbewerbsrecht nicht auf Zusammenschlüsse von gemeinschaftsweiter Bedeutung an. Nach Art.&nbsp;1(1) FKVO gilt die Verordnung für alle Zusammenschlüsse von gemeinschaftsweiter Bedeutung, was wiederum gemäß Art. 1(2), (3) FKVO vom Erreichen gewisser Umsatzschwellen durch die betroffenen Unternehmen abhängt. Im Anwendungsbereich der FKVO ist damit die Anwendung mitgliedstaatlicher Vorschriften der Fusionskontrolle ausgeschlossen. Allerdings sind die Mitgliedstaaten nach Art.&nbsp;21(4) FKVO befugt, bei einem Zusammenschluss von Unternehmen, der der FKVO unterliegt, Maßnahmen des innerstaatlichen Rechts zu treffen, die durch die FKVO nicht berücksichtigt werden und die mit den allgemeinen Grundsätzen und den sonstigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts vereinbar sind. Beispielhaft nennt Art.&nbsp;21(4) FKVO etwa Vorschriften zum Schutz der Medienvielfalt. Diese Vorschrift ermöglicht es etwa den zuständigen deutschen Behörden bei einem Zusammenschluss von Fernsehunternehmen von gemeinschaftsweiter Bedeutung, der wettbewerbsrechtlich der FKVO unterliegt, die §§&nbsp;25&nbsp;ff. des deutschen Rundfunkstaatsvertrages zur Verhinderung von vorherrschender Meinungsmacht anzuwenden.<br />
<br />
Darüber hinaus ermöglichen Art.&nbsp;9 und Art.&nbsp;22 FKVO unter bestimmten Voraussetzungen wechselseitige Zuständigkeitsverweisungen zwischen Kommission und Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten, weil der Exklusivitätsgrundsatz des Art.&nbsp;21(3) FKVO den wettbewerbspolitischen Interessen von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten nicht in allen Zusammenschlussfällen angemessen Rechnung trägt. So kann ein Mitgliedstaat, dessen Recht keine Fusionskontrollvorschriften enthält, daran interessiert sein, dass ein Zusammenschluss ohne gemeinschaftsweite Bedeutung (Art.&nbsp;1 FKVO), der aber den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigt, von der Kommission nach der Vorschriften der FKVO untersucht wird. Gemäß Art.&nbsp;22 FKVO kann ein Mitgliedstaat eine derartige Prüfung bei der Kommission beantragen („niederländische Klausel“). Umgekehrt darf die Kommission nach Art.&nbsp;9 FKVO einen Fall, in dem sich der Zusammenschluss besonders auf gesonderten Märkten in einem Mitgliedstaat auswirkt und dort den Wettbewerb erheblich zu beeinträchtigen droht, an die Wettbewerbsbehörden dieses Mitgliedstaates verweisen. Diese wenden auf den Zusammenschluss ihr eigenes Wettbewerbsrecht an. Entschließt sich die Kommission dagegen, den Fall selbst zu behandeln, beurteilt sie den Zusammenschluss nach der FKVO.<br />
<br />
== Literatur==<br />
''Robert Walz'', Der Vorrang des europäischen vor dem nationalen Kartellrecht, 1994; ''Christian Jung'', Subsidiarität im Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, 1995; ''Reinhard Ellger'', Das Verhältnis der Wettbewerbsregeln des EG-V zu den Gesetzen gegen Wettbewerbsbeschränkungen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, in: Jürgen Basedow, Jürgen Drobnig, Reinhard Ellger, Klaus J. Hopt, Hein Kötz, Rainer Kulms, Ernst-Joachim Mestmäcker (Hg.), Aufbruch nach Europa: 75 Jahre Max-Planck-Institut für Privatrecht, 2001, 265&nbsp;ff.; ''Laurence Idot'', Droit Communautaire de la Concurrence, 2004, Kap.&nbsp;2 §&nbsp;1; ''Andreas Klees'','' ''Europäisches Kartellverfahrensrecht mit Fusionskontrollverfahren, 2004, §&nbsp;4;'' Ernst-Joachim Mestmäcker'', ''Heike Schweitzer'', Europäisches Wettbewerbsrecht, 2.&nbsp;Aufl. 2004, §&nbsp;5; ''Andreas Zuber'', Art. 3 VerfO, in: Ulrich Loewenheim, Karl M.Meessen, Alexander Riesenkampff (Hg.),'' ''Kartellrecht, Bd.&nbsp;1: Europäisches Recht, 2005;'' Volker Emmerich'', Kartellrecht, 11.&nbsp;Aufl. 2008, §&nbsp;3&nbsp;VII;'' Thorsten Mäger'', §&nbsp;16: Kartellrecht, Abschn. A.VI., in: Reiner Schulze, Manfred Zuleeg (Hg.), Europarecht. Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 2006; ''Jonathan Faull'','' Ali Nikpay'', The EC Law of Competition, 2.&nbsp;Aufl. 2007, Kap. 2 B, Rn. 2.28 ff.; ''Eckard Rehbinder'', Art.&nbsp;3 VO 1/2003, in: Ulrich'' ''Immenga, Ernst-Joachim Mestmäcker (Hg.), Wettbewerbsrecht EG/Teil 2, 4.&nbsp;Aufl. 2007; ''Peter Roth'','' Vivien Rose'' (Hg.), Bellamy & Child European Community Law of Competition, 6.&nbsp;Aufl. 2008, Bd. I. Kap.&nbsp;14,&nbsp;4.<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Competition_Law_(Relationship_between_European_and_National_Law)]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Kartellverfahrensrecht&diff=1715Kartellverfahrensrecht2021-09-08T10:40:46Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Friedrich Wenzel Bulst]]''<br />
== 1. Gegenstand und Zweck ==<br />
Das in Art.&nbsp;81, 82 EG/101, 102 AEUV niedergelegte europäische Kartellrecht dient dem Schutz des [[Wettbewerb im Binnenmarkt|Wettbewerbs auf dem gemeinsamen Markt]] ([[Kartellverbot und Freistellung]]; [[Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung]]). Es wird öffentlichrechtlich durch die [[Europäische Kommission]] durchgesetzt (zur zivil- und strafrechtlichen Durchsetzung [[Kartellrecht, Rechtsfolgen von Verstößen]]; [[Kartellrecht, private Durchsetzung]]). Um die Wirksamkeit der Kartellrechtsdurchsetzung zu verbessern, sind die Art.&nbsp;81, 82 EG/101, 102 AEUV seit Inkrafttreten der VO&nbsp;1/2003 auch durch die Wettbewerbsbehörden aller Mitgliedstaaten anzuwenden. Zuvor waren dazu nur etwa die Hälfte der nationalen Kartellbehörden befugt. Bei Verstößen, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen können, wenden nunmehr nicht nur die Kommission, sondern gemäß Art.&nbsp;3(1) VO&nbsp;1/ 2003 auch alle nationalen Behörden die Art.&nbsp;81, 82 EG/101, 102 AEUV (ggf. neben nationalem Kartellrecht) an. Die VO&nbsp;1/2003 ist das Herzstück des sogenannten Modernisierungspaketes von 2004, durch das insbesondere die vorherige Verfahrens-VO&nbsp;17/62 aufgehoben wurde ([[Kartellverbot und Freistellung]]).<br />
<br />
Innerhalb der Kommission ist die Generaldirektion Wettbewerb mit der Durchsetzung der Art.&nbsp;81, 82 EG/101, 102 AEUV betraut. Das durch die Kommission anzuwendende Verfahrensrecht ergibt sich seit 2004 vor allem aus der VO&nbsp;1/2003 und der VO&nbsp;773/2004 sowie einigen Mitteilungen und Bekanntmachungen. Diese Instrumente sollen für die wirksame Durchsetzung des Gemeinschaftskartellrechts sorgen und die Achtung der grundlegenden Verteidigungsrechte gewährleisten.<br />
<br />
Die nationalen Wettbewerbsbehörden wenden bei der Durchsetzung der Art.&nbsp;81, 82 EG/101, 102 AEUV und des nationalen Kartellrechts nationales Verfahrensrecht an, das im Falle der Art.&nbsp;81, 82 EG/101, 102 AEUV durch die VO&nbsp;1/ 2003 und die Bekanntmachung über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden ergänzt wird.<br />
<br />
== 2. Kartellverfahren nach Gemeinschaftsrecht ==<br />
=== a) Das Kommissionsverfahren im Überblick ===<br />
Das Kartellverfahrensrecht enthält die bei der Sachverhaltsermittlung und dem Erlass von Entscheidungen zu beachtenden Vorschriften. Die der Kommission zur Verfügung stehenden Entscheidungsarten und Sanktionen umfassen die Feststellung einer Zuwiderhandlung, die Aufgabe von Abhilfemaßnahmen, den Erlass einstweiliger Maßnahmen, die Verbindlicherklärung von Verpflichtungszusagen, die Verhängung von Geldbußen und Zwangsgeldern (zu all diesen Entscheidungsarten und Sanktionen [[Kartellrecht, Rechtsfolgen von Verstößen]]) und die Feststellung der Nichtanwendbarkeit der Art.&nbsp;81, 82 EG/101, 102 AEUV (vgl. Art.&nbsp;7–10, 23, 24 VO&nbsp;1/2003). Die Beweislast für einen Verstoß gegen Art.&nbsp;81(1), 82 EG/101(1), 102 AEUV trägt gemäß Art.&nbsp;2 VO&nbsp;1/2003 die Kommission (oder die nationale Behörde). Für die Voraussetzungen des Art.&nbsp;81(3) EG/101(3) AEUV ist das Unternehmen beweisbelastet, das sich darauf beruft. Zu neuartigen Fragen kann die Kommission Unternehmen in Einzelfällen informell beraten. <br />
<br />
Die Kommission kann ''ex officio'' oder auf eine Beschwerde hin Ermittlungen aufnehmen. Was Kartelle angeht, werden die meisten Untersuchungen durch Kronzeugenanträge (vgl. unten) ausgelöst. Die Kommission kann bereits vor Verfahrenseinleitung von ihren Ermittlungsbefugnissen Gebrauch machen. Leitet sie ein Verfahren zum Erlass einer der vorgenannten Entscheidungen ein, so entfällt gemäß Art.&nbsp;11(6) VO&nbsp;1/2003 die Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden. <br />
<br />
''Beschwerden'': Natürliche und juristische Personen, die ein berechtigtes Interesse darlegen, können Beschwerden einreichen. Die Kommission muss ihr Vorbringen sorgfältig prüfen. Ihr steht jedoch ein Aufgreifermessen zu und Beschwerden können nicht nur wegen Unbegründetheit, sondern auch mangels Gemeinschaftsinteresses abgewiesen werden. Beschwerdeführer haben im Verfahren Anhörungs- und Akteneinsichtsrechte. <br />
<br />
''Ermittlungsbefugnisse'':'' ''Die Ermittlungsbefugnisse nach Art.&nbsp;17–22 VO&nbsp;1/2003 sind Anwendungsfälle der Auskunfts- und Nachprüfungsrechte der Kommission nach Art.&nbsp;284 EG/337 AEUV und dienen der Aufklärung des Sachverhalts und der Gewinnung von Beweismitteln. <br />
<br />
''Auskunftsverlangen'': Die Kommission kann gemäß Art.&nbsp;18 VO&nbsp;1/2003 einfache sowie durch Entscheidung angeordnete Auskunftsverlangen an Unternehmen richten, mit Fragen z.B. zu Marktanteilen, Wettbewerberkontakten, Preisentwicklungen und Vertriebspraktiken. Schuldhaft unrichtige Antworten können mit einem Bußgeld bis zu einem Höchstbetrag von 1&nbsp;% des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Unternehmensgesamtumsatzes geahndet werden (Art.&nbsp;23 VO&nbsp;1/2003). Im Falle eines Auskunftsersuchens durch Entscheidung kann bei Nichtbeantwortung ein Zwangsgeld nach Art.&nbsp;24 VO&nbsp;1/2003 verhängt werden ([[Kartellrecht, Rechtsfolgen von Verstößen]]). <br />
<br />
''Nachprüfungen (Durchsuchungen)'': Unter den in Art.&nbsp;20 VO&nbsp;1/2003 niedergelegten Voraussetzungen kann die Kommission die Räumlichkeiten von Unternehmen durchsuchen, Kopien relevanter Unterlagen anfertigen, während der Durchsuchung Siegel anbringen und Tatsachenerläuterungen verlangen und protokollieren. Die Kommissionsbeamten werden durch Vertreter der nationalen Wettbewerbsbehörde unterstützt. Widerstand dürfen nur nationale Beamte brechen. Wenn dafür nach nationalem Recht eine richterliche Genehmigung erforderlich ist, kann diese bereits vorsorglich durch die nationale Behörde beantragt werden. Dem nationalen Gericht kommt dabei nach Art.&nbsp;20(8) VO&nbsp;1/2003 ein im Wesentlichen auf Willkürfreiheit und [[Verhältnismäßigkeit]] beschränkter Prüfungsumfang zu. Behinderungen durch das Unternehmen können ein Bußgeld nach Art.&nbsp;23 VO&nbsp;1/2003 nach sich ziehen (vgl. die Buße von EUR 38 Mio. im Fall ''E.ON'' – ''Siegelbruch'', Entscheidung vom 30.1.2008, COMP/B-1/39.326).<br />
<br />
Nur auf der Grundlage einer Entscheidung und nach vorheriger Genehmigung durch ein nationales Gericht können unter den strengeren Voraussetzungen des Art.&nbsp;21 VO&nbsp;1/2003 auch andere als Unternehmensräumlichkeiten durchsucht werden. <br />
<br />
Gemäß Art.&nbsp;22 VO&nbsp;1/2003 kann die Kommission auch nationale Behörden ersuchen, für sie Ermittlungen vorzunehmen. Anders als bei der Unterstützung einer Durchsuchung der Kommission üben die nationalen Bediensteten in einem solchen Fall die ihnen nach innerstaatlichem Recht gewährten Befugnisse aus. Entsprechende Ermittlungshilfe können auch die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten untereinander beantragen.<br />
<br />
''Befugnis zur Befragung'': Gemäß Art.&nbsp;19 VO&nbsp;1/ 2003 darf die Kommission natürliche und juristische Personen zum Gegenstand einer Untersuchung befragen, sofern diese der Befragung zustimmen.<br />
<br />
''Sektoruntersuchungen'': Die Kommission kann gemäß Art.&nbsp;17 VO&nbsp;1/2003 ganze Wirtschaftssektoren auf Wettbewerbsbeschränkungen untersuchen und sich zu diesem Zweck der dargestellten Ermittlungsbefugnisse bedienen, mit Ausnahme der Durchsuchung von Privaträumen. Die Ergebnisse werden in einem Bericht veröffentlicht. Sektoruntersuchungen wurden etwa in den Bereichen Energie, Finanzdienstleistungen und Pharmazeutika durchgeführt und ziehen in der Praxis häufig die Einleitung von Verfahren nach sich.<br />
<br />
''Vergleichsverfahren in Kartellfällen'': Um Kartellfälle effizienter bearbeiten zu können, hat die Kommission 2008 durch eine Verordnung und eine Mitteilung ein Vergleichsverfahren eingeführt. Hiernach können die Parteien nach Einsichtnahme in die Kommissionsakte Vergleichsausführungen einreichen und die Beschwerdepunkte anerkennen. Diese Ausführungen werden dann in die Mitteilung der Beschwerdepunkte übernommen, die dadurch deutlich kürzer ausfallen dürfte als in einem Verfahren ohne vorherige Zusammenarbeit. Im Gegenzug kann die Kommission die zu verhängende Geldbuße um 10&nbsp;% reduzieren. Das Recht, die Kommissionsentscheidung vor dem EuG anzufechten (s.u.), bleibt unberührt.<br />
<br />
''Kronzeugenregelung'':'' ''Um geheime Kartelle ([[Kartellverbot und Freistellung]]) effektiver aufdecken zu können, hat die Kommission durch eine Mitteilung eine Kronzeugenregelung eingeführt (zuerst 1996, überarbeitet 2002 und 2006 <nowiki>[Abl. 2006 C 298/17]), die Kartellbeteiligte dazu veranlassen soll, das Kartell der Kommission offenzulegen, die Zuwiderhandlung einzustellen und an der Kommissionsuntersuchung aktiv mitzuwirken. Dem Unternehmen, das als erstes Angaben macht, die es der Kommission ermöglichen, gezielte Nachprüfungen durchzuführen oder eine Zuwiderhandlung festzustellen, wird die Geldbuße erlassen, sofern die Kommission die notwendigen Nachweise ohne seine Angaben nicht hätte führen können und das Unternehmen weiteren Voraussetzungen genügt. Insbesondere muss es während der gesamten Untersuchung mit der Kommission zusammenarbeiten und darf kein anderes Unternehmen zur Beteiligung an dem Kartell gezwungen haben. Einem Unternehmen, das sich zwar nicht als erstes als Kronzeuge zur Verfügung stellt, der Kommission aber dennoch Beweismittel mit einem erheblichen Mehrwert vorlegt, wird eine Bußgeldermäßigung von bis zu 50&nbsp;% gewährt, je nachdem wieviele Kronzeugen sich schon vor ihm gemeldet haben. Zur Feststellung der Reihenfolge ist ein Markersystem vorgesehen.</nowiki><br />
<br />
''Rechtsschutz'': Entscheidungen der Kommission können vor dem [[Europäisches Gericht erster Instanz|EuG]] ([[Europäischer Gerichtshof|EuGH]]) angefochten werden.<br />
<br />
=== b) Verfahrensgarantien ===<br />
Die Wahl der Ermittlungshandlungen liegt grundsätzlich im Ermessen der Kommission, die die [[Verhältnismäßigkeit]] wahren muss. Ein Stufenverhältnis zwischen den verschiedenen Befugnissen gibt es nicht. Durch die Kommission zu achtende Verfahrensgarantien ergeben sich unstreitig aus den [[Allgemeine Rechtsgrundsätze|allgemeinen Rechtsgrundsätzen]] (s.u.). Kontrovers diskutiert wird, ob sich darüberhinaus unmittelbar auch aus der EMRK Verfahrensgarantien ergeben. <br />
<br />
Art.&nbsp;6 EMRK ([[Grund- und Menschenrechte: GRCh und EMRK]]) enthält eine Reihe von Verfahrensrechten des Angeklagten. In Anfechtungsverfahren vor den Gemeinschaftsgerichten ([[Europäischer Gerichtshof|EuGH]]) und in der Literatur wird häufig die Anwendbarkeit des Art.&nbsp;6 EMRK auf das gemeinschaftsrechliche Wettbewerbsverfahren postuliert. Da die EG nicht Vertragspartei der EMRK ist (vgl. aber Art.&nbsp;6(2) AEUV und 14.&nbsp;Zusatzprotokoll zur EMRK), gilt die EMRK nicht unmittelbar für die Gemeinschaft. Die Grundrechte gehören jedoch zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Der EuGH, der deren Wahrung zu sichern hat, hebt in ständiger Rechtsprechung die besondere Bedeutung der EMRK als Rechtserkenntnisquelle für die Gewinnung dieser allgemeinen Rechtsgrundsätze hervor und folgert, „dass in der Gemeinschaft keine Maßnahmen als Rechtens anerkannt werden können, die mit der Beachtung der so anerkannten und gewährleisteten Menschenrechte unvereinbar sind“ (EuGH Rs.&nbsp;C-260/89 – ''ERT'', Slg. 1991, I-2925, Rn.&nbsp;41). Die Gemeinschaftsgerichte weisen in ständiger Rechtsprechung darauf hin, dass diese besondere Bedeutung der EMRK durch Art.&nbsp;6(2) EU (1992) sowie den fünften Erwägungsgrund, Art.&nbsp;52(3) und Art.&nbsp;53 der GRCh bestätigt bzw. bekräftigt wurde (zu Verbindlichkeit und Tragweite der Charta [[Grund- und Menschenrechte: GRCh und EMRK]]). Die Verpflichtung der Union aus Art.&nbsp;6(2) EU (1992), die Grundrechte, wie sie durch die EMRK gewährleistet sind, zu achten, verlangt nach der Rechtsprechung jedoch keine unmittelbare Geltung der EMRK. Vielmehr wird nach Auffassung der Gemeinschaftsgerichte auf der Grundlage der allgemeinen Rechtsgrundsätze in Wettbewerbssachen ein Schutz gewährt, der dem durch Art.&nbsp;6 EMRK gleichwertig ist. Der Rechtsprechung des [[Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte|EGMR]] sei bei der Auslegung von Grundrechten aber Rechnung zu tragen (zum Ganzen EuGH verb. Rs.&nbsp;C-238/99 P – ''PVC (LVM)'', Slg. 2002, I-8375, Rn.&nbsp;274&nbsp;ff.; EuG Rs.&nbsp;T-112/98 – ''Mannesmann'', Slg. 2001, II-729, Rn.&nbsp;59; EuG verb. Rs.&nbsp;T-236/01 – ''Tokai'', Slg. 2004, II-1181, Rn. 403&nbsp;ff.). In der Literatur und in Anfechtungsklagen wird bisweilen argumentiert, dass der [[Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte|EGMR]] in seiner Rechtsprechung zu Verwaltungsverfahren, die zur Verhängung von Bußgeldern führen können, weitere Verteidungsrechte gewährt als die Gemeinschaftsgerichte in Wettbewerbssachen.<br />
<br />
Nach der Rechtsprechung der Gescheinschaftsgerichte garantieren die allgemeinen Rechtsgrundsätze u.a. die Wahrung der Verteidigungsrechte. Danach kann ein Unternehmen nicht gezwungen werden, seine Beteiligung an einer Zuwiderhandlung zuzugeben. Zwang wird nur angenommen, wenn im Falle einer Verweigerung eine Sanktion droht (vgl. auch Erwägungsgrund 23 der VO&nbsp;1/2003). Die Verpflichtung zur aktiven Mitwirkung bei Auskunftsverlangen und Nachprüfungen ist dementsprechend eingeschränkt. Es besteht jedoch kein umfassendes Aussageverweigerungsrecht.<br />
<br />
Die Wahrung der Verteidigungsrechte umfasst auch den Grundsatz der Vertraulichkeit des Schriftverkehrs zwischen Rechtsanwalt und Mandant. Entsprechende Schriftstücke dürfen nicht herausverlangt und bei Nachprüfungen nicht eingesehen werden. Um festzustellen, ob ein Schriftstück tatsächlich unter das Anwaltsprivileg fällt, ist ein besonderes Verfahren anzuwenden (EuG Rs.&nbsp;T-125/03 – ''Akzo'', Slg. 2007, II-3523, Rn.&nbsp;79&nbsp;ff.). Nicht geschützt ist der Schriftverkehr zwischen dem Unternehmen und angestellten Mitarbeitern seiner Rechtsabteilung, auch wenn diese als Anwälte zugelassen sind (EuG Rs.&nbsp;T-125/03 – ''Akzo'', Slg. 2007, II-3523, Rn.&nbsp;165&nbsp;ff.).<br />
<br />
Vor Erlass einer der oben genannten Sanktionsentscheidungen hat die Kommission dem Adressaten ihre Beschwerdepunkte schriftlich mitzuteilen. Spätestens vor Übersendung der Mitteilung der Beschwerdepunkte muss die Kommission die Verfahrenseinleitung beschließen. Das betroffene Unternehmen kann zu den Beschwerdepunkten Stellung nehmen. Es hat auch ein Recht auf Akteneinsicht, von dem Geschäftsgeheimnisse Dritter und verwaltungsinterne Unterlagen ausgenommen sind. Informationen, auf die der Nachweis eines Verstoßes gestützt wird, müssen jedoch offengelegt werden. Die Kommission muss zwischen dem Bedürfnis, ein Schriftstück offenzulegen, und dem durch Offenlegung entstehenden Schaden abwägen. <br />
<br />
Über die Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, den Schutz von Geschäftsgeheimnissen, das Recht auf Akteneinsicht und ein faires Verfahren wacht der ''Anhörungsbeauftragte'', der direkt dem für Wettbewerb verantwortlichen Kommissionsmitglied berichtet.<br />
<br />
== 3. Kartellverfahren nach nationalem Recht ==<br />
Alle Mitgliedstaaten verfügen über Wettbewerbsbehörden. Rechtsfolgen und Verfahren sind innerhalb eines Mitgliedstaats grundsätzlich identisch, was Verstöße gegen europäisches und nationales Kartellrecht angeht. In den meisten Mitgliedstaaten führt eine Wettbewerbsbehörde das Ermittlungsverfahren und verhängt Sanktionen. Bisweilen sind diese Befugnisse jedoch auf zwei Behörden verteilt (z.B. Frankreich – Reform geplant). In anderen Mitgliedstaaten kann die Wettbewerbsbehörde bestimmte Sanktionen, insbesondere Geldbußen, nicht selbst verhängen, sondern muss sie bei einem Gericht beantragen (z.B. Österreich, Schweden). Bisweilen ist die Zuständigkeit für bestimmte Sektoren abgespalten. <br />
<br />
Die ''Ermittlungsbefugnisse'' der nationalen Behörden entsprechen in erheblichem Umfang denen der Kommission. Einige Unterschiede bestehen jedoch. So dürfen nicht alle Wettbewerbsbehörde Privaträume durchsuchen (nicht in Bulgarien, Dänemark, Italien, Portugal), Personen befragen (z.B. nicht in Rumänien, Spanien) oder Siegel anbringen (nicht in Finnland, Irland, Luxemburg, Österreich). Anders als nach der VO&nbsp;1/2003 dürfen viele nationale Behörden Originale und nicht nur Kopien an sich nehmen. In einigen Mitgliedstaaten stehen anders als nach der VO&nbsp;1/2003 gegen Unternehmen, die nicht selbst im Verdacht stehen, eine Zuwiderhandlung begangen zu haben, nur eingeschränkte Ermittlungsbefugnisse zur Verfügung (z.B. Frankreich, Polen, Niederlande). <br />
<br />
Was die ''Verteidigungsrechte'' angeht, bestehen Unterschiede vor allem in der Behandlung von Anwaltskorrespondenz (insbesondere bei der Bestimmung der Reichweite des Anwaltsprivilegs). Nicht überall werden Entscheidungsadressaten vor der Entscheidung Beschwerdepunkte mit den wesentlichen Vorwürfen (z.B. nicht in Ungarn, Polen) übermittelt. Der Anhörungsbeauftragte ist ein Spezifikum des Kommissionsverfahrens.<br />
<br />
== 4. Das System paralleler Zuständigkeiten ==<br />
Seit der Umsetzung des Modernisierungspakets bilden die Kommission und die nationalen Wettbewerbsbehörden gemeinsam ein Netz von Behörden, die die EG-Wettbewerbsregeln in enger Zusammenarbeit anwenden (''European Competition Network'' – ECN). Es wurden Informations- und Konsultationsverfahren eingeführt, die von einem gemeinsamen Computernetzwerk unterstützt werden, um eine optimale Verteilung der Fälle innerhalb des Netzwerks und eine einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen. <br />
<br />
Jeder Fall soll grundsätzlich nur von einer Behörde bearbeitet werden. Wenn bei einer nationalen Behörde eine Beschwerde eingeht oder sie ''ex officio'' ein Verfahren einleitet, dann soll diese Behörde in der Regel für den Fall zuständig bleiben. Hält sich die Behörde aber für die Bearbeitung des Falles nicht für gut geeignet oder halten sich andere Netzwerkmitglieder auch für gut geeignet, kann eine Umverteilung vorgenommen werden, was in der Praxis jedoch sehr selten ist.<br />
<br />
Im Interesse der Kohärenz der Anwendung der Art.&nbsp;81, 82 EG/101, 102 AEUV übermitteln die nationalen Wettbewerbsbehörden der Kommission vor Erlass einer Sanktionsentscheidung den Entscheidungsentwurf. Theoretisch kann die Kommission nach Konsultation der betroffenen Behörde als ''ultima ratio'' selbst ein Verfahren eröffnen, wodurch die Zuständigkeit der nationalen Behörden gemäß Art.&nbsp;11(6) VO&nbsp;1/2003 entfiele. Die nationalen Wettbewerbsbehörden wirken insbesondere über den Beratenden Ausschuss an der Kartellrechtsdurchsetzung durch die Kommission mit. Der Beratende Ausschuss ist unter anderem vor Sanktionsentscheidungen zu hören.<br />
<br />
Allein die Kommission kann eine Positiventscheidung nach Art.&nbsp;10 VO&nbsp;1/2003 treffen, in der, soweit aus Gründen des öffentliches Interesses der Gemeinschaft erforderlich, festgestellt wird, dass die Art.&nbsp;81, 82 EG/101, 102 AEUV auf ein bestimmtes Marktverhalten keine Anwendung finden. <br />
<br />
Kommission und nationale Wettbewerbsbehörden können nach Art.&nbsp;12 VO&nbsp;1/2003 unter bestimmten Voraussetzungen auch Informationen, einschließlich vertraulicher Angaben, zum Zweck der Anwendung der Art.&nbsp;81, 82 EG/101, 102 AEUV austauschen und als Beweismittel verwenden. <br />
<br />
Zu ''ne bis in idem ''[[Kartellrecht, Rechtsfolgen von Verstößen]]. <br />
<br />
== 5. Tendenzen der Rechtsentwicklung ==<br />
Im Rahmen des ECN gibt es Arbeitsgruppen zu sektorspezifischen sowie sektorübergreifenden Aspekten der Kartellrechtsdurchsetzung (z.B. Themen Kronzeugen; Zusammenarbeit; Sanktionen). Die wohl markanteste kartellverfahrensrechtliche Konvergenz (zur Aufgabe des Notifizierungssystems bei wettbewerbsbeschränkenden Absprachen [[Kartellverbot und Freistellung]]) ist beim Einsatz von Kronzeugenprogrammen zu beobachten. 2002 gab es nur in vier Mitgliedstaaten Kronzeugenprogramme, 2008 verfügten nur noch Slowenien und Malta nicht über ein solches Programm. Die Programme divergieren jedoch bisweilen in ihren Anforderungen, insbesondere in Bezug auf Ausschlusskriterien (Rolle des Antragstellers im Kartell), die Art der offenzulegenden Informationen und die weiteren Anforderungen für einen Erlass. Diese Unterschiede können potentielle Kandidaten von der Offenlegung eines mehrere Mitgliedstaaten betreffenden Kartells abhalten, da sie ggf. befürchten müssen, nicht in allen diesen Staaten Immunität oder eine Bußgeldermäßigung zu erreichen. Um diese Abschreckungswirkung zu vermeiden, hat das ECN im September 2006 ein Kronzeugenregelungsmodell veröffentlicht, das detaillierte Vorschläge zur Regelung der genannten Aspekte von Kronzeugenprogrammen enthält. So soll eine weiche Mindestharmonisierung erreicht werden. Die Mehrheit der Mitgliedstaaten und die Kommission haben ihre Kronzeugenprogramme bereits angepasst. Das Modellkronzeugenprogramm hat auch ein System geschaffen, nach dem Kronzeugen, die ein Kartell aufdecken wollen, wegen dessen noch keine Durchsuchung durchgeführt wurde und das sich auf mehr als drei Mitgliedstaaten erstreckt, ihren Antrag an die Kommission richten und gleichzeitig rangwahrende Antragszusammenfassungen bei den betroffenen mitgliedstaatlichen Kartellbehörden einreichen können. Mehr als die Hälfte der nationalen Behörden akzeptiert solche Anträge.<br />
<br />
Konvergenz ist auch im Bereich der Ermittlungsbefugnisse zu verzeichnen. In den letzten Jahren haben mehr und mehr mitgliedstaatliche Behörden das Recht erhalten, Privatwohnungen zu durchsuchen, bei Nachprüfungen Siegel anzubringen und Sektoruntersuchungen durchzuführen. Das ECN veröffentlicht regelmäßig tabellarische Konvergenzberichte, die der Struktur der VO&nbsp;1/2003 folgen.<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Ernst-Joachim Mestmäcker'', ''Heike Schweitzer'', Europäisches Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. 2004, Kap.&nbsp;5; ''Dorothe Dalheimer'','' Christoph T. Feddersen'','' Gerald Miersch'', EU-Kartellverfahrensverordnung – Kommentar zu VO&nbsp;1/2003, Sonderausgabe aus Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union – Nach Art.&nbsp;83 EGV, 2005; ''Christina Oelke'', Das Europäische Wettbewerbsnetz – Die Zusammenarbeit von Kommission und nationalen Wettbewerbsbehörden nach der Reform des Europäischen Kartellverfahrensrechts, 2006;'' Anke Johanns'', Behörden, Verfahren, Rechtsschutz, in: Thorsten Mäger (Hg.), Europäisches Kartellrecht, 2006; ''Wouter P.J. Wils'', Powers of Investigation and Procedural Rights and Guarantees in EU Antitrust Enforcement: The Interplay between European and National Legislation and Case-law, World Competition 29 (2006) 3&nbsp;ff.; ''Friedrich Wenzel Bulst'','' ''Dezentralisierung im europäischen Wettbewerbsrecht, in: Michael Stolleis, Wolfgang Streeck (Hg.), Aktuelle Fragen zu politischer und rechtlicher Steuerung im Kontext der Globalisierung, 2007, 2111&nbsp;ff.; ''Ulrich Immenga'', ''Ernst-Joachim Mestmäcker'', Wettbewerbsrecht, Bd.&nbsp;1, Teil 2 – Kommentar zum Europäischen Kartellrecht, 4.&nbsp;Aufl. 2007, Abschn. VI; ''Kris Dekeyser'', ''Maria Jaspers'', A New Era of ECN Cooperation, World Competition 30 (2007) 3&nbsp;ff.; ''Céline Gauer'', ''Maria Jaspers'', ECN Model Leniency Programme: A first step towards a harmonised leniency policy in the EU, Competition Policy Newsletter 2007, 35&nbsp;ff.; ''ECN Working Group on Cooperation Issues'', Results of the questionnaire on the reform of Member States (MS) national competition laws after EC Regulation No.&nbsp;1/2003 (Stand 14.4.2008), http://ec.europa.eu/comm/competition/ecn/index_en.html (zuletzt abgerufen am 15.7.2009).<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Competition_Law_(Procedure)]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Kartellrecht,_private_Durchsetzung&diff=1713Kartellrecht, private Durchsetzung2021-09-08T10:39:47Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Friedrich Wenzel Bulst]]''<br />
== 1. Gegenstand und Zweck ==<br />
Die Grundnormen des europäischen Kartellrechts ([[Kartellverbot und Freistellung]]; [[Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung]]; [[Wettbewerb im Binnenmarkt]]), die Art.&nbsp;81(1), 82&nbsp;EG/101, 102 AEUV, sind nach ständiger Rechtsprechung des [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] unmittelbar anwendbar. Seit Inkrafttreten der VO&nbsp;1/2003 am 1.5.2004 gilt das auch für Art.&nbsp;81(3) EG/101(3) AEUV ([[Kartellverbot und Freistellung]]; [[Kartellverfahrensrecht]]). Die VO&nbsp;1/2003 sollte die Durchsetzung der Art.&nbsp;81, 82 EG/101, 102 AEUV durch eine verstärkte Einbindung der Wettbewerbsbehörden und Gerichte der Mitgliedstaaten dezentralisieren. Zuvor wurden beide Artikel in erster Linie durch die [[Europäische Kommission]] und in geringerem Umfang auch durch nationale Wettbewerbsbehörden durchgesetzt ([[Kartellverfahrensrecht]]; [[Kartellrecht, Rechtsfolgen von Verstößen]]). Die nationalen Gerichte, die Foren der privaten Kartellrechtsdurchsetzung, hingegen spielten bei der Anwendung des EG-Kartellrechts<sup> </sup>eine untergeordnete Rolle.<br />
<br />
Bei privaten Kartellrechtsstreitigkeiten ist zu unterscheiden zwischen vertraglichen Auseinandersetzungen, in denen sich eine der Vertragsparteien auf die Kartellrechtswidrigkeit und Nichtigkeit einer Vereinbarung ([[Kartellverbot und Freistellung]]; [[Vertikalvereinbarungen im EG‑Kartellrecht|Vertikalvereinbarungen]]; [[Kartellrecht, Rechtsfolgen von Verstößen]]) beruft sowie gegebenenfalls [[Schadensersatz]] verlangt, und nichtvertraglichen Auseinandersetzungen, in denen Dritte gegen Wettbewerbsverstöße von Unternehmen mit Unterlassungs- und Schadensersatzklagen vorgehen. Innerhalb dieser Verfahrensart ist zu unterscheiden zwischen Klagen, die im Nachgang zu einer Behördenentscheidung, mit der ein Kartellrechtsverstoß festgestellt wurde, erhoben werden (sog. Folgeklagen), und von Verwaltungsverfahren unabhängigen Klagen. Schadensersatzklagen beider Spielart sind in der Gemeinschaft bis zum Jahre 2005 kaum bekannt geworden. Auch wenn die Zahl von Folgeklagen in einigen Mitgliedstaaten seitdem deutlich angestiegen ist, bleiben kartellrechtliche Schadensersatzklagen in der großen Mehrheit der Mitgliedstaaten die Ausnahme, obwohl nach allen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen grundsätzlich ein deliktischer Anspruch ([[Deliktsrecht: Allgemeines und lex Aquilia|Deliktsrecht]]) auf Ersatz von durch Kartellrechtsverstöße verursachten Schäden besteht.<br />
<br />
Es besteht eine gewisse Spannung zwischen dieser rechtstatsächlichen Lage und dem Urteil in der Rechtssache ''Courage'', in dem der EuGH die Bedeutung privater Schadensersatzklagen gegen Kartellanten für die wirksame Durchsetzung der Art.&nbsp;81, 82 EG/101, 102 AEUV hervorgehoben hat. Hiernach wäre die volle Wirksamkeit des Art.&nbsp;81 EG/101 AEUV und insbesondere die praktische Wirksamkeit des Verbots des Art.&nbsp;81 (1) EG/101(1) AEUV beeinträchtigt, wenn nicht jedermann Ersatz des Schadens verlangen könnte, der ihm durch einen Verstoß gegen diese Vorschrift entstanden ist (EuGH Rs.&nbsp;C-453/99 – ''Courage Ltd/Crehan'', Slg. 2001, I-6297, Rn.&nbsp;26; bestätigt durch EuGH Rs.&nbsp;C-295/04-C-298/04 – ''Manfredi'', Slg. 2006, I-6619, Rn.&nbsp;60). Für Art.&nbsp;82 EG/102 AEUV dürfte der EuGH zu derselben Einschätzung gelangen, böte sich die Gelegenheit. <br />
<br />
Das ''Courage''-Urteil, mehr noch als die VO&nbsp;1/ 2003, hat der privaten Durchsetzung viel Aufmerksamkeit beschert. In einigen Mitgliedstaaten, wie Großbritannien, Deutschland, den Niederlanden, Spanien und Ungarn, haben die Gesetzgeber seit 2002 Maßnahmen ergriffen, um die private Kartellrechtsdurchsetzung zu stärken. In allen diesen Mitgliedstaaten soll die private die öffentlichrechtliche Durchsetzung ergänzen, nicht ersetzen. Dasselbe Ziel verfolgt die Kommission. Im Dezember 2005 veröffentlichte sie ein Grünbuch (KOM(2005) 672 endg.) und im April 2008 ein Weißbuch (KOM(2008) 165 endg.) zu Schadensersatzklagen wegen Verletzung der Art.&nbsp;81, 82 EG/101, 102 AEUV, jeweils begleitet von einem ausführlichen Arbeitspapier. Darin werden verschiedene Regelungsoptionen (Grünbuch) bzw. Vorschläge (Weißbuch) zur Stärkung der privaten Durchsetzung vorgestellt. Das Weißbuch fasst zudem den bereits erreichten ''acquis communautaire ''aus Sicht der Kommission zusammen. <br />
<br />
Im Grünbuch wurde unter anderem ein über die bloße Kompensation entstandener Schäden hinausgehendes und dezidiert auf Abschreckung von Kartellrechtsverstößen gerichtetes Schadensersatzregime erwogen. Diese Überlegungen sind im Weißbuch weitestgehend zugunsten einer Beschränkung auf primär kompensatorisch wirkende Vorschläge aufgegeben worden, die Abschreckung nur als Nebeneffekt verfolgen. Ob der EuGH in ''Courage'' und später ''Manfredi'' vor allem die kompensatorische Wirkung von Schadensersatzklagen, also den effektiven Individualrechtschutz, oder aber ihre abschreckende Wirkung, also die effektive Durchsetzung von Verbotsnormen, vor Augen hatte, wird kontrovers diskutiert.<br />
<br />
In der rechtspolitischen Diskussion wird jedoch auch die grundsätzlichere Frage gestellt, ob die private Kartellrechtsdurchsetzung überhaupt, d.h. selbst in ihrer kompensatorischen Funktion, gestärkt werden soll. Umstritten ist gleichermaßen, ob eine Stärkung durch eine Gemeinschaftsmaßnahme erfolgen sollte. Die Positionierung in dieser politischen Debatte folgt weithin den wirtschaftlichen Interessen ihrer Protagonisten.<br />
<br />
== 2. Einzelaspekte ==<br />
=== a) Rechtliche Grundlage ===<br />
Die Diskussion um die ''rechtliche Grundlage ''von Schadensersatzansprüchen für Verstöße gegen das Gemeinschaftskartellrecht hat in den Schlussanträgen des Generalanwalts ''Walter'' ''van Gerven'' in der Rechtssache ''Banks'' und den Anmerkungen dazu einen ersten Höhepunkt gefunden (Rs.&nbsp;C-128/92, Slg.&nbsp;1994, I-1209, Rn. 36&nbsp;ff.), bevor sie durch das ''Courage''-Urteil wieder neu beflügelt wurde. Es ist nach wie vor umstritten, ob sich solche Ansprüche allein auf die Art.&nbsp;81, 82 EG/101, 102 AEUV stützen lassen (so ''van Gerven'') oder sich innerhalb der Grenzen europarechtlicher Vorgaben nach nationalem Recht richten. Der EuGH zitiert in ''Courage'' zwar das Urteil des EuGH in der Rechtssache ''Francovich'' (Rs.&nbsp;C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, 5357) und damit die Leitentscheidung für den eindeutig auf dem Gemeinschaftsrecht fußenden staatshaftungsrechtlichen Schadensersatzanspruch gegen Mitgliedstaaten, die das Gemeinschaftsrecht verletzen, bezeichnet die Sanktion des Schadensersatzes in ''Courage'' anders als in ''Francovich'' aber nicht ausdrücklich als einen gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz. Die Frage ist nahezu ohne praktische Bedeutung. Da das Gemeinschaftsrecht die Voraussetzungen des Anspruchs unstreitig nur in Ansätzen subsumtionsfähig regelt, sind diese dem nationalen Recht zu entnehmen, das insoweit den Anforderungen des gemeinschaftsrechtlichen [[Effektivitätsgrundsatz|Effektivitäts-]] und des Äquivalenzprinzips genügen muss. Beide Ansätze nehmen damit in der Praxis das nationale Recht zum Ausgangspunkt und bestimmen bei Bedarf sowohl seine Korrekturbedürftigkeit als auch das Korrekturergebnis anhand des Effektivitäts- und des Äquivalenzprinzips.<br />
<br />
Den Urteilen ''Courage'' und ''Manfredi'' und der Rechtsprechung des EuGH zur Staats- und Gemeinschaftshaftung sowie zur Rückerstattung europarechtswidriger Abgaben können bereits grobe Konturen einer dem Effektivitätsprinzip genügenden Ausgestaltung eines kartellrechtlichen Schadensersatzanspruches entnommen werden. <br />
<br />
=== b) ''Acquis communautaire'' ===<br />
''Anspruchsberechtigung:'' Was die Anspruchsberechtigung angeht, kann nach der Rechtsprechung des EuGH in ''Courage'' und ''Manfredi'' als gesicherter ''acquis communautaire ''gelten, dass jeder Geschädigte anspruchsberechtigt ist, wenn zwischen seinem Schaden und dem Kartellrechtsverstoß eine hinreichend unmittelbare (s.u.) kausale Beziehung besteht. Damit sind nicht nur die direkten Abnehmer eines gegen das Kartellrecht verstoßenden Unternehmens anspruchsberechtigt, sondern zum Beispiel auch die Abnehmer des Abnehmers, sog. Folgeabnehmer. Ein Folgeabnehmer kann geschädigt sein, wenn der Direktabnehmer eines Kartellanten oder Marktbeherrschers einen kartellrechtswidrig überhöhten Preis auf den Folgeabnehmer abwälzt (Schadensabwälzung). <br />
<br />
''Schadensersatz:'' Nach der Rechtsprechung des EuGH steht als ''acquis communautaire ''zum ersatzfähigen Schaden fest, dass ein Geschädigter Ersatz des Vermögensschadens (''damnum emergens''), des entgangenen Gewinns (''lucrum cessans'') und die Zahlung von Zinsen verlangen können muss. Der EuGH entnimmt diese Vorgaben in ''Manfredi'' dem Effektivitätsprinzip, nach dem insbesondere Ersatz für entgangenen Gewinn nicht vollständig ausgeschlossen werden darf, da anderenfalls insbesondere bei Rechtsstreitigkeiten kommerzieller Natur ein Ersatz der tatsächlich entstandenen wirtschaftlichen Beeinträchtigung nicht gewährleistet werden könne. Die Mitgliedstaaten dürfen nicht'' a priori'' eine absolute Anspruchsobergrenze vorsehen. Es ist ihnen jedoch unbenommen, dafür Sorge zu tragen, dass der Schadensersatz nicht zu einer ungerechtfertigten Bereicherung des Geschädigten führt. Nach dem Äquivalenzprinzip sind auch besondere Arten des Schadensersatzes zu gewähren, wie insbesondere [[Strafschadensersatz]], sofern ein entsprechender Anspruch bei Verstößen gegen nationales Kartellrecht besteht. Erwartungen, in England würden im Rahmen der privaten Kartellrechtsdurchsetzung ''exemplary damages ''gewährt, haben sich bislang nicht bestätigt. Für Folgeklagen wurden solche Ansprüche sogar ausdrücklich ausgeschlossen. <br />
<br />
Bei Kartellrechtsverstößen, die zu höheren als sich bei Wettbewerb bildenden Preisen führen, bedeuten diese Grundsätze, dass einem Abnehmer jedenfalls die Differenz zwischen dem gezahlten, rechtswidrig überhöhten Preis und dem hypothetischen Wettbewerbspreis zu ersetzen ist. Bei Abnehmern, die das von dem Verstoß betroffene Gut weiterverkaufen, also Zwischenhändlern, stellt sich darüber hinaus die Frage nach dem Ersatz eines entgangenen Gewinns. Ohne die Zuwiderhandlung hätte der Zwischenhändler regelmäßig nicht nur pro Einheit günstiger, sondern auch mehr Einheiten des fraglichen Gutes erworben. Darin zeigt sich die angebotsverknappende Wirkung des Wettbewerbsverstoßes (''dead weight loss''). Das heißt, in Bezug auf die kartellbedingt nicht erworbenen Einheiten des Gutes kann dem Zwischenhändler eine Marge entgangen sein. Dieser Gewinnentgang muss nach dem ''acquis'' ebenfalls ersetzt werden. Er ließe sich einerseits als Schadensposten zur Preisdifferenz hinzuaddieren. Andererseits ließe sich aber auch der gesamte Schaden des Zwischenhändlers nur als Gewinnentgang betrachten, d.h. als die Differenz zwischen dem Gewinn, den er mit dem fraglichen Gut ohne den Verstoß erwirtschaftet hätte und dem tatsächlich erwirtschafteten Gewinn. Welche Betrachtung sachgerecht ist, ergibt sich vor allem aus der Behandlung des sog. Einwands der Schadensabwälzung. <br />
<br />
''Schadensabwälzung:'' So wie sich klagende Folgeabnehmer auf eine Schadensabwälzung durch den Zwischenabnehmer auf sie berufen, behaupten Beklagte häufig, die sie in Anspruch nehmenden (Direkt&#8209;)Abnehmer hätten selbst keinen Schaden erlitten, sondern den kartellrechtswidrigen Preisaufschlag an ihre Abnehmer weitergegeben. Hält man diesen Einwand für unbeachtlich, kann es zu einer Mehrfachhaftung des Kartellanten oder Marktbeherrschers für denselben Schadensposten kommen, wenn sowohl Direkt- als auch Folgeabnehmer klagen. Erklärt man den Einwand aber für beachtlich, werden Direktabnehmerklagen – je nach Beweislastverteilung hinsichtlich der Abwälzung – deutlich erschwert mit dem Ergebnis, dass eine private Kartellrechtsdurchsetzung unter Umständen nicht stattfindet. Folgeabnehmer gelten nämlich, weil sie oft nur Streuschäden erleiden, als weniger klagebereit als Direktabnehmer. Zudem wird es ihnen wegen der geringeren Nähe zum Verstoß häufig schwerer fallen, diesen und ihren kausalen Schaden zu beweisen. <br />
<br />
Wie eine Rechtsordnung das Abwälzungsproblem löst, sagt viel darüber aus, ob sie in erster Linie das Ziel verfolgt, den Schädiger um die Früchte seines Verstoßes zu bringen und dadurch ggf. eine Abschreckungswirkung zu erzielen, oder ob sie vor allem die Opfer von Verstößen entschädigen soll. Soweit sich hierzu bereits ein ''acquis communautaire'' formulieren lässt, ergibt er sich außer aus ''Courage ''und ''Manfredi ''aus der EuGH-Rechtsprechung zur Rückerstattung europarechtswidriger Abgaben (EuGH Rs.&nbsp;C-147/01 – ''Weber's Wine World'', Slg. 2003, I-11365, Rn.&nbsp;95&nbsp;ff.). Danach erscheint die Berücksichtigung des Abwälzungseinwands insoweit zulässig, als sie eine Bereicherung des Anspruchstellers verhindert und der Schädiger die Beweislast für die erfolgte Abwälzung trägt. Die Beachtlichkeit des Einwands ist gemeinschaftsrechtlich jedoch nur erlaubt, nicht geboten.<br />
<br />
Nach dem Weißbuch soll die beklagte Partei das Recht haben, den Schadensabwälzungseinwand geltend zu machen, muss die Abwälzung aber beweisen. Folgeabnehmer sollen sich auf eine widerlegliche Vermutung berufen können, dass der kartellrechtswidrige Preisaufschlag in vollem Umfang auf sie abgewälzt wurde. <br />
<br />
''Kausalität:'' Der EuGH hat in ''Manfredi'' explizit auf das Kausalitätserfordernis als Anspruchsvoraussetzung hingewiesen. Der Rechtsprechung zur Staats- und Gemeinschaftshaftung kann vor allem entnommen werden, dass das Effektivitätsprinzip eine kausale Zurechnung nur bei hinreichender Unmittelbarkeit zwischen einem Verstoß und seinen Folgen gebietet (EuGH verb. Rs.&nbsp;64/76 – ''Durmotier Frères'', Slg. 1979, 3091, Rn.&nbsp;21). <br />
<br />
''Verschulden: ''Uneinheitlich beurteilt wird die Reichweite des ''acquis'' zu der Frage, ob nationales Recht das Bestehen eines kartellrechtlichen Schadensersatzanspruches an den Nachweis eines Verschuldens knüpfen darf, wie es die Mehrheit der mitgliedstaatlichen Haftungsregime tut. Dem Weißbuch zufolge ist nur ein auf sehr spezifische und außerordentliche Umstände begrenztes Verschuldenserfordernis mit dem Effektivitätsprinzip vereinbar. Die Urteile ''Courage'' und ''Manfredi ''sowie die Rechtsprechung zur Staats- und Gemeinschaftshaftung lassen sich jedoch auch offener interpretieren. Unbestritten ist, dass das Gemeinschaftsrecht dem nationalen Recht kein Verschuldenserfordernis vorschreibt. <br />
<br />
''Verjährung:'' Dem Urteil in ''Manfredi ''lässt sich mit dem Weißbuch entnehmen, dass das Effektivitätsprinzip verletzt wird, wenn eine kurze Verjährungsfrist ([[Verjährung]]) bereits mit der ersten Verwirklichung eines Kartells zu laufen beginnt und nicht unterbrochen werden kann. Bei fortgesetzten oder wiederholten Zuwiderhandlungen droht dann nämlich ein Verjährungsende noch vor Beendigung des Verstoßes. <br />
<br />
''Beweislast:'' Die Beweislast für einen Verstoß gegen Art.&nbsp;81(1), 82 EG/101(1), 102 AEUV trägt gemäß Art.&nbsp;2 VO&nbsp;1/2003 die Partei, die sich darauf beruft. Für die Voraussetzungen des Art.&nbsp;81 (3) EG/101(3) AEUV gilt nach Art.&nbsp;2 VO&nbsp;1/2003 dasselbe.<br />
<br />
''Anwendbares Recht: ''Gemäß Art.&nbsp;6(3)(a) und den Erwägungsgründen 22 und 23 der Rom&nbsp;II-VO (VO&nbsp;864/2007) wird das auf kartelldeliktsrechtliche Ansprüche anwendbare Recht grundsätzlich nach dem Marktortprinzip bestimmt, d.h. es ist das Recht des Staates anzuwenden, dessen Markt beeinträchtigt ist oder wahrscheinlich beeinträchtigt wird. Wird der Markt in mehr als einem Staat beeinträchtigt, gilt die differenzierte Regelung des Art.&nbsp;6(3)(b) Rom&nbsp;II-VO.<br />
<br />
=== c) Das Weißbuch der Kommission ===<br />
Die Kommission schlägt in ihrem Weißbuch neben einer klarstellenden Kodifizierung der wesentlichen Elemente des bisherigen ''acquis'' eine Reihe von Regelungen vor, um den privaten Kartelldeliktsschutz wirksamer zu gestalten. <br />
<br />
''Zugang zu Beweismitteln:'' In Kartellrechtsfällen befinden sich die für den Beweis ([[Beweisrecht, internationales|Beweisrecht]]) der Zuwiderhandlung oder die Bezifferung eines Schadens nötigen Unterlagen oft im Besitz der des Verstoßes verdächtigten Partei. Um den Zugang zu Beweismitteln zu verbessern, wird im Weißbuch in Fortführung des der RL&nbsp;2004/48 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums zugrunde liegenden Ansatzes ([[Geistiges Eigentum (Durchsetzung)]]) ein Verfahren zur Offenlegung von Beweismitteln zwischen den Parteien eines Rechtsstreits unter Aufsicht des Gerichts vorgeschlagen. <br />
<br />
''Kollektiver Rechtsschutz:'' Um Defizite im kollektiven Rechtsschutz ([[Verbandsklage]]) auszugleichen, die insbesondere bei relativ geringwertigen Streuschäden einer wirksamen Entschädigung entgegenstehen und darüberhinaus zu prozessökonomischen Ineffizienzen führen, werden im Weißbuch die Einführung von Verbandsklagen durch besonders qualifizierte Einrichtungen sowie ''opt-in''-Gruppenklagen vorgeschlagen, zu denen sich einzelne Opfer ausdrücklich zusammenschließen, um ihre jeweiligen Schadenersatzansprüche in einer einzigen Klage zusammenzufassen.<br />
<br />
''Verhältnis zwischen Kronzeugenprogrammen und Schadenersatzklagen:'' Die Kommission und fast alle nationalen Wettbewerbsbehörden verfügen über Kronzeugenprogramme, in deren Rahmen Unternehmen ihre Beteiligung an einem Kartell anzeigen und die Behörde bei dessen Aufklärung und Ahndung unterstützen können. Im Gegenzug erhalten sie unter bestimmten Voraussetzungen einen Bußgelderlass oder eine Bußgeldermäßigung ([[Kartellverfahrensrecht]]). Kronzeugenprogramme haben sich als sehr erfolgreiches Mittel zur Aufdeckung von Kartellen erwiesen. Uneinigkeit besteht darüber, ob und inwieweit eine Stärkung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung die Wirksamkeit solcher Programme gefährdet, indem sie potentielle Kronzeugen von einer Selbstanzeige abhält. Kronzeugen würden sich dem Risiko aussetzen, zwar ein Bußgeld abzuwenden, aber gleichzeitig die Grundlage für die eigene zivilrechtliche Inanspruchnahme zu schaffen. Ob die Sorge um die fortwährende Attraktivität von Kronzeugenprogrammen berechtigt ist, hängt zum einen davon ab, ob die destabilisierende Wirkung, die diese Programme auf Kartelle haben sollen, durch die Stärkung eines separaten Sanktionenregimes tatsächlich gemindert wird. Zum anderen ist die Justierung des Zusammenspiels von Kronzeugenprogrammen und privater Durchsetzung von Bedeutung, wie sie etwa durch eine haftungsrechtliche Privilegierung von Kronzeugen und Beschränkungen des Zugangs zu Kronzeugenanträgen erfolgen kann. So schlägt die Kommission in ihrem Weißbuch vor, dass Kronzeugenanträge gegen Offenlegung im Zivilprozess geschützt werden müssen. <br />
<br />
''Bindungswirkung von Entscheidungen nationaler Wettbewerbsbehörden:'' Dem Modell des dt. §&nbsp;33 Abs.&nbsp;4 GWB folgend, schlägt das Weißbuch eine Bindungswirkung bestandskräftiger Entscheidungen von mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden in kartellrechtlichen Schadensersatzprozessen vor. Stellt eine nationale Wettbewerbsbehörde einen Verstoß gegen die Art.&nbsp;81, 82 EG/101, 102 AEUV bestandskräftig fest, soll kein nationales Gericht – desselben oder eines anderen Mitgliedstaates – eine dieser Feststellung zuwiderlaufende Entscheidung treffen dürfen. Das Recht bzw. die Pflicht, ein Vorlageverfahren nach Art.&nbsp;234 EG/267 AEUV anzustrengen, soll unberührt bleiben. Das Verhältnis zwischen nationalen Gerichten und Wettbewerbsbehörden würde damit dem zwischen nationalen Gerichten und Kommission weitgehend nachgebildet (vgl. Art.&nbsp;16(1) VO&nbsp;1/2003).<br />
<br />
== 3. Tendenzen der Rechtsentwicklung ==<br />
Auf europäischer Ebene sind potenziell gegenläufige Entwicklungen zu beobachten. Die Bemühungen um eine Stärkung der privaten Durchsetzung gehen einher mit einer zunehmend ökonomisch geprägten Auslegung des Kartellrechts, die eine komplexere Prüfung der Auswirkungen des fraglichen Marktverhaltens erforderlich macht, bevor es als Kartellrechtsverstoß qualifiziert werden kann ([[Wettbewerb im Binnenmarkt]]; [[Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung]]). Die für eine solche Prüfung erforderlichen ökonomischen Daten können private Prozessparteien vor kaum zu überwindende Schwierigkeiten stellen. <br />
<br />
Die Entwicklung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung ist durch legislative Reformen in den Mitgliedstaaten, eine anwachsende Judikatur nationaler Gerichte und die Diskussion um eine sekundärrechtliche Harmonisierungsmaßnahme auf Gemeinschaftsebene geprägt. Eine solche Maßnahme, die grundsätzlich auf Art.&nbsp;83 oder 95 EG/103 oder 114 AEUV gestützt werden könnte, stellt ob der vielen Bezüge des Kartelldeliktsrechts zum allgemeinen Delikts- und Schadensrecht sowie zum Zivilprozessrecht eine Herausforderung dar. Diese Schwierigkeit geht mit dem Potenzial einher, als Impuls für eine über die europäische Kartellrechtsdurchsetzung hinausgehende ''de facto'' Harmonisierung zu wirken. Das gilt zum einen in Bezug auf die private Durchsetzung des nationalen Kartellrechts und zum anderen für die Erstreckung und Verallgemeinerung von Regelungen. So könnten etwa Vorgaben zum kollektiven Rechtsschutz durch Mitgliedstaaten nicht nur für kartellrechtliche Verfahren, sondern mit einem breiteren Anwendungsbereich umgesetzt werden. Die Vielzahl der Bezüge zu anderen Rechtsgebieten bedeutet aber auch, dass die private Durchsetzung des europäischen Kartellrechts selbst nach einer sekundärrechtlichen Maßnahme nicht ohne Rückgriff auf die nationalen Rechte auskommen dürfte.<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Karsten Schmidt'','' ''Kartellverfahrensrecht – Kartellverwaltungsrecht – Bürgerliches Recht, 1977; ''Wolfgang Wurmnest'', Grundzüge eines europäischen Haftungsrechts, 2003; ''Jürgen Basedow'', Die Durchsetzung des Kartellrechts im Zivilverfahren, in: Carl Baudenbacher (Hg.),'' ''Neueste Entwicklungen im europäischen und internationalen Kartellrecht, 2006, 353&nbsp;ff.; ''Friedrich Wenzel Bulst'', Schadensersatzansprüche der Marktgegenseite im Kartellrecht, 2006; ''Josef Drexl'', Zur Schadensersatzberechtigung unmittelbarer und mittelbarer Abnehmer im europäisierten Kartelldeliktsrecht, in: Festschrift für Claus-Wilhelm Canaris, Bd.&nbsp;I, 2007, 1339&nbsp;ff.; ''Jürgen Basedow'' (Hg.), Private Enforcement of EC Competition Law, 2007; ''Thomas M.J. Möllers'', ''Andreas Heinemann ''(Hg.), The Enforcement of Competition Law in Europa, 2007; ''Assimakis P. Komninos'', EC Private Antitrust Enforcement: Decentralised Application of EC Competition Law by National Courts, 2008; ''Jacqueline Riffault-Silk'', Private enforcement of European competition law: a short review of national judicial decisions, Revue Lamy de la concurrence 2008, 93&nbsp;ff.; ''Friedrich Wenzel Bulst'', Of Arms and Armour – The European Commission’s White Paper on Damages Actions for Breach of EC Antitrust Law, Bucerius Law Journal 2008, 81&nbsp;ff.<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Competition_Law_(Private_Enforcement)]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Wettbewerbsrecht,_internationales&diff=1711Wettbewerbsrecht, internationales2021-09-08T10:39:16Z<p>Richter: </p>
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<div>von ''[[Dietmar Baetge]]''<br />
== 1. Ausgangslage ==<br />
Aufgabe des Wettbewerbsrechts (Kartellrecht) ist der Schutz des Wettbewerbs vor Beschränkungen durch Unternehmen. Ging die Wirtschaftstheorie des klassischen Liberalismus – in dem berühmten Bild ''Adam Smiths'' von der „invisible hand“ – noch davon aus, dass Märkte sich allein erhalten können, weiß man inzwischen, dass ein vollständig sich selbst überlassener Wettbewerb ständig der Gefahr unterliegt, sich selbst aufzuheben. Der Wettbewerb bedarf deshalb staatlichen Schutzes. Das Wettbewerbsrecht erfüllt mithin eine wichtige Funktion innerhalb der marktwirtschaftlichen Ordnung. Herkömmlicherweise sorgen sich die staatlichen Wettbewerbsgesetze um die Bewahrung des Wettbewerbs innerhalb der Grenzen des jeweiligen Territoriums. Für Aktivitäten jenseits der Staatsgrenze interessieren sie sich dagegen nur, wenn diese sich in nennenswertem Umfang im Inland auswirken. In einer zunehmend globalisierten Welt, in der Transaktionen eine Vielzahl von territorialen Räumen umspannen, muss die nationale Ausrichtung der Kartellgesetze zu Problemen führen, die sich in einer möglichen Über- wie Unterregulierung äußern. Eine Überregulierung kann eintreten, wenn eine Transaktion nicht nur einer, sondern gleich mehreren der inzwischen über einhundert staatlichen Wettbewerbsregimen unterfällt. So sind größere grenzüberschreitende Unternehmensfusionen nicht selten bei Dutzenden von staatlichen Kartellbehörden anzumelden, die den Zusammenschluss auf Grundlage ihrer jeweils eigenen Wettbewerbsgesetze überprüfen. Zugleich besteht das Problem der Unterregulierung, weil das unkoordinierte Nebeneinander nationaler Wettbewerbsgesetzgebung die privaten Akteure dazu ermutigen kann, Unterschiede im Schutzniveau gezielt für ihre Zwecke auszunutzen. So hat sich gezeigt, dass kleinere, wirtschaftlich nicht so potente Staaten unter internationalen Kartellabsprachen ([[Kartellverbot und Freistellung|Kartellverbot]]) vielfach stärker leiden müssen als die wohlhabenden Industrienationen, da ihnen nicht die erforderlichen Ressourcen für eine effektive Bekämpfung zur Verfügung stehen. Die Problematik wird zunehmend auch von den politischen Entscheidungsträgern erkannt, mit der Folge, dass man sich verstärkt um internationale Regelungen bemüht. <br />
<br />
== 2. Internationale Wettbewerbsregelungen ==<br />
Schon in der Vergangenheit sind verschiedene Anläufe zur Schaffung eines internationalen Wettbewerbsregimes unternommen worden. Das bekannteste Beispiel ist die Havanna-Charta von 1948, die ein ganzes Kapitel mit Vorschriften über wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen durch Unternehmen vorsah. Die vom freihandelspolitischen Geist geprägte Charta scheiterte jedoch am Widerstand des amerikanischen Kongresses und ist niemals in Kraft getreten. Während die Havanna-Charta als verbindliches Instrument geplant war, handelt es sich bei dem unter Ägide der UNCTAD entstandenen UN-Wettbewerbskodex von 1980 (RBP-Code) um rechtlich unverbindliches ''soft law''. Der im Zusammenhang mit den damaligen Bemühungen der Entwicklungsländer um eine „neue Weltwirtschaftsordnung“ stehende Kodex richtet sich vor allem gegen Wettbewerbsbeschränkungen, die den freien Welthandel beeinträchtigen. Seine praktische Bedeutung ist bis heute freilich gering geblieben. <br />
<br />
In der Gegenwart konzentriert sich das Interesse hauptsächlich auf die WTO. So enthalten verschiedene WTO-Instrumente wettbewerbsrechtliche Vorschriften, die allerdings, im Gegensatz zur gescheiterten Havanna-Charta, keine in sich geschlossene Regelung bilden. Beispielsweise trifft das TRIPS-Übereinkommen Anordnungen zu Zwangslizenzen und zur Kooperation der Staaten im Falle grenzüberschreitender Wettbewerbsbeschränkungen. Zudem statuiert das GATS gewisse Aufsichtspflichten für Monopol- und Staatshandelsunternehmen. In der Praxis bislang am bedeutsamsten haben sich die sektorspezifischen Wettbewerbsregeln auf dem Gebiet der Telekommunikation erwiesen. So ist Mexiko in einem WTO-Panelverfahren ein Verstoß gegen diese Vorschriften nachgewiesen worden, weil es den nationalen Hauptanbieter von Telekommunikationsdienstleistungen in wettbewerbswidriger Weise gegenüber ausländischen Konkurrenten begünstigt hatte (''Mexico – Telecoms'', Report of the Panel vom 2.4.2004, Doc. WT/DS204/R). In einem anderen wichtigen Verfahren, in dem es um den ungehinderten Zugang für ausländische Unternehmen zum japanischen Markt für Fotofilme ging, wies das Panel die von den USA gerügte Verletzung von Vorschriften des GATT mangels ausreichender Beweise zurück, schloss jedoch die Möglichkeit, dass bestimmte wettbewerbsbegrenzende Praktiken gegen das GATT verstoßen können, wenn staatliche Stellen darin involviert sind, nicht ''per se'' aus (''Japan – Film'', Report of the Panel vom 31.3.1998, Doc. WT/DS44/R). <br />
<br />
== 3. Kooperations- und Regionalabkommen; Netzwerk der Kartellbehörden ==<br />
Wegen der bestehenden Lücken im internationalen Wettbewerbsschutz suchen die Staaten und ihre Kartellbehörden nach Alternativen. So werden, um die Probleme von Über- und Unterregulierung in den Griff zu bekommen, vermehrt Kooperationsabkommen geschlossen. Die meist bilateralen Abkommen, von denen gegenwärtig etwa fünfzig existieren, sollen die Zusammenarbeit der staatlichen Wettbewerbsämter verbessern und so zu einer effektiveren Bekämpfung grenzüberschreitender Wettbewerbsbeschränkungen beitragen. Am bekanntesten, weil die beiden wichtigsten Kartelljurisdiktionen verbindend, ist der Kooperationsvertrag zwischen den USA und der EG. Angelehnt an die – rechtlich unverbindlichen – Empfehlungen der OECD über die Zusammenarbeit bei Wettbewerbsbegrenzungen mit Auswirkungen auf den internationalen Handel, enthalten die Abkommen zum Teil übereinstimmende Regelungen über Notifizierungen, Konsultationen, Informationsaustausch, Amts- und technische Hilfe. Ebenso findet sich darin die Pflicht zur wechselseitigen Rücksichtnahme (''comity'') verankert. In der negativen Ausprägung des ''comity''-Gedankens ist jede Wettbewerbsbehörde gehalten, die Interessen der anderen Seite im Rahmen ihrer Untersuchung gebührend zu berücksichtigen und gegebenenfalls von Maßnahmen Abstand zu nehmen. In ihrer positiven Ausprägung erlaubt die ''comity'', die andere Partei um ein Tätigwerden zu ersuchen, wenn von ihrem Territorium eine Wettbewerbsbeschränkung mit extraterritorialer Wirkung ausgeht. Die positive ''comity''-Variante ist freilich nicht in allen Abkommen vorgesehen und konnte in der Praxis bisher auch kaum Bedeutung erlangen. Nachteilig wirkt sich aus, dass die Kooperationsverträge durchgängig die Kartellrechte der Staaten und damit auch deren grundsätzlich einseitig nationale Ausrichtung unangetastet lassen. Des Weiteren erscheint es schon aus numerischen Gründen ausgeschlossen, allein auf bilateralem Wege ein weltumspannendes Netz aus Kooperationspflichten weben zu wollen. <br />
<br />
Gewissermaßen zwischen den Kooperationsabkommen und den multilateralen WTO-Regelungen sind die regionalen Wettbewerbsregime angesiedelt. Entsprechend dem generellen Trend zur Regionalisierung des Welthandels nimmt ihre Zahl stetig zu. Bedeutendstes Beispiel für eine regionale Wettbewerbsordnung innerhalb eines gemeinsamen Marktes ist die EG. Weitere Beispiele für regionale Organisationen mit eigenen Kartellnormen sind der MERCOSUR, NAFTA und die Andengemeinschaft. Daneben enthalten immer häufiger Abkommen über die Errichtung von Freihandelszonen wettbewerbsrechtliche Vorschriften. Der Grund hierfür liegt in dem handels- und investitionshemmenden Potenzial privater Wettbewerbsbeschränkungen. <br />
<br />
Ein neues wettbewerbspolitisches Forum ohne eigene Rechtspersönlichkeit bildet das 2001 auf Betreiben der USA gegründet ''International Competition Network ''(ICN). Mitglieder sind allein die Kartellämter, derzeit rund 100, aus allen Kontinenten. Seine Struktur ist betont informell, weshalb man auch von einem „virtuellen“ Netzwerk spricht. Das ICN besitzt keine Rechtsetzungsfunktion (''rule-making function''). Gleichwohl soll es für mehr inhaltliche Übereinstimmung (Konvergenz) zwischen den nationalen Kartellrechtsordnungen sorgen. Zu diesem Zweck werden ''best practices''-Empfehlungen erarbeitet, die in Anbetracht ihres rechtlich unverbindlichen Charakters als Instrumente einer „weichen“ Kartellrechtsharmonisierung verstanden werden können. Eine entsprechende Empfehlung wurde bislang für den Bereich der Fusionskontrolle vorgelegt, die – sehr ehrgeizige – Vorgaben zu Ablauf und Ausgestaltung von Zusammenschlussverfahren vorsieht. Daneben unterstützt das Netzwerk Kartellbehörden aus den Entwicklungs- und Transformationsländern bei der Verankerung des Wettbewerbsgedankens in ihren Staaten (''competition advocacy'').<br />
<br />
== 4. Reform und Ausblick ==<br />
Der gegenwärtige Stand des internationalen Wettbewerbsrechts wird vielfach als unbefriedigend empfunden. So liegt die Bekämpfung internationaler Wettbewerbsbeschränkungen nach wie vor größtenteils in den Händen der einzelnen Staaten. Die Staaten sind auf der Grundlage des inzwischen weithin anerkannten Wirkungsprinzips zwar befugt, ihre Wettbewerbsregeln auf im Ausland veranlasste Begrenzungen zu erstrecken, sofern sich diese auf den inländischen Markt auswirken. Tatsächlich sind jedoch nicht alle Nationen in der Lage, ihrem Regelungsanspruch auf diese Weise Geltung zu verschaffen. Schutzlücken sind daher ebenso unvermeidlich wie jurisdiktionelle Überschneidungen in Folge paralleler Anwendungserstreckungen. Der Lösung, nach der eine der „führenden“ Kartelljurisdiktionen (USA, EG), gewissermaßen stellvertretend für alle anderen, die Rolle des wettbewerbspolitischen „Weltpolizisten“ übernehmen könnte, hat der US-amerikanische ''Supreme Court'' kürzlich im Fall ''Empagran''<nowiki> unter Hinweis auf das Gebot der Rücksichtnahme auf die Belange anderer Staaten zu Recht eine Absage erteilt (124 S. Ct. 2359 [2004]). Die Weiterentwicklung des multilateralen Wettbewerbssystems erscheint daher der beste Weg. Doch ist dieser Weg, wie das Schicksal der bisherigen Reformansätze zeigt, zugleich politisch der steinigste. Vorschläge, wie die künftige internationale Wettbewerbsordnung ausgestaltet werden könnte, gibt es nicht wenige. Das ehrgeizigste Projekt bildet der von einer Gruppe Wissenschaftler formulierte </nowiki>''Draft International Antitrust Code''. Der DIAC folgt einem kodifikatorischen Ansatz. Obwohl als völkerrechtlicher Vertrag konzipiert, gleicht er in seinem Aufbau einem Kartellgesetz. Inhaltlich nimmt der ''Code'' manche Anleihe beim Recht zum Schutz des geistigen Eigentums. Von seinen Prinzipien ist die sogenannte internationale Verfahrensinitiative am interessantesten. Danach soll eine internationale Antitrust-Behörde eingerichtet werden, die dafür Sorge zu tragen hat, dass die nationalen Stellen die internationalen Wettbewerbsregeln auch einhalten. Zu diesem Zweck kann sie vor den staatlichen Gerichten und speziellen Wettbewerbspaneln Klage erheben. Hingegen soll die Befugnis zur Anwendung des ''Codes'' im Einzelfall allein bei den nationalen Behörden und Gerichten liegen. Andere Vorschläge zielen auf die Schaffung einer konstitutionellen Wettbewerbsordnung. In diesem Rahmen sollen nur gewisse grundlegende Prinzipien mit Hilfe eines pluri- oder multilateralen Übereinkommens in das bestehende Welthandelssystem integriert werden. Dabei spielt die Überlegung, dass private Wettbewerbsbeschränkungen eine ähnlich handelshemmende Wirkung wie staatliche Handelsschranken entfalten können, eine wichtige Rolle. <br />
<br />
Reformüberlegungen sind auch auf Ebene der WTO angestellt worden. So beschloss die Mitte der neunziger Jahre in Singapur tagende Ministerkonferenz auf Drängen der EU die Aufnahme der Wettbewerbspolitik in eine Liste neu zu behandelnder Themen (sogenannte „Singapore issues“). Gleichzeitig wurde die Einsetzung einer Arbeitsgruppe zu den Wechselwirkungen von Handels- und Wettbewerbspolitik vereinbart, die ihre Tätigkeit zwischenzeitlich eingestellt hat. In 2001 wurde auf der Doha-Ministerkonferenz sogar die Aufnahme von Verhandlungen innerhalb der WTO in Aussicht gestellt. Zugleich erfuhren in Doha die besonderen wettbewerbspolitischen Bedürfnisse der Entwicklungsländer erstmalig eine ausdrückliche Anerkennung. Zu den anvisierten Verhandlungen ist es freilich bis heute nicht gekommen. Vielmehr beschlossen die Staatenvertreter nach dem Scheitern der Folgekonferenz von Cancún, die Wettbewerbspolitik aus den Gegenständen der laufenden Doha-Welthandelsrunde auszuklammern. Die pauschale Ablehnung der Singapur-Themen durch die Entwicklungsländer war dafür ebenso verantwortlich wie die zögerliche Haltung der um ihre wettbewerbspolitische Souveränität besorgten Vereinigten Staaten. Aufkeimende protektionistische Tendenzen lassen gegenwärtig das Schicksal jeglicher Einigung auf multilateraler Ebene ungewiss erscheinen. Doch führt zumindest langfristig kein Weg an einer globalen, dem Gedanken der Wohlfahrt aller verpflichteten Wettbewerbsordnung vorbei. <br />
<br />
== Literatur==<br />
''Wolfgang Fikentscher'', ''Ulrich Immenga'' (Hg.), Draft International Antitrust Code, 1995; ''Eleanor Fox'', Toward World Antitrust and Market Access, AJIL 91 (1997) 1&nbsp;ff.; ''Jürgen Basedow'', Weltkartellrecht, 1998; International Competition Advisory Committee to the Attorney General and Assistant Attorney General for Antitrust (ICPAC), Final Report, 2000; ''Kevin C. Kennedy'', Competition Law and the World Trade Organization, 2001; ''Jürgen Basedow'' (Hg.), Limits and Control of Competition with a View to International Harmonization, 2002; ''Maher M. Dabbah'', The Internationalisation of Antitrust Policy, 2003; ''Josef Drexl'' (Hg.), The Future of Transnational Antitrust: From Comparative to Common Competition Law, 2003; ''Ulrich Immenga'', Internationales Wettbewerbs- und Kartellrecht, in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd.&nbsp;11, 4.&nbsp;Aufl. 2006; ''Dietmar Baetge'', Globalisierung des Wettbewerbsrechts, 2009. <br />
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[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Competition_Law_(International)]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Wettbewerb_der_Rechtsordnungen&diff=1709Wettbewerb der Rechtsordnungen2021-09-08T10:38:52Z<p>Richter: </p>
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<div>von ''[[Eva-Maria Kieninger]]''<br />
== 1. Grundlagen und Quellen ==<br />
Mit dem Stichwort „Wettbewerb der Rechtsordnungen“, auch „Systemwettbewerb“ oder „institutioneller Wettbewerb“ genannt, ist die Vorstellung verbunden, dass Rechtsregeln (Institutionen) ebenso angeboten und nachgefragt werden können wie Güter oder Dienstleistungen. Soweit es um staatlich gesetztes Recht geht, sind die Gesetzgeber Anbieter, die Rechtsunterworfenen (natürliche und juristische Personen) die Nachfrager des Produkts „Gesetzgebung“. Im Europäischen Privatrecht wird das Konzept eines Wettbewerbs der Rechtsordnungen vor allem als Gegenentwurf zur Harmonisierung oder Vereinheitlichung durch den Brüsseler Gesetzgeber diskutiert. Einen Schwerpunkt bildet dabei das Gesellschaftsrecht, insbesondere ausgelöst durch die ''Centros-''Entscheidung des [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] (Rs.&nbsp;C-212/97, Slg. 1999, I-1459).<br />
<br />
Der Begriff des Wettbewerbs der Rechtsordnungen wird in der Literatur mit unterschiedlichem, oft nicht näher präzisiertem Inhalt verwendet. Richtigerweise sind drei Stufen zu unterscheiden: Auf einer ersten Stufe koexistieren verschiedene Rechtsordnungen miteinander, ohne dass die Rechtsunterworfenen eine Wahl zwischen ihnen treffen könnten. Auf dieser Stufe herrscht Wettbewerb lediglich in der Form eines Ideenwettbewerbs, der vor allem durch die Rechtsvergleichung fruchtbar gemacht werden kann. Auf einer zweiten Stufe können die Rechtssubjekte unter verschiedenen Angeboten von Rechtsregeln wählen, ohne dass es schon zu einer Reaktion der Gesetzgeber als Anbieter von Rechtsregeln kommt. Sie tritt erst auf der dritten Stufe hinzu und setzt irgendwie geartete, finanzielle oder auch nur ideelle Anreize voraus, die den Gesetzgeber zum Handeln bewegen. Erst auf dieser Stufe lässt sich von einem institutionellen Wettbewerb in Sinne eines Wettbewerbskreislaufs sprechen. Das klassische Beispiel hierfür ist die Entwicklung des US-amerikanischen Gesellschaftsrechts (siehe unter 2.).<br />
<br />
Die Literatur zum Wettbewerb der Rechtsordnungen speist sich aus verschiedenen Quellen.<br />
Zum einen gibt es eine starke Strömung in der wirtschaftwissenschaftlichen Literatur (vgl. z.B. ''Manfred E. Streit'','' Wolfgang Kerber'','' Roger van den Bergh''). Sie argumentiert aus der Sicht der evolutorischen Ökonomik, dass der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren (''Friedrich August von Hayek'')'' ''nicht nur in Bezug auf Güter, sondern auch im Hinblick auf Institutionen eine stetige Verbesserung des Angebots hervorbringen könne. Die Marktfreiheiten des EG-Vertrages werden als Grundlage eines regulatorischen Wettbewerbs begriffen, denn mit dem Erwerb eines ausländischen Produkts oder der Verlagerung des Unternehmensstandorts in einen anderen Mitgliedstaat werden mittelbar die Institutionen (beispielsweise Produktregulierungen, Umweltrecht, Arbeitsrecht, Gesellschaftsrecht, Steuerrecht) des Zielstaates gewählt. Die Freiverkehrsrechte geben den Rechtsunterworfenen daher die Möglichkeit, unter verschiedenen einzelstaatlichen Regulierungen zu wählen, um so einerseits ihre eigenen Präferenzen besser befriedigen zu können, andererseits dem Anbieterstaat Akzeptanz oder Ablehnung seiner Rechtsordnung zu signalisieren und ihn gegebenenfalls zu Reformen anzuhalten.<br />
<br />
== 2. Delaware-Effekt ==<br />
Eine reichhaltige Literatur zum Systemwettbewerb im Privatrecht existiert außerdem in den USA, wo insbesondere der „Delaware-Effekt“ Anlass zur Reflexion gegeben hat. In den USA gilt traditionell die Gründungstheorie, so dass eine Gesellschaft unabhängig von ihrem tatsächlichen Sitz in dem Bundessstaat gegründet werden kann, dessen Recht die Gründer präferieren ([[Gesellschaftsrecht, internationales]]). Außerdem kann das Gesellschaftsstatut auch nach der Gründung durch sogenannte Reinkorporationsfusion, d.h., die Gründung einer neuen Gesellschaft im Zielstaat und die Verschmelzung der bestehenden Gesellschaft hierauf, wieder geändert werden. Da die Bundesstaaten der USA – anders als die Mitgliedstaaten der EU – die Eintragung einer Gesellschaft mit einer jährlichen Inkorporationssteuer (''franchise tax'') belegen können, ist die Anziehung von Gesellschaften insbesondere für kleinere Bundesstaaten eine lukrative Einnahmequelle. Daraus entstand am Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Wettbewerb unter den Bundesstaaten, aus dem Delaware als Sieger hervorgegangen ist. Lange Zeit wurde diese Entwicklung in der gesellschaftsrechtlichen Literatur als schädliches ''race to the bottom'' beurteilt. Heute herrscht eine positivere Sicht vor (vgl. z.B. ''Roberta'' ''Romano''). Es wird argumentiert, dass sich das Management durch eine (Re‑)Inkorporation in Delaware nicht auf Kosten der Gesellschafter bereichern könne, da die Kräfte des Kapitalmarkts und des Markts für Unternehmensübernahmen kontrollierend wirken würden. Statt als ''race to the bottom'' sei der Delaware-Effekt vielmehr als ''race to the top'' zu betrachten, denn den Aktionären stünden in Delaware Anwälte und Richter mit besonderer Expertise, sowie ein ausgefeiltes Gesellschaftsrecht mit Präzedenzfällen zu fast jeder Rechtsfrage zu Verfügung (''the mother court of corporate law''). Außerdem könnten Management und Gesellschafter darauf vertrauen, dass der Gesetzgeber in Delaware bemüht sein werde, sein Gesellschaftsrecht auch weiterhin attraktiv zu gestalten. <br />
<br />
== 3. Funktionen des Wettbewerbs der Rechtsordnungen ==<br />
Dem Wettbewerb der Rechtsordnungen werden verschiedene Funktionen zugeschrieben, die sich freilich teilweise widersprechen. Erstens soll der Wettbewerb – im Gegensatz zum Einheitsrecht – die Erfüllung unterschiedlicher Präferenzen ermöglichen. Ausgangspunkt dieser These ist, dass die Rechtsunterworfenen keine einheitlichen Präferenzen haben. Manche Verbraucher würden beispielsweise ein weniger strenges Verbrauchervertrags- oder Produkthaftungsrecht präferieren, wenn dies niedrigere Preise zur Folge hätte. Ein einheitlich hohes Niveau nimmt ihnen diese Wahlmöglichkeit. Eine zweite Funktion ist die Begrenzung gesetzgeberischer Fehlentscheidungen. Wird nicht auf europäischer, sondern auf mitgliedstaalicher Ebene legiferiert, wirken sich Fehler im politischen System oder mangelnde Kenntnis der effizientesten Lösung nur auf das betreffende mitgliedstaatliche Rechtssystem aus. Hinzu kommt, dass der Brüsseler Gesetzgebungstätigkeit eine höhere Fehleranfälligkeit als der nationalen zugesprochen wird. Insbesondere der Zwang zum Kompromiss und die Vermischung von Sachfragen mit politischen Konflikten führten zu suboptimalen Ergebnissen. Eine dritte Funktion ist die Fähigkeit des Wettbewerbs, Innovation zu fördern. Das geschieht schon dadurch, dass die Effizienz von parallel existierenden, unterschiedlichen Rechtsregeln verglichen werden kann. Kommt, wie im Beispiel des Delaware-Effekts, ein starker finanzieller Anreiz für die Anbieter hinzu, möglichst viele Nachfrager zu gewinnen, so wird der Gesetzgeber sich sogar aktiv auf die Suche nach den attraktivsten Regeln machen und diese übernehmen. Das könnte, viertens, dazu führen, dass die Rechtsordnungen konvergieren, und so das Ziel einer einheitlichen Rechtsordnung quasi „von unten“ erreicht wird. Die Befürworter des Wettbewerbs sehen daher in ihrem Konzept geradezu den Königsweg für die europäische Rechtsvereinheitlichung, der noch dazu dem Subsidiaritätsprinzip entspreche. Durch den Wettbewerb würden sich im Laufe der Zeit die besten Lösungen herausschälen und von den anderen Mitgliedstaaten übernommen werden. <br />
<br />
Freilich widerspricht diese letzte Funktion den an erster und dritter Stelle genannten. Wenn es zutrifft, dass Rechtsunterworfene als Einzelne oder auch als Kollektiv (das aber entgegen ''Roger van den Bergh'' wohl kaum mit den mitgliedstaatlichen Grenzen zu umschreiben sein dürfte) unterschiedliche Präferenzen im Hinblick auf Rechtsregeln haben, dann sollte die Unterschiedlichkeit der Rechtsordnungen bewahrt werden. Dasselbe gilt von der Innovationsfunktion, denn auch sie beruht auf der Koexistenz und Wählbarkeit unterschiedlicher Rechtsregeln. Wer also den Systemwettbewerb gegenüber der Vereinheitlichung durch supranationales Recht favorisiert, wird auf Dauer mit erheblichen Rechtsunterschieden innerhalb des Binnenmarkts leben müssen. Eine Symbiose des Wettbewerbsgedankens mit dem Streben nach Einheitsrecht für transnationale Rechtsbeziehungen liegt dagegen in der Schöpfung zusätzlich wählbarer, supranationaler Institutionen ([[Europäische Aktiengesellschaft (Societas Europaea)|Europäische Aktiengesellschaft (''Societas Europaea'')]], [[Europäische Privatgesellschaft (Societas Privata Europaea)|Europäische Privatgesellschaft (''Societas Privata Europaea'')]], Europäisches Vertragsrecht (''[[Principles of European Contract Law]]'') als optionales Instrument).<br />
<br />
== 4. Voraussetzungen eines wirksamen Wettbewerbs ==<br />
Die Diskussion um den Wettbewerb dreht sich vielfach nur um die Wirkungen, also vor allem darum, ob er als schädliche Deregulierungsspirale oder als ''race to the top'' zu beurteilen ist. Gerade im Privatrecht ist aber unklar, ob schon die Voraussetzungen eines wirksamen Wettbewerbs erfüllt sind. Um hierzu nähere Feststellungen treffen zu können, sind die unter 1. skizzierten verschiedene Formen zu unterscheiden. Meist ist schon dann von Wettbewerb die Rede, wenn unterschiedliche Rechtssysteme miteinander koexistieren (zweite Stufe). In diesem Fall können Nachfrager unter verschiedenen Angeboten von Rechtsregeln wählen. Dies kann entweder direkt geschehen, so beispielsweise im Privatrecht, wo Rechtswahlfreiheit im internationalprivatrechtlichen Sinn herrscht, oder indirekt durch Wahl eines Standorts, an dem bestimmte Rechtsregeln gelten, oder eines Produkts oder einer Dienstleistung, die nach bestimmten Regeln hergestellt und angeboten werden. Bei der nur indirekten Wahl tritt das sogenannte Bündelproblem auf, also die Schwierigkeit, dass bestimmte Institutionen nur in Kombination mit anderen tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten gewählt werden können. Die Wahl eines Unternehmensstandorts wird beispielweise selten nur durch das am Ort der Niederlassung geltende Gesellschaftsrecht determiniert werden, sondern durch ein Bündel aus tatsächlichen und rechtlichen Faktoren, insbesondere durch das Steuerrecht. <br />
<br />
== 5. Institutioneller Wettbewerb ==<br />
Institutioneller Wettbewerb im Sinne der ökonomischen Theorie und der ''competition for corporate charter''-Literatur in den USA hat über die Koexistenz verschiedener Rechtssysteme und die Wahlfreiheit hinaus weiter zur Voraussetzung, dass die Gesetzgeber als Anbieter von Recht einen Anreiz haben, den Erfolg ihres Angebots wahrzunehmen und nach Verbesserungen zu suchen. Diese Form des Wettbewerbs, bei dem es zu einem Wettbewerbskreislauf ähnlich wie auf Gütermärkten kommt, ist besonders geeignet, für Innovation zu sorgen und damit einer Erstarrung des Rechtssystems vorzubeugen. Ein starker Anreiz für den Gesetzgeber sind direkte Steuereinnahmen, die sich wie z.B. in Delaware aus der Wahl der eigenen Rechtsordnung generieren lassen. In manchen Bereichen wie z.B. im Vertragsrecht sind solche direkten Anreize allerdings nicht möglich oder in der EU untersagt (siehe für das Gesellschaftsrecht die RL&nbsp;69/335). Hier werden andere, allerdings wesentlich schwächere Anreize wie Prestigegewinn und indirekte Steuereinnahmen durch Förderung von Rechtsberatungsdienstleistungen im eigenen Land diskutiert. <br />
<br />
== 6. Wettbewerb im Europäischen Privatrecht ==<br />
=== a) Gesellschaftsrecht ===<br />
Im Europäischen Privatrecht wird die Existenz eines Wettbewerbs der Rechtsordnungen bzw. der Gesetzgeber vor allem für das Gesellschaftsrecht angenommen. Die Rechtsprechung des [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] (EuGH Rs.&nbsp;C-212/97 – ''Centros'', Slg. 1999, I-1459; EuGH Rs.&nbsp;C-208/00 – ''Überseering'', Slg. 2002, I-9919; EuGH Rs.&nbsp;C-167/01 – ''Inspire Art'', Slg. 2003, I-10155) verpflichtet die Mitgliedstaaten, auf Gesellschaften, die nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaates der EU oder des EWR gegründet sind, das Gründungsrecht anzuwenden, soweit nicht ausnahmsweise die Anwendung des Rechts am tatsächlichen Sitz durch zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist oder ein Missbrauch der [[Niederlassungsfreiheit]] vorliegt. Zwar hat der EuGH in ''Cartesio'' (Rs. C-210/06, NJW 2009, 569) den Mitgliedstaaten die Freiheit belassen, die nach dem eigenen Recht gegründeten Gesellschaften im Fall eines (isolierten) Wegzugs des tatsächlichen Sitzes aufzulösen, jedoch hat er gleichzeitig angedeutet, dass er den Fall der Verlegung des Verwaltungssitzes unter Umwandlung in eine Gesellschaft nach dem Recht des neuen tatsächlichen Sitzes unter die Niederlassungsfreiheit subsumieren würde. Die EuGH-Entscheidung ''SEVIC'' (Rs.&nbsp;C-411/03 – ''SEVIC'', Slg. 2005, I-10805) und die Umsetzung der RL 2005/56 zur grenzüberschreitenden Fusion ermöglichen des Weiteren den nachträglichen Wechsel des Gesellschaftsstatuts, allerdings nur über den Umweg der Neugründung und Fusion. Damit herrscht, soweit das Gesellschaftsrecht noch nicht harmonisiert ist, Wettbewerb im Sinne der Koexistenz von unterschiedlichen Rechtsordnungen plus Wahlfreiheit. Des weiteren ist eine Grundvoraussetzung des institutionellen Wettbewerbs, nämlich die Freiheit der Wahl des Gesellschaftsstatuts, ebenso wie in den USA auch innerhalb der EU und des EWR erfüllt. Ob es in Europa allerdings tatsächlich zu einem institutionellen Wettbewerb gekommen ist oder noch kommen wird, also zu einem wettbewerblichen Verhalten der Gesetzgeber als Anbieter von Gesellschaftsrecht, ist umstritten. Manche beurteilen die GmbH-Gesetzgebungen der jüngeren Zeit in Frankreich, Spanien, Italien und zuletzt auch in Deutschland (vgl. Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMIG)) als Ausfluss eines solchen Wettbewerbs. Andere vermissen finanzielle Anreize für die Gesetzeber, sich am Wettbewerb zu beteiligen, da Inkorporationssteuern in der EU untersagt sind, und betrachten die neuere Gesetzgebung als durch innere Reformnotwendigkeiten motiviert. <br />
<br />
=== b) Allgemeines Vertragsrecht ===<br />
<nowiki>Im allgemeinen Vertragsrecht herrscht Rechtswahlfreiheit (vgl. Art.&nbsp;3 Rom&nbsp;I-VO [VO&nbsp;593/ 2008]), so dass Nachfrager unter den verschiedenen mitglied- und drittstaatlichen Vertragsrechtsordnungen frei wählen können. Ob allerdings die Wahl in der Praxis tatsächlich an inhaltlichen Kriterien, wie der Geeignetheit des gewählten Rechts für die in Aussicht genommene Transaktion, ausgerichtet wird, kann bezweifelt werden. Eine empirische Studie zum Europäischen Vertragsrecht (vgl. </nowiki>''Stefan Vogenauer'', ''Steve Weatherill'') hat gezeigt, dass die Vertragsschließenden fast immer das eigene Recht präferieren, weil es dasjenige ist, das sie und ihre Berater am besten kennen. Interessanterweise hielt die überwiegende Mehrheit der Interviewpartner das eigene Recht auch insgesamt für das beste. Betrachtet man die Chancen für ein wettbewerbliches Verhalten der Gesetzgeber als Anbieter von Vertragsrecht, so können allenfalls mittelbare Anreize ausgemacht werden. Ein international für besonders geeignet gehaltenes Vertragsrecht wie das englische mag zur Förderung der Einkünfte von Rechtsberatern beitragen, wovon der Staat indirekt durch Schaffung von Arbeitsplätzen und Steigerung der Einkommenssteuereinnahmen profitiert. Wo keine Rechtswahlfreiheit herrscht, wie namentlich im Verbrauchervertragsrecht, kann nur ein indirekter Wettbewerb stattfinden. Wegen des Bündelproblems ist es allerdings schwierig, die Wahl eines bestimmten Absatzmarktes als Wahl des dort herrschenden Verbraucherschutzrechts zu interpretieren. Meist werden zahlreiche andere Faktoren (Absatzmöglichkeiten, Preise, Steuern, Transportkosten) eine erhebliche Rolle spielen. Der sogenannte Wettbewerb im Verbraucherrecht, den namentlich ''Robert van den Bergh'' fordert, würde sich damit auf die Koexistenz unterschiedlicher Verbraucherschutzniveaus in den Mitgliedstaaten reduzieren, was zwar den Vergleich der Wirksamkeit verschiedener Verbraucherschutzkonzepte ermöglichen würde, aber nicht dem institutionellem Wettbewerb im Sinne von ''Streit'' oder der amerikanischen ''competition for corporate charter''-Literatur entspricht. <br />
<br />
== Literatur==<br />
''Lucian Arye Bebchuk'', Federalism and the Corporation: The Desirable Limits on State Competition in Corporate Law, Harvard Law Review 105 (1992) 1435&nbsp;ff.; ''Roberta'' ''Romano'', The Genius of American Corporate Law, 1993; ''Roger'' ''van den Bergh'','' ''Subsidiarity as an Economic Demarcation Principle and the Emergence of European Private Law, Maastricht Journal of European and Comparative Law 5 (1998) 129&nbsp;ff.; ''Manfred E. Streit'','' Daniel Kiwit'','' ''Zur Theorie des Systemwettbewerbs, in: Manfred E. Streit, Michael Wohlgemuth (Hg.), Systemwettbewerb als Herausforderung an Politik und Theorie, 1999, 13&nbsp;ff.; ''Wolfgang Kerber'', Interjurisdictional Competition within the European Union, Fordham International Law Journal 23 (2000) 217&nbsp;ff.; ''idem'', Rechtseinheitlichkeit und Rechtsvielfalt aus ökonomischer Sicht, in: Stefan Grundmann (Hg.), Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, 2000, 67&nbsp;ff.; ''Eva-Maria'' ''Kieninger'', Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im Europäischen Binnenmarkt, 2002; ''Klaus Heine'','' ''Regulierungswettbewerb im Gesellschaftsrecht, 2003; ''Stefan Vogenauer'', ''Steve Weatherill'', Eine empirische Untersuchung zur Angleichung des Vertragsrechts in der EG, Juristenzeitung 2005, 870&nbsp;ff.; ''Eva-Maria Kieninger'', Aktuelle Entwicklungen des Wettbewerbs der Gesellschaftsrechte, in: Hans-Bernd Schäfer, Thomas Eger (Hg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, 2007, 170&nbsp;ff; ''William W. Bratton, Joseph A. McCahery, Erik P.M. Vermeulen'', How Does Corporate Mobility Affect Lawmaking? A Comparative Analysis, American Journal of Comparative Law 57 (2009) 347 ff.<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Competition_between_Legal_Systems]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Wettbewerb_im_Binnenmarkt&diff=1707Wettbewerb im Binnenmarkt2021-09-08T10:38:10Z<p>Richter: </p>
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<div>von ''[[Jürgen Basedow]]''<br />
== 1. Begriff und Funktionen ==<br />
Im Wirtschaftsleben kennzeichnet der Begriff Wettbewerb die Auseinandersetzung zwischen ökonomischen Akteuren, die ohne Koordinierung ihrer einzelwirtschaftlichen Pläne und Entscheidungen die eigenen Ergebnisse durch geeignetes Handeln auf dem Markt optimieren wollen. Der Wettbewerb ist eine unausweichliche Folge der divergierenden einzelwirtschaftlichen Pläne. Zwar lassen sich solche Divergenzen durch eine übergreifende staatliche Planung auf den Produktions- und Vertriebsstufen verringern und ausschließen, wie dies in zentralverwalteten Wirtschaftsordnungen geschehen ist. Nur sehr begrenzt lassen sich dagegen die Präferenzen der Konsumenten durch Gebote, Verbote und Werbung beeinflussen. Die verbleibenden und letztlich unabänderlichen Unterschiede der Nachfrage wirken auf die Angebotsebene zurück und schließen dort eine effektive und dauerhafte Koordinierung aus, wie die Erfahrungen der sozialistischen Staaten im 20.&nbsp;Jahrhundert gezeigt haben. Insofern ist Wettbewerb in langfristiger Betrachtung eine unvermeidliche Konstante des Wirtschaftslebens. Seine Intensität variiert freilich von Markt zu Markt und kann durch vielfältige staatliche und private Maßnahmen beeinflusst werden.<br />
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Die antagonistischen Interessen und Präferenzen der Wirtschaftsteilnehmer werden auf Märkten miteinander in Einklang gebracht. Dort spielen sich Angebot und Nachfrage nach Menge und Qualität über den Preismechanismus aufeinander ein. Die zivilrechtliche Grundlage dafür ist die Vertragsfreiheit in ihren verschiedenen Spielarten: Die Freiheit, überhaupt den Markt zu nutzen, also nicht die eigene Produktion ausschließlich für eigene Zwecke zu nutzen oder die eigenen Bedürfnisse durch Eigenproduktion zu befriedigen (Abschlussfreiheit); die Freiheit der Wahl des Vertragspartners; die Typenfreiheit und die Inhaltsfreiheit ([[Vertragsfreiheit]]). Nur wo diese Freiheiten im Wesentlichen gewährleistet sind, können sich die produzierten und nachgefragten Mengen und Qualitäten kontinuierlich aneinander anpassen. Für diesen Anpassungsprozess ist die Wahl der Marktteilnehmer zwischen verschiedenen Optionen, also der Wettbewerb, essentiell. Er gewährleistet, dass die ökonomischen Ressourcen dorthin wandern, wo sie die größte Bedürfnisbefriedigung erzeugen (Allokationsfunktion) und dass die Marktteilnehmer auf dem Weg dorthin immer wieder neue und wirkungsvollere Ideen der Produktion und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen ersinnen (Innovationsfunktion). Dadurch sorgt er auch für eine leistungsgerechte Einkommensverteilung. Zu diesen ökonomischen tritt die politische Befriedungsfunktion hinzu: Der Wettbewerb bringt Verbraucherpräferenzen zum Tragen und gibt Erzeugern und Handel Anreize, sie zu befriedigen. Die Knappheit von Gütern wird damit – anders als in zentral geplanten Wirtschaftsformen – nicht als politisches Problem wahrgenommen. <br />
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Wettbewerb entfaltet seine Wirkung auf Märkten. Die Größe des Marktes übt dabei erheblichen Einfluss auf die Intensität des Wettbewerbs aus. Je kleiner ein Markt ist, desto eher können Vorteile der Kostendegression (''economies of scale'') dazu führen, dass die dort artikulierte Nachfrage am günstigsten von nur einem Anbieter befriedigt wird, der dann Monopolrenten abschöpft, dadurch gesamtwirtschaftliche Wohlfahrtsverluste erzeugt und gesellschaftliche Interessenantagonismen durch Machtmissbräuche verschärft. Die Erweiterung der Märkte über die traditionellen Grenzen der Nationalstaaten hinaus dient insofern mehreren Zwecken: Sie soll durch den grenzüberschreitenden Austausch von Gütern und Dienstleistungen die europäische Integration fördern; sie soll durch die Vergrößerung der Nachfrage die Voraussetzungen dafür schaffen, dass eine Mehrzahl konkurrierender Anbieter in effizienten Wettbewerb zueinander treten können; und sie soll die Macht marktbeherrschender Unternehmen im Interesse einer Entpolitisierung des Wirtschaftslebens beugen.<br />
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== 2. Wettbewerbsschutz im Gemeinschaftsrecht ==<br />
=== a) Grundlagen im Vertrag ===<br />
Das Gemeinschaftsrecht hat dem Schutz des Wettbewerbs von Anfang an große Bedeutung beigemessen. Schon der Vertrag über die Montanunion von 1951 sah neben einem Kartellverbot ein Verfahren der Fusionskontrolle vor. Entsprechend den Sorgen der unmittelbaren Nachkriegszeit sollte dadurch vor allem die deutsche Schwerindustrie daran gehindert werden, sich durch erneute Machtzusammenballung der Aufsicht durch die Hohe Behörde zu entziehen. Erst bei der Anwendung der Vorschriften setzte sich allmählich wettbewerbliches Denken durch, das dann auch den EWG-Vertrag in sehr umfassender Weise befruchtete. Der Vertrag von Rom hat die Schaffung eines Systems, das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarkts vor Verfälschungen schützt, an zentraler Stelle zu den Tätigkeiten der Gemeinschaft gerechnet, siehe zuletzt Art.&nbsp;3(1)(g) EG. Durch den Vertrag von Lissabon ist die Vorschrift in ein Protokoll über den Binnenmarkt und den Wettbewerb verlagert worden; danach umfasst das Ziel, einen Binnenmarkt zu schaffen, Art.&nbsp;3(3) EU (2007), auch ein System, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt. Bezog sich diese Zielbestimmung anfänglich noch auf den Gemeinsamen Markt, so wurde in der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 der [[Europäischer Binnenmarkt|europäische Binnenmarkt]] an die Stelle gesetzt, dies freilich nur in Art.&nbsp;3 und nicht in den eigentlichen Wettbewerbsbestimmungen. In der Sache bedeutet die terminologische Veränderung auch keine Neuorientierung. <br />
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=== b) Materielles Wetbewerbsrecht ===<br />
Das Gemeinschaftsrecht schützt den Wettbewerb im Binnenmarkt vor staatlichen (s.u. 3.) und vor privaten Wettbewerbsbeschränkungen. Dies geschieht in einem mehrschichtigen normativen System, das sich aus primären und sekundären Vorschriften des Gemeinschaftsrechts ergibt. Der ursprüngliche EWG-Vertrag hatte in Art. 85 (Art.&nbsp;81 EG/101 AEUV) sowohl horizontale wie auch vertikale wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen ([[Kartellverbot und Freistellung]]) sowie in Art. 86 (Art.&nbsp;82 EG/102 AEUV) missbräuchliche Verhaltensweisen marktbeherrschender Unternehmen untersagt ([[Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung]]). Anders als im Vertrag über die Montanunion war eine Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen nicht vorgesehen, doch hat der Gerichtshof die genannten Verbotstatbestände auch auf gewisse Zusammenschlüsse angewendet, EuGH Rs. 6/72 – ''Continental Can'', Slg. 1973, 215; EuGH verb. Rs. 142 und 156/84 – ''BAT und Reynolds Industries'', Slg. 1987, 4487. Um zunehmender Rechtsunsicherheit vorzubeugen, erließ der Rat schließlich die VO&nbsp;4064/89, die inzwischen durch die VO&nbsp;139/ 2004 ersetzt wurde. Sie erfasst alle Unternehmenszusammenschlüsse von einer näher definierten gemeinschaftsweiten Bedeutung ([[Fusionskontrolle]]).<br />
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Der materielle Verbotstatbestand des Art.&nbsp;81 EG/101 AEUV wird in Abs. 3 durchbrochen für Absprachen, die Rationalisierungseffekte haben, die Verbraucher an dem entstehenden Gewinn beteiligen, keine dafür unerlässlichen Beschränkungen vorsehen und einen substantiellen Restwettbewerb erhalten. Dies ist bei sehr vielen Kooperationsabsprachen der Fall. Die Gemeinschaftsorgane haben sich daher bald auf eine Typisierung solcher wettbewerbsrechtlich unbedenklichen Tatbestände geeinigt. Auf der Grundlage von Ratsverordnungen wie z.B. der VO&nbsp;19/65 hat die Kommission eine größere Anzahl so genannter [[Gruppenfreistellungsverordnungen]] erlassen, so beispielsweise die VO&nbsp;2790/1999 für [[Vertikalvereinbarungen im EG‑Kartellrecht|Vertikalvereinbarungen]], die VO&nbsp;2659/2000 über Vereinbarungen über Forschung und Entwicklung; hinzu kommen sektorale Gruppenfreistellungen wie die VO&nbsp;1400/2002 über Vereinbarungen im Kraftfahrzeugsektor oder die VO&nbsp;358/ 2003 über Vereinbarungen im Versicherungssektor. Das Netz solcher Gruppenfreistellungsverordnungen ist inzwischen recht eng. Wo eine Verordnung eingreift, ist die betreffende Vereinbarung unter wettbewerbsrechtlichen Gesichtspunkten nicht angreifbar, doch kann im Einzelfall die Freistellung zurückgenommen werden.<br />
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=== c) Verfahrensrecht ===<br />
Die Gründungsverträge haben die Durchsetzung des materiellen Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft sekundären Rechtsquellen überlassen, vgl. Art.&nbsp;83 EG/103 AEUV. Die Gemeinschaft hat davon zunächst durch den Erlass der VO&nbsp;17/1962 Gebrauch gemacht ([[Kartellverfahrensrecht]]). Sie statuierte für die Unternehmen eine Anmeldepflicht für wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen und behielt die Zuständigkeit zur Freistellung gemäß Art. 81(3) EG/101(3) AEUV der Europäischen Kommission vor; nur angemeldete Vereinbarungen konnten freigestellt werden. Kam es vor nationalen Behörden und Gerichten zu Streitigkeiten, beispielsweise aus Verträgen, in denen sich eine Partei auf einen Wettbewerbsverstoß und damit auf die Nichtigkeit des Vertrages gemäß Art. 81(2) EG/101(2) AEUV berief, war das betreffende Verfahren bis zu einer Entscheidung der Kommission auszusetzen, EuGH Rs.&nbsp;C-234/89 – ''Delimitis/ Henninger Bräu'', Slg. 1991, I-934, Rn. 48. Die Kommission war freilich über lange Jahre nicht im Stande, ihrem Freistellungsmonopol entsprechend alle Anträge zu bearbeiten und zu bescheiden. Als Verlegenheitslösung ersann sie so genannte ''comfort letters''. Sie weisen den Antragsteller darauf hin, dass die Kommission zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Bedenken erhebt, sich aber eine Untersuchung für später vorbehält. Die angestrebte Rechtssicherheit wurde damit nicht erreicht.<br />
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Vor dem Hintergrund dieser Praxis und der sich abzeichnenden Vergrößerung des Binnenmarkts nach dem Beitritt zahlreicher neuer Mitgliedstaaten drängte die Kommission auf eine Veränderung der Durchsetzungsmechanismen. Die VO&nbsp;1/2003 ersetzte die VO&nbsp;17/1962 und gab das Freistellungsmonopol der Kommission auf. Art. 81(3) ist nunmehr unmittelbar von allen nationalen Behörden und Gerichten anzuwenden. Zugleich wurden die Möglichkeiten der nationalen Organe beschränkt, anstelle der Art. 81 und 82 EG/101 und 102 AEUV ihr nationales Wettbewerbsgesetz anzuwenden. Für eine einheitliche Praxis der nationalen Wettbewerbsbehörden bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts soll das ''European Competition Network'' (ECN) sorgen. Schließlich hat die Kommission die Initiative zur Verbesserung der privaten Durchsetzung des Kartellrechts ([[Kartellrecht, private Durchsetzung]]) ergriffen.<br />
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== 3. Staatliche Wettbewerbsbeschränkungen ==<br />
Auf jedem Markt, auch auf dem europäischen Binnenmarkt, kann der Wettbewerb durch private Maßnahmen der Unternehmen und durch hoheitliche Maßnahmen der Mitgliedstaaten oder der Gemeinschaft selbst beschränkt oder verzerrt werden. Der Vertrag von Rom hat dabei den mitgliedstaatlichen Beschränkungen des Wettbewerbs besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Die [[Grundfreiheiten (allgemeine Grundsätze)|Grundfreiheiten]], also die [[Warenverkehrsfreiheit]] (Art.&nbsp;28&nbsp;f. EG/34&nbsp;f. AEUV), die [[Arbeitnehmerfreizügigkeit]] (Art.&nbsp;39 EG/45 AEUV), die [[Niederlassungsfreiheit]] (Art.&nbsp;43 EG/49 AEUV), die [[Dienstleistungsfreiheit]] (Art. 49 EG/56 AEUV) sowie die [[Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit]] (Art.&nbsp;56 EG/63 AEUV) sind allesamt gegen Maßnahmen der Mitgliedstaaten gerichtet, die eine Abschottung der nationalen Märkte innerhalb des europäischen Binnenmarkts bewirken. Sie sind insofern rechtliche Grundlage für die Öffnung der Märkte gegenüber ausländischen Anbietern und Nachfragern. Als wesentlicher Teil der [[Europäische Wirtschaftsverfassung|europäischen Wirtschaftsverfassung]] schützen sie den Wettbewerb im Binnenmarkt oder Teilen davon vor nationalen Abschottungsmaßnahmen. Sie stehen nicht nur unmittelbar wirkenden Ein- und Ausfuhrbeschränkungen entgegen, sondern auch allen Maßnahmen gleicher Wirkung und Zöllen. <br />
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Die Mitgliedstaaten können den Wettbewerb im Binnenmarkt ferner durch staatliche Beihilfen verzerren ([[Beihilfenrecht]]). Das Verbot des Art.&nbsp;87 EG/107 AEUV ist in erster Linie, aber nicht nur, gegen Subventionen gerichtet, wird aber durch zahlreiche Ausnahmen in Art.&nbsp;88 EG/108 AEUV durchbrochen. Ein entsprechendes Verbot für Subventionen, die von der Europäischen Union selbst gewährt werden, fehlt völlig. Verbreitet sind staatliche Wettbewerbsbeschränkungen auch in der Form von Privilegien für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraut sind; das europäische Wettbewerbsrecht ist auf sie aber gemäß Art.&nbsp;86(2) EG/106(2) AEUV grundsätzlich anwendbar. Im zwischenstaatlichen Bereich wird der Wettbewerb auch nicht selten durch Dumping-Praktiken verzerrt. Der Vertrag von Rom gestattete den betroffenen Mitgliedstaaten deshalb in einer besonderen Bestimmung Schutzmaßnahmen, Art.&nbsp;91 EWGV. Da solche Praktiken in offenen Märkten aber bedeutungslos sind, wurde die Vorschrift später gestrichen. Die Gründungsverträge haben sich zu keinem Zeitpunkt ausdrücklich mit dem Wettbewerb bei der Vergabe öffentlicher Aufträge befasst, obwohl sich mancher staatliche Auftraggeber hierbei eher von politischen als von unternehmerischen Überlegungen leiten lässt. Der Gerichtshof hat solche Beschränkungen des Wettbewerbs indessen als Beeinträchtigungen der Verkehrsfreiheiten angesehen, EuGH Rs. 305/87 – ''Kommission/Griechenland'', Slg. 1989, 1473, Rn. 28; EuGH Rs. C-177/94 – ''Perfili'','' ''Slg. 1996, I-170, Rn. 14&nbsp;f. Damit hat er den Anstoß gegeben zu einer umfangreichen Gesetzgebung der Gemeinschaft zur Vergabe öffentlicher Aufträge, siehe hierzu die Konsolidierung in den RL&nbsp;2004/17 und 2004/18.<br />
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== 4. Wettbewerbspolitische Leitbilder für den europäischen Binnenmarkt ==<br />
In der Wettbewerbspolitik und zum Teil auch in der Anwendung des Wettbewerbsrechts spielen Leitbilder von der optimalen Ordnung der Märkte eine erhebliche Rolle. In der Entstehungszeit des deutschen und europäischen Wettbewerbsrechts, also in den fünfziger Jahren des 20.&nbsp;Jahrhunderts, stand dabei die Ausbalancierung wirtschaftlicher Macht durch Wettbewerb im Vordergrund. Diesem Ziel am nächsten kommen Marktverhältnisse, die dem einzelnen Marktteilnehmer keinerlei Macht belassen, also die vollständige Konkurrenz. Die relativ niedrigen Martkanteilsschwellen, bei denen nach §&nbsp;19 Abs.&nbsp;3 GWB bereits eine marktbeherrschende Stellung vermutet wird, weisen auf die in jenen Jahren gewünschten Marktverhältnisse hin. Dem ordoliberalen Ansatz nahe steht die Betonung der Handlungs- und Entschließungsfreiheit der Wirtschaftssubjekte in der so genannten Neoklassik. Sie ist nicht auf eine bestimmte Gestaltung der Marktverhältnisse fokussiert, sondern auf die Bewahrung individueller Freiheiten durch eindeutige und allgemeingültige Verbote bestimmter wettbewerbsbeschränkender Praktiken. Beide Ansätze haben in der Praxis von Kommission und Gerichtshof deutliche Spuren hinterlassen, lassen sich dort aber nicht mit gleicher Deutlichkeit nachweisen wie im deutschen Kartellrecht. <br />
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Die Marktform der vollständigen Konkurrenz hat sich nicht nur als unrealistisch erwiesen, sie ist auch theoretisch anfechtbar, weil sie einen Endzustand idealisiert, in dem weitere Allokationsverbesserungen und Innovationen kaum noch vorstellbar sind; sie ist insofern ein statisches Modell, in dem die oben (s.o. 1.) genannten Funktionen des Wettbewerbs gerade nicht weiter erfüllt werden können. Diese Funktionen verlangen vielmehr nach gewissen Unternehmensgrößen und Möglichkeiten der Selbstfinanzierung auf Seiten der Marktteilnehmer. Für die Marktverhältnisse folgt daraus aber ein Verzicht auf das Ideal der vollständigen Konkurrenz und die Inkaufnahme beschränkter Marktmacht. Dem entspricht als anzustrebende Marktform das weite Oligopol, in dem der einzelne Marktteilnehmer durch seine Konkurrenten immer noch hinreichend diszipliniert wird. <br />
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Seit den 1970er Jahren ist an der University of Chicago eine Ausrichtung des ''antitrust''-Rechts konzipiert worden, in der Fragen von Macht und Freiheit keine sichtbare Rolle mehr spielen. Einziges Kriterium von Wettbewerbspolitik und Wettbewerbsrecht ist danach die Konsumentenwohlfahrt. Sie kann auch durch wettbewerbsbeschränkende Verträge und Praktiken gefördert werden, soweit dadurch Effizienzgewinne entstehen, die jedenfalls auch den Konsumenten zugute kommen. Für die wettbewerbsrechtliche Analyse stehen danach nicht die einzelnen Verhaltensweisen der Marktteilnehmer und ihre Einflüsse auf die Marktstrukturen im Mittelpunkt des Interesses, sondern die Auswirkungen für die Konsumenten. Die prognostischen Schwierigkeiten, die damit für Wettbewerbsbehörden und Gerichte verbunden sind, liegen auf der Hand. Hier geht es jedoch um den Einfluss auf Wettbewerbsrecht und Wettbewerbspolitik im europäischen Binnenmarkt. <br />
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Die [[Europäische Kommission]] propagiert seit dem Ende der neunziger Jahre eine verstärkte Hinwendung zu einer ökonomisch fundierten Anwendung des Wettbewerbsrechts (''more economic approach''). Dazu gehört zum einen eine vermehrte Anwendung ökonometrischer Modelle zur Ausfüllung von unbestimmten Rechtsbegriffen wie z.B. der Marktbeherrschung. So wird beispielsweise die Konzentration eines Marktes vermehrt durch den so genannten ''Herfindahl-Hirschman-''Index (HHI) gekennzeichnet, der sich aus der Summe der Quadrate der Marktanteile der Unternehmen eines Marktes ergibt. Ein anderes Beispiel ist die Marktabgrenzung mittels des so genannten SSNIP-Tests (''small but significant and non-transitory increase in price''), der Aussagen darüber erlaubt, welche Güter als Substitute in den sachlich relevanten Markt einzubeziehen sind. Solche ökonomischen Methoden dienen dazu, unbestimmte Rechtsbegriffe wie den relevanten Markt oder die Marktbeherrschung, die aus der Natur der Sache heraus sehr komplexe Erwägungen erfordern, auf überschaubare und empirisch ausfüllbare Tatbestände zurückzuführen. Dass die Kommission sich solcher Methoden bedient, ist angesichts der Komplexität jener Sachverhalte verständlich und hilfreich.<br />
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Eine andere Frage betrifft die Bedeutung neuer wettbewerbspolitischer Leitbilder bei der Anwendung des geltenden Wettbewerbsrechts. Dass – unveränderte – Rechtsnormen im Laufe der Jahre unter dem Eindruck sich verändernder Verhältnisse mit neuen rechtspolitischen Zwecken unterlegt werden und im Hinblick darauf eine veränderte Auslegung Platz greift, ist nichts Neues und auch keineswegs nur im Wettbewerbsrecht anzutreffen. Allerdings zieht das geltende Recht solchem Vorgehen auch Grenzen. Die Art.&nbsp;81 und 82 EG/101 und 102 AEUV tragen zu dem System unverfälschten Wettbewerbs bei, das die Gründungsverträge ausdrücklich anstreben. Für die rechtliche Verankerung des Leitbildes „Konsumentenwohlfahrt“ gibt es nur vereinzelte Anhaltspunkte im geltenden Gemeinschaftsrecht, so insbesondere in Art.&nbsp;81(3) EG/101(3) AEUV, nicht aber im Tatbestand des [[Kartellverbot und Freistellung|Kartellverbotes]] des Art. 81(1) EG /101(1) AEUV. Inwieweit die Konsumentenwohlfahrt zum Orientierungsmaßstab der Auslegung des europäischen Wettbewerbsrechts werden kann, hängt von den einzelnen Bestimmungen ab. Dass die Konsumentenwohlfahrt das Ziel des unverfälschten Wettbewerbs relativieren kann, ist im Hinblick auf den besonderen Rang des Binnenmarktziels einschließlich des Systems unverfälschten Wettbewerbs ausgeschlossen. Wirkung kann sie als Leitbild nur entfalten, soweit die spezifischen Vorschriften des Wettbewerbsrechts dies ermöglichen.<br />
<br />
== Literatur==<br />
''Monopolkommission'','' ''Folgeprobleme der europäischen Kartellverfahrensreform, Sondergutachten 32, 2002; ''D.G. Goyder'','' ''EC Competition Law, 4. Aufl. 2003; ''Christian von Weizsäcker'', Abuse of a Dominant Position and Economic Efficiency, Zeitschrift für Wettbewerbsrecht 2003, 58&nbsp;ff.; ''Ernst-Joachim Mestmäcker'', ''Heike Schweitzer'', Europäisches Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. 2004; ''Ingo Schmidt'', Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, 8. Aufl. 2005; ''Meinrad Dreher'', ''Michael Adam'', The More Economic Approach to Art. 82 EC and the Legal Process, Zeitschrift für Wettbewerbsrecht 2006, 259&nbsp;ff.; ''Christina Oelke'', Das Europäische Wettbewerbsnetz, 2006; ''Ulrich Immenga'', Ökonomie und Recht in der europäischen Wettbewerbspolitik, Zeitschrift für Wettbewerbsrecht 2006, 346&nbsp;ff.; ''Ulrich Schwalbe'', ''Daniel Zimmer'', Kartellrecht und Ökonomie, 2006; ''Ulrich Immenga'', ''Ernst-Joachim Mestmäcker ''(Hg.), Wettbewerbsrecht, Bd.&nbsp;1/EG, Teil 1 und 2, 4.&nbsp;Aufl. 2007; ''Jürgen Basedow'', Konsumentenwohlfahrt und Effizienz: Neue Leitbilder der Wettbewerbspolitik? Wirtschaft und Wettbewerb 2007, 712&nbsp;ff.; ''Peter Roth'','' Vivien Rose'' (Hg.), Bellamy & Child European Community Law of Competition, 6.&nbsp;Aufl. 2008.<br />
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[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Competition_(Internal_Market)]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Rechtsvergleichung&diff=1705Rechtsvergleichung2021-09-08T10:37:44Z<p>Richter: </p>
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<div>von ''[[Ralf Michaels]]''<br />
== 1. Begriff und Zweck ==<br />
Rechtsvergleichung beschäftigt sich, wie der Begriff im Deutschen klarer ausdrückt als in anderen Sprachen (''comparative law'', ''droit comparé'') mit dem Verhältnis von Rechten. Makrovergleichung beschäftigt sich mit ganzen Rechtsordnungen; Mikrovergleichung betrifft spezielle Institute oder auch spezielle Probleme. Rechtsvergleichung geht damit weiter als die oft als „bloße Auslandsrechtskunde“ abgetane Information über ausländisches Recht. Allerdings darf der Unterschied nicht übertrieben werden. Erstens ist gute Kenntnis des ausländischen Rechts unabdingbare Voraussetzung jeder Rechtsvergleichung. Zweitens hat auch die Auslandsrechtskunde notwendig ein vergleichendes Element: Weil der Rechtsvergleicher regelmäßig aus der Perspektive (und auch oft für die Perspektive) einer bestimmten Rechtsordnung auf eine andere schaut, wird das fremde Recht regelmäßig ganz automatisch im Verhältnis zum eigenen Recht verstanden und erklärt.<br />
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Der eigentliche Vergleich von Rechtsordnungen, also die Erkenntnis, Erklärung und Bewertung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten, ist nur einer mehrerer Schwerpunkte heutiger Rechtsvergleichung als Diszpiplin. Ein zweiter Schwerpunkt betrifft den Einfluss zwischen Rechtsordnungen, insbesondere die [[Rezeption]] einzelner Rechtsinstitute oder auch ganzer Rechtsordnungen. Auf Europa bezogen, umfasst das einerseits den Einfluss auf das europäische Privatrecht durch verschiedene Rechtsordnungen (etwa [[römisches Recht]], die Rechte der Mitgliedstaaten, Recht nichteuropäischer Staaten), andererseits die [[Ausstrahlungen des europäischen Privatrechts auf außereuropäische Rechtsordnungen]]. Ein dritter Schwerpunkt der Rechtsvergleichung, der Anfang des 20.&nbsp;Jahrhunderts viel behandelt wurde und heute wieder im Aufschwung ist, liegt im Verständnis der Rechtsvergleichung als allgemeiner Rechtslehre, also als derjenigen Disziplin, die die verschiedenen Rechtsordnungen in ihrer Gesamtheit und ihrem Verhältnis zueinander zu verstehen versucht, ohne dabei notwendig die bestehenden Unterschiede zu leugnen oder aufzuheben.<br />
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Verschiedene Zwecke werden der Rechtsvergleichung zuerkannt: Sie soll die nationale Gesetzgebung inspirieren, Richtern bei der Auslegung schwieriger Fragen helfen und die Grundlage für die Vereinheitlichung oder Harmonisierung des Rechts legen – oder auch einfach nur der Erkenntnis dienen und das Bewusstsein erweitern, insbesondere in der Juristenausbildung. All dies sind indes Zwecke, die Rechtswissenschaft immer erfüllen soll. So gesehen ist Rechtsvergleichung nur eine spezielle Form allgemeiner Rechtswissenschaft oder, andersherum, vollständige Rechtswissenschaft (und mit Einschränkungen Rechtspraxis) muss eine vergleichende Komponente beinhalten.<br />
<br />
== 2. Methode ==<br />
In jüngster Zeit werden verstärkt die methodischen und theoretischen Grundlagen der Rechtsvergleichung diskutiert, ohne dass sich bislang ein Konsens herausgebildet hätte oder die Diskussion wesentlichen Einfluss auf die praktische Rechtsvergleichung ausübte. Im Wesentlichen lassen sich zwei Methoden unterscheiden, funktionale und kulturelle Rechtsvergleichung.<br />
<br />
Die funktionale Rechtsvergleichung, popularisiert vor allem durch ''Konrad'' ''Zweigert'' und ''Hein'' ''Kötz'', geht davon aus, dass die Funktion des Rechts in der Lösung gesellschaftlicher Probleme liegt und alle Gesellschaften im wesentlichen mit den gleichen Problemen konfrontiert werden. Vergleichbar sind demnach Rechtsinstitute, die die gleiche Funktion erfüllen, selbst wenn sie dogmatisch ganz unterschiedlich ausgestaltet werden; sie sind damit funktionsäquivalent. So kann etwa die ''[[Common law|common law]]-Figur der ''consideration'' mit [[Formerfordernisse]]n des deutschen Rechts verglichen werden, weil beide die gleichen Funktionen erfüllen: Warnung vor überstürztem Vertragsschluss und Bestätigung der Seriosität eines Vertragsversprechens ([[Seriositätsindizien]]). Die Beziehung von Rechtsnormen auf Probleme soll es auch ermöglichen, das bessere Recht zu bestimmen und auf dieser Grundlage gegebenenfalls nationales Recht zu verbessern oder internationales Einheitsrecht zu schaffen.<br />
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Die hier so genannte kulturelle Rechtsvergleichung dagegen (manchmal auch als ''comparative legal studies'' oder ''comparative legal cultures'' bezeichnet) lehnt die Reduzierung des Rechts auf seine Funktion ab und versteht stattdessen das nationale Recht als Ausdruck und Ausprägung der allgemeinen Kultur einer Gesellschaft ([[Rechtskultur]]). Der Schwerpunkt liegt hier auf der Mentalität, die sich in einer Rechtsordnung ausdrückt und die letztlich nicht für Beobachter völlig erklärbar, sondern nur durch Teilnehmer erspürbar sein soll. Weil Kulturen als unüberbrückbar unterschiedlich angesehen werden (insbesondere soll das für den Gegensatz zwischen ''civil'' und ''common law'' gelten) und die Eigenständigkeit verschiedener Kulturen schützenswert sei, wendet sich die kulturelle Rechtsvergleichung meist sowohl gegen die vergleichende Bewertung als auch gegen die Vereinheitlichung des Rechts; sie fordert Toleranz gegenüber dem fremden Recht und der Differenz an sich.<br />
<br />
Die Unterschiede zwischen beiden Ansätzen sind kleiner, als die teilweise heftige Diskussion es erscheinen lässt. Beide Ansätze wenden sich dagegen, die Analyse auf Rechtsregeln (''black letter law'') zu beschränken, und suchen stattdessen nach der Rolle des Rechts in der Gesellschaft. Beide Ansätze lassen die Unterschiede zwischen Rechtsordnungen bestehen – auch die funktionale Rechtsvergleichung postuliert als Vermutung nicht, wie oft behauptet wird, die Identität zwischen verschiedenen Rechtsordnungen, sondern die Funktionsäquivalenz, also die Gleichheit in der Problemlösung bei Verschiedenheit im Lösungsweg. Diese Verschiedenheit lässt sich durchaus sinnvoll mit Rechtskultur bezeichnen. Diese Einsicht wird neuerdings für den Versuch genutzt, Rechtskultur und Funktionsäquivalenz unter dem Aspekt des rechtlichen Paradigmas zusammenzubringen. Paradigma bezeichnet dabei die Art und Weise, mit der rechtsordnungsspezifisch (kulturell) über rechtliche Probleme nachgedacht wird bzw. diese (funktionsäquivalent) gelöst werden.<br />
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== 3. Entwicklung ==<br />
Rechtsvergleichung im weiteren Sinne gibt es, seit es Recht gibt. Im engeren Sinne freilich wurde Rechtsvergleichung erst möglich, als man unterschiedliche Rechtsordnungen strikt zu trennen begann, also insbesondere mit dem Aufkommen des staatlichen Rechtsetzungsmonopols. Solange sich die Gesetzgeber in Europa mit Rechtsetzung im Privatrecht zurückhielten, wurden Privatrechtswissenschaft und &#8209;praxis nicht auf explizit vergleichender Grundlage betrieben, sondern innerhalb des gemeinsamen Rahmens von [[Ius commune (Gemeines Recht)|''ius commune'']], ''[[Lex Mercatoria|lex mercatoria]]'' oder [[Naturrecht]]. Der häufige Bezug auf ausländische Autoritäten bedeutete hier nicht die Vergleichung verschiedener Rechtsordnungen sondern die Verwendung von Stimmen zum als gemeinsam verstandenen Recht.<br />
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Erst seit dem 19.&nbsp;Jahrhundert, als das Privatrecht in den kontinentaleuropäischen Staaten kodifiziert und damit nationalisiert wurde ([[Kodifikation]]), entwickelte sich die moderne europäische Rechtsvergleichung. Rechtsvergleichende Zeitschriften entstanden, rechtsvergleichende Gesellschaften wurden gegründet, die bezeichnenderweise national waren, denn der Hauptzweck der Rechtsvergleichung lag lange in der Inspiration für staatliche Gesetzgebung. Gleichzeitig erlebte die Rechtsvergleichung eine doppelte Beschränkung, die bis heute weitgehend anhält. Erstens konzentrierte man sich wesentlich auf Europa. Frühere Kolonien (mit Ausnahme der USA) wurden als nicht genügend eigenständig angesehen und weitgehend vernachlässigt; nicht europäisch geprägte Rechtsordnungen insbesondere in Asien, Afrika und im Pazifik wurden aus der Rechtsvergleichung ausgegliedert und der neu entstehenden Rechtsethnologie zugeschlagen. Zweitens konzentrierte sich die Rechtsvergleichung ganz wesentlich auf das Privatrecht, das als unpolitisch angesehen wurde und daher als einziger Teilbereich des Rechts für eine streng rechtswissenschaftliche Vergleichung geeignet schien. Ein Hauptfokus der Rechtsvergleichung war dabei lange Zeit der Gesetzesvergleich insbesondere zwischen kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen, die in verschiedene Rechtskreise aufgeteilt wurden ([[Rechtskreislehre]]). Der Vergleich zwischen kontinentaleuropäischem ''civil law'' (das den von Frankreich geprägten romanistischen und den von Deutschland beeinflussten germanistischen Rechtskreis umfasste) und englischem ''common law'', das unkodifiziert war und traditionell stärker auf Fallrecht und induktiver Methode beruhte, stellte dagegen vor erhebliche Herausforderungen.<br />
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Seit dem ersten rechtsvergleichenden Weltkongress 1900 in Paris (der etwas willkürlich als Geburtsstunde moderner Rechtsvergleichung angesehen wird) hat die wissenschaftliche Rechtsvergleichung Fortschritte gemacht. Die Rechtsvergleichung geht nun über den Text von Rechtsregeln hinaus und vergleicht das ''law in action''<nowiki>; das erleichtert den Vergleich zwischen </nowiki>''civil'' und ''common law''. Zudem zielt man nun stärker auf die Erarbeitung eines gemeinsamen supranationalen Rechts – wenn schon nicht auf weltweiter, so doch auf europäischer Ebene. Im 20.&nbsp;Jahrhundert haben sich verstärkt internationale Arbeitsgruppen gebildet, die diese Vereinheitlichung vorantreiben, sei es auf politischer oder auf rechtswissenschaftlicher Basis. Die doppelte Beschränkung des 19.&nbsp;Jahrhunderts auf Europa und auf als unpolitisch angesehenes Privatrecht wirkt aber fort. Nur so lässt sich erklären, dass es lange umstritten blieb, ob man westliches mit sozialistischem Recht sinnvoll vergleichen könne. Auch blieb das Privatrechtsverständnis der Rechtsvergleichung lange im Ideal des 19.&nbsp;Jahrhunderts verhaftet; die Wandlungen des Privatrechts im 20.&nbsp;Jahrhundert (Konstitutionalisierung, Materialisierung, Privatrecht als regulatives Instrument) werden noch heute häufig entweder ignoriert oder als Verfälschungen eines Privatrechtsideals abgelehnt. Aus diesem Grunde ist die Verbindung zwischen dem apolitischen Privatrecht der klassischen Rechtsvergleichung und dem regulativen Privatrechtsverständnis des Gemeinschaftsrechts bis heute unvollkommen.<br />
<br />
== 4. Europäische Privatrechtswissenschaft ==<br />
Die europäische Privatrechtswissenschaft ist aus der Rechtsvergleichung entstanden, geht aber mittlerweile über diese hinaus. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es erste Forderungen nach einem europaweiten auf rechtsvergleichender Grundlage zu erstellenden Privatrecht. Etwa seit Anfang der 1990er Jahre sind solche Stimmen intensiver geworden; man erstrebt ein europäisch-einheitliches Privatrecht, das entweder mithilfe der durch funktionale Rechtsvergleichung gefundenen Gemeinsamkeiten oder auf Grundlage des alten oder eines neu zu schaffenden ''ius commune'' zu erreichen ist. Seitdem hat die innereuropäische Rechtsvergleichung in Lehre und Wissenschaft mehr Beachtung erhalten. Rechtsvergleichende Lehrbücher zum europäischen Privatrecht, teilweise in Form von ''casebooks'' mit Primärtexten aus dem jeweiligen Recht, ermöglichen Studenten den Zugang zu anderen Rechts-ordnungen. Größere rechtswissenschaftliche Untersuchungen zu rechtsdogmatischen Fragen enthalten regelmäßig einen rechtsvergleichenden Teil; explizit rechtsvergleichende Projekte sind höher geschätzt als früher. Schließlich ist auch die internationale Zusammenarbeit angestiegen (teilweise durch Fördergelder der EU). Es gibt mehrere neue rechtsvergleichend-/europäischrechtliche Zeitschriften. Vor allem arbeiten verschiedene internationale Arbeitsgruppen mit unterschiedlichen Zielen explizit rechtsvergleichend an einem Europäischen Privatrecht.<br />
<br />
Unter den verschiedenen Projekten ist die Rechtsvergleichung am wichtigsten für das ''common core''-Projekt, das aufgrund detaillierter rechtsvergleichender Fallstudien Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen europäischen Rechtsordnungen erarbeitet und weitgehend ohne eigene Wertungen darstellt. Andere Gruppen wie die Lando-Komission (''[[Principles of European Contract Law]]'') und die daraus hervorgegangene ''[[Study Group on a European Civil Code]]'' sowie die ''European Group on Tort Law'' (''[[Principles of European Tort Law]]'') verbinden rechtsvergleichende Bestandsaufnahme mit normativer Suche nach der besten Lösung (''[[Restatements]]''). Für Projekte der Gemeinschaft, die ein stärker regulatives Privatrechtsverständnis haben, gleich ob sie stärker ein liberal-marktbezogenes oder ein ausgleichend-soziales Privatrecht bevorzugen, ist die Vergleichung der regelmäßig weniger regulativen Privatrechte der Mitgliedstaaten oft weniger wichtig als der Zusammenhang zum Gemeinschaftsrecht. Insgesamt ist die Rechtsvergleichung nur noch eines von mehreren Elementen europäischer Privatrechtswissenschaft; weder als Grundlage noch als Legitimation ist sie allein ausreichend.<br />
<br />
Ähnliches gilt unter Gegnern einer europäisierten Privatrechtswissenschaft. Lange Zeit waren Rechtsvergleicher fast geschlossen für eine europäisierte Privatrechtswissenschaft; Widerstand kam nur von auf nationales Recht beschränkten Wissenschaftlern. Inzwischen gibt es auch Rechtsvergleicher, die ein notwendig national geprägtes Rechtsverständnis als Argument gegen europäisierte Privatrechtswissenschaft anführen, und andere, die eine europäische Diskussion befürworten, nicht aber eine europäische Privatrechtsvereinheitlichung. Die lange Zeit als fast notwendig angesehene Verbindung zwischen Rechtsvergleichung und &#8209;vereinheitlichung wird so gelockert, was neue Freiheiten für beide Seiten erzeugt.<br />
<br />
Ob und wie Unterschiede durch Vereinheitlichung überwunden werden sollen, lässt sich nur mit Argumenten beurteilen, die der rechtsvergleichenden Analyse selbst nur beschränkt entnommen werden können. Eben deshalb ist die Rechtsvergleichung für die Herausbildung eines Europäischen Privatrechts zwar nötig aber allein unzureichend. Denn das Europäische Privatrecht muss die Unterschiede zwischen Rechtsordnungen überwinden oder zumindest verarbeiten, und es muss nicht nur die Rolle des Rechts in der Gesellschaft bestimmen, sondern zuallererst Rechtsregeln und eine europäische Rechtsdogmatik erarbeiten.<br />
<br />
== 5. Europäische Rechtsetzung ==<br />
Für Institutionen der [[Europäische Union|Europäischen Union]] ist rechtsvergleichende Arbeit aus mehreren Gründen wesentlich. Schon die Frage, ob die EU überhaupt tätig werden soll und darf, hat regelmäßig eine rechtsvergleichende Komponente. Ob etwa Rechtsunterschiede bestehen, die den [[Europäischer Binnenmarkt|europäischen Binnenmarkt]] behindern, ob das nationale Recht gemäß dem Subsidiaritätsprinzip zur Regelung unzureichend ist; all das lässt sich im Grunde ohne rechtsvergleichende Untersuchung mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen nicht bestimmen. Freilich werden die eigentlich vom [[EG-Vertrag]] geforderten empirischen Untersuchungen insoweit nur sehr selten umfassend geleistet; oft sind Binnenmarktrelevanz und Notwendigkeit der Regelung auf europäischer Ebene bloße unsubstantiierte Behauptungen.<br />
<br />
Beschließt die EU, eine Regelung zu erlassen, so ist sie allerdings stärker auf rechtsvergleichende Vorarbeiten angewiesen als es bei der Rechtsetzung im Einzelstaat der Fall ist. Wenn die EU neue Regelungsbereiche erschließt, fehlt es ihr insoweit oft an einer eigenen Rechtstradition, an die sie anschließen kann; sie muss schon deshalb auf die Erfahrungen der Mitgliedstaaten zurückgreifen oder sich an den Erfahrungen nichteuropäischer Rechtssysteme orientieren. Dem Erlass gemeinschaftsrechtlicher Regelungen gehen häufig umfangreiche rechtsvergleichende Vorarbeiten voraus, die, wenn sie intern erarbeitet werden, bedauerlicherweise nicht veröffentlicht werden. Für größere Projekte werden oft Wissenschaftler außerhalb der EU-Institutionen mit solchen Vorarbeiten betraut.<br />
<br />
Schließlich ist Rechtsvergleichung auch in der Implementationsphase wesentlich. Weil das Gemeinschaftsrecht das mitgliedstaatliche Recht nicht einfach ersetzt, sondern auf komplexe Weise mit ihm verzahnt ist, setzen die erfolgreiche Implementierung des Gemeinschaftsrechts und deren in Art.&nbsp;211&nbsp;EGV/17 AEUV geforderte Überwachung ein gutes Verständnis der jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechtsordnung voraus, und zwar im Vergleich sowohl mit anderen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen als auch mit dem Gemeinschaftsrecht selbst.<br />
<br />
== 6. Europäische Rechtsprechung ==<br />
Rechtsvergleichung ist wichtig auch beim [[Europäischer Gerichtshof|Europäischen Gerichtshof]], obwohl dieser auf die Auslegung des Gemeinschaftsrechts beschränkt ist und zur korrekten Auslegung des mitgliedstaatlichen Rechts nicht Stellung nimmt. Ob etwa die Anwendung mitgliedstaatlicher Regelungen dadurch die [[Grundfreiheiten (allgemeine Grundsätze)|Grundfreiheiten]] verletzen, dass sie Angehörigen anderer Mitgliedstaaten gegenüber den Anforderungen ihres Heimatrechts zusätzliche Belastungen auferlegen, kann oft nur im Vergleich der betroffenen Rechtsordnungen ermittelt werden. Die [[Auslegung des Gemeinschaftsrechts]] erfolgt zwar grundsätzlich autonom. Das schließt aber nur den unmittelbaren Rückgriff auf das Recht eines einzelnen Mitgliedstaats aus, nicht notwendig aber den auf die rechtsvergleichende Bestandsaufnahme der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. Unbestreitbar erforderlich ist die „wertende“ Rechtsvergleichung zur Ermittlung [[Allgemeine Rechtsgrundsätze|allgemeiner Rechtsgrundsätze]]. Daneben wird die Rechtsvergleichung auch zur Ausfüllung von Lücken im Gemeinschaftsrecht herangezogen, wo die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen übereinstimmen oder zumindest eine dominante Tendenz erkennen lassen. Das kann problematisch werden, insofern es die Kompetenzordnung des Gemeinschaftsrechts zu untergraben droht. Wo das Gemeinschaftsrecht eigene Ziele gerade im Widerspruch zu den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen verfolgt, ist der Rückgriff wohl ausgeschlossen.<br />
<br />
Beim EuGH übernimmt hauptsächlich der Generalanwalt die rechtsvergleichende Vorarbeit, wenn auch mit starken Unterschieden in Umfang und Qualität. Der EuGH kann aber auch die Parteien, insbesondere die Kommission, zu rechtsvergleichender Vorarbeit auffordern; er erarbeitet zudem interne, unveröffentlichte, rechtsvergleichende Studien.<br />
<br />
Keine echte Rechtsvergleichung ist es, wenn mitgliedstaatliche oder europäische Gerichte sich auf die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch die Gerichte anderer Mitgliedstaaten berufen (was sie nicht immer genügend tun), denn dabei handelt es sich um Diskussion innerhalb ein und derselben Rechtsordnung. Anders ist es bei der rechtsvergleichenden Interpretation des innerstaatlichen Rechts; diese kann langfristig zur Konvergenz eines gemeineuropäischen Privatrechts führen.<br />
<br />
== 7. Ausblick ==<br />
Insgesamt emanzipiert sich die europäische Privatrechtswissenschaft zur Zeit von der Rechtsvergleichung in ähnlicher Weise, wie sich das Europarecht vor längerem vom Völkerrecht und dem nationalen Verfassungsrecht emanzipiert hat. Nun, da ein erheblicher Kenntnisstand in der innereuropäischen Privatrechtsvergleichung erreicht ist, ist die Rechtsvergleichung nur noch eines von vielen Momenten des Europäischen Privatrechts. Sollte ein [[Common Frame of Reference|Gemeinsamer Referenzrahmen]] oder gar ein [[Europäisches Zivilgesetzbuch]] Erfolg haben, so können diese Texte nicht nur auf Rechtsvergleichung beruhen, sondern müssen auch aus anderen Gründen überzeugen. Dass damit die Bedeutung der innereuropäischen Privatrechtsvergleichung relativiert wird, hilft dem Europäischen Privatrecht, sich stärker auch auf seine normativen Ziele und seine Verbindung zur Gemeinschaft und ihrem sonstigen Recht zu konzentrieren. Gleichzeitig hilft es der europäischen Rechtsvergleichung dabei, wieder verstärkt auch andere Fragen als die der europäischen Privatrechtsvereinheitlichung ins Auge zu fassen. In dem Maße, in dem das Europäische Privatrecht sich von der Rechtsvergleichung emanzipiert, ist auch zu hoffen, dass die Rechtsvergleichung sich wieder stärker anderen Materien als dem Privatrecht zuwendet und dass der Vergleich mit außereuropäischen Rechtsordnungen, der über lange Zeit stark in den Hintergrund getreten ist, umfassender betrieben wird.<br />
<br />
==Literatur==<br />
International Encyclopedia of Comparative Law (IECL), 1967 ff.; ''Konrad Zweigert'', ''Hein Kötz'', Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiet des Privatrechts, 3. Aufl. 1996; ''Mathias Reimann'', The Progress and Failure of Comparative Law in the Second Half of the Twentieth Century, American Journal of Comparative Law 50 (2002) 671 ff.; ''Pierre Legrand'','' Roderick Munday'' (Hg.), Comparative Legal Studies: Traditions and Transitions, 2003; ''François R. van der Mensbrugghe'' (Hg.), L’utilisation de la méthode comparative en droit européen, 2003; ''Mathias Reimann'','' Reinhard Zimmermann'' (Hg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, 2006; ''Jan M. Smits'' (Hg.), Elgar Encyclopedia of Comparative Law, 2006; ''Ralf Michaels'', Two Paradigms of Jurisdiction, Michigan Journal of International Law 27 (2006) 1003 ff.; ''James Gordley'', Foundations of Private Law: Property, Tort, Contract, Unjust Enrichment, 2007; ''Esin Örücü'', ''David Nelken'' (Hg.), Comparative Law: A Handbook, 2007.<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Comparative_Law]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Umwandlung/%E2%80%8CSpaltung/%E2%80%8C%E2%80%8CVerschmelzung&diff=1703Umwandlung/Spaltung/Verschmelzung2021-09-08T10:36:07Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Heike Schweitzer]]''<br />
== 1. Begriffe und Funktion ==<br />
Zum Wettbewerb zwischen Unternehmen am Markt gehört der Wettbewerb um optimale Unternehmensorganisation, um die optimalen „Grenzen des Unternehmens“ und um die dem Zweck des Unternehmens am besten entsprechende Rechtsform. Die Entscheidung über die Grenzen des Unternehmens, die mit einer Entscheidung über die Grenzen der Gesellschaft einhergehen kann aber nicht muss, orientiert sich an einem Vergleich von Kosten und Nutzen der Koordination in einer Organisation gegenüber der dezentralen Koordination am Markt. Die Entscheidung über die Rechtsform hat u.a. die verschiedenen organisations-, haftungs-, finanzierungs- und steuerrechtlichen Implikationen einzubeziehen. Es ist ein wesentliches Kennzeichen eines modernen Gesellschaftsrechts, dass es in beiden Hinsichten eine einfache, flexible, zügige und kostengünstige Anpassung der Strukturen eines Verbandes an die sich ständig ändernden Umweltbedingungen erlaubt.<br />
<br />
Der Oberbegriff für die wichtigsten Formen einer derartigen Umstrukturierung von Gesellschaften ist im deutschen Recht der Begriff der Umwandlung. Zu unterscheiden sind die übertragende und die formwechselnde Umwandlung. Die ''übertragende Umwandlung ''verändert die Grenzen der Gesellschaft. Für sie stehen im deutschen Recht die Formen der Verschmelzung (§§&nbsp;2–122 UmwG), der Spaltung (Aufspaltung, Abspaltung und Ausgliederung; §§&nbsp;123–173 UmwG) und der Vermögensübertragung (§§&nbsp;174–189 UmwG) zur Verfügung. Die ''formwechselnde Umwandlung'' ist in den §§&nbsp;190–304 UmwG geregelt und dient allein der identitätswahrenden Änderung der Organisationsform.<br />
<br />
Kennzeichnend für alle Formen der ''übertragenden Umwandlung ''ist die Übertragung von Vermögen kraft Gesamtrechtsnachfolge. In der Systematik des UmwG bildet die ''Verschmelzung'' insoweit den Grundtatbestand, auf den bei der Regelung von Spaltung und Vermögensübertragung verwiesen wird. Unterschieden werden die Verschmelzung durch Aufnahme, bei der ein oder mehrere Rechtsträger (übertragende Ge-sellschaften) ihr gesamtes Aktiv- und Passivvermögen im Wege der Auflösung auf einen bereits bestehenden anderen Rechtsträger (übernehmende Gesellschaft) übertragen, und die Verschmelzung durch Neugründung, bei der der übernehmende Rechtsträger im Zuge der Verschmelzung neu gegründet wird. In beiden Fällen erhalten die Anteilsinhaber der übertragenden Rechtsträger Anteile oder Mitgliedschaften des übernehmenden oder neuen Rechtsträgers. Eine Gegenleistung in Geld ist nach deutschem Recht nicht vorgesehen – Zuzahlungen in Bar sind auf höchstens 10&nbsp;% beschränkt. Die übertragende Gesellschaft erlischt ''ipso iure'', ohne dass es einer Liquidation der übertragenden Gesellschaften bedarf. Die'' Spaltung ''soll die Übertragung von Vermögens''teilen'' als Gesamtheit, also ''uno actu'' kraft Eintragung ins Register ermöglichen. Unterschieden werden die Form der Aufspaltung, der Abspaltung oder der Ausgliederung. Bei der Aufspaltung teilt ein Rechtsträger sein gesamtes Vermögen auf und überträgt die Vermögensteile im Wege der partiellen Gesamtrechtsnachfolge (§&nbsp;131 Abs.&nbsp;1 Nr.&nbsp;1 UmwG) auf mindestens zwei andere schon bestehende oder neu gegründete Rechtsträger. Als Gegenleistung werden Anteile der übernehmenden oder neuen Rechtsträger an die Anteilsinhaber des übertragenden Rechtsträgers gewährt. Der übertragende Rechtsträger wird ohne Abwicklung aufgelöst. Bei der Abspaltung wird nur ein Teil des Vermögens im Wege der Sonderrechtsnachfolge auf einen anderen Rechtsträger übertragen, der übertragende Rechtsträger bleibt im Übrigen bestehen. Die Ausgliederung ähnelt im Prinzip der Abspaltung; jedoch werden die als Gegenleistung gewährten Anteile der übernehmenden oder neuen Rechtsträger an den übertragenden Rechtsträger selbst und nicht an die Anteilsinhaber ausgegeben. Die Spaltung in ihren verschiedenen Formen ist eine'' ''Alternative zur fortbestehenden Möglichkeit einer „Realteilung“, also der Übertragung von Vermögensteilen kraft Einzelrechtsnachfolge. Die ''Vermögensübertragung ''in den Formen der Voll- oder Teilübertragung unterscheidet sich von anderen Umwandlungsformen dadurch, dass die Gegenleistung für die Übertragung nicht in Anteilen am übernehmenden Rechtsträger, sondern in einer Geldleistung besteht. Der Anwendungsbereich der Vermögensübertragung ist nach deutschem Recht jedoch eng begrenzt auf Fälle, in denen eine Kapitalgesellschaft ihr Vermögen oder Teile ihres Vermögens auf die öffentliche Hand überträgt, sowie auf Vermögensübertragungen unter Versicherungsunternehmen.<br />
<br />
Die ''formwechselnde Umwandlung'' ist von der übertragenden Umwandlung grundsätzlich verschieden: eine Vermögensübertragung findet hier nicht statt. Es erfolgt lediglich eine Änderung der Rechtsform und rechtlichen Struktur eines Rechtsträgers, unter Wahrung seiner rechtlichen und wirtschaftlichen Identität.<br />
<br />
Die vom Recht bereitgestellten Möglichkeiten der Umwandlung werden in der Praxis in erheblichem Umfang genutzt. Dies gilt in Deutschland wie in anderen kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen, die – trotz vieler Unterschiede im Detail – ebenfalls die Möglichkeit einer Vermögensübertragung zwischen Unternehmen im Wege der Gesamtrechtsnachfolge vorsehen. So werden etwa die Verschmelzung (''fusion''<nowiki>; </nowiki>''statutory merger''<nowiki>; </nowiki>''amalgamation'') und die Spaltung (''scission''<nowiki>; </nowiki>''corporate division'' oder ''corporate separation'' in den Formen des ''split-up'', ''split-off'' und ''spin-off'') vielfach zu einer Neuordnung derjenigen Unternehmensbereiche eingesetzt, die als wirtschaftliche Einheit mit einer gewissen Selbständigkeit agieren sollen. Die Spaltung kann auch der Vorbereitung der Veräußerung von Unternehmensteilen, der Isolierung von Haftungsrisiken oder der Erbauseinandersetzung dienen. Die Verschmelzung kann unter anderem ein Vehikel der Unternehmensakquisition sein, wenn der Kaufpreis im Wesentlichen im Wege des Anteilstausches gezahlt werden soll. In all diesen Fällen ist die Umwandlung allerdings nicht der einzig mögliche Weg, um das wirtschaftlich gewünschte Ergebnis zu erzielen, das alternativ – wenngleich u.U. mit höherem Aufwand – im Wege der Einbringung, der Anteilsveräußerung oder der Veräußerung von Vermögensgegenständen im Wege der Einzelrechtsnachfolge, ggf. unter späterer Liquidation der übertragenden Gesellschaft verfolgt werden kann (sog. „wirtschaftliche Umwandlung“). <br />
<br />
== 2. Entwicklungen im mitgliedstaatlichen Umwandlungsrecht auf der Grundlage der Fusions- und der Spaltungs-RL ==<br />
Umwandlungsrecht ist in Europa zu einem wichtigen Teil mitgliedstaatliches Recht. In seinen Grundstrukturen ist es jedoch bereits seit Ende der 1970er Jahre durch Europäisches Richtlinienrecht vorgeprägt. Die [[Europäische Kommission]] sah voraus, dass die Schaffung eines [[Europäischer Binnenmarkt|europäischen Binnenmarktes]] und die damit angestrebte Erweiterung des wirtschaftlichen Aktionsraumes europäischer Unternehmen grenzüberschreitende Unternehmensumstrukturierungen, insbesondere grenzüberschreitende Zusammenschlüsse, nahelegen würde. Die 3. gesellschaftsrechtliche Richtlinie vom 9.10.1978 (Fusions-RL [RL&nbsp;78/855]) war daher als ein „Basisrechtsakt für ein Europäisches Recht der Strukturmaßnahmen“ konzipiert (''Stefan Grundmann''). Sie regelt das Verfahren, welches in allen Mitgliedstaaten für eine Verschmelzung von Aktiengesellschaften bzw. Gesellschaften entsprechender Rechtsform, d.h. für eine Übertragung des Gesamtvermögens im Wege der Gesamtrechtsnachfolge und ggf. unter Auflösung der übertragenden Gesellschaft ohne Liquidation, bereitstehen muss, sowie einen Basisstandard des Gläubigerschutzes. Geregelt wird die Verschmelzung durch Aufnahme und die Verschmelzung durch Neugründung. Die Verfahrensvorgaben beruhen auf einem dem Aktionärsschutz verpflichteten Informationsmodell, welches auf folgenden Grundpfeilern ruht: einem von den Leitungsorganen der beteiligten Gesellschaften gemeinsam zu erstellenden ''Verschmelzungsplan'' (Art.&nbsp;5) bzw. Vertragsentwurf, der nach den Regeln der Publizitäts-RL (RL&nbsp;68/151) zu veröffentlichen ist; einem vom Leitungsorgan jeder beteiligten Gesellschaft gesondert zu erstellendem ''Verschmelzungsbericht ''(Art.&nbsp;9), der die geplante Verschmelzung in ihren wesentlichen rechtlichen und wirtschaftlichen Aspekten, insb. auch mit Blick auf das Wert- und Tauschverhältnis, verständlich erläutert und allen Aktionären zugänglich zu machen ist; einer unabhängigen Prüfung des Verschmelzungsplans und insb. des dort bestimmten Umtauschverhältnisses (Art.&nbsp;10), abgesichert durch eine Fahrlässigkeitshaftung der Prüfer gegenüber den Aktionären; und dem Erfordernis eines Hauptversammlungsbeschlusses mit satzungsändernder Mehrheit (Art.&nbsp;7&nbsp;f.), die sich nach mitgliedstaatlichem Recht bestimmt. Gläubigern, deren Forderungen vor Bekanntmachung des Verschmelzungsplans entstanden und noch nicht fällig sind, muss das mitgliedstaatliche Recht ein angemessenes Schutzsystem bereitstellen (Art. 13–15). Zum Schutz der Aktionäre der übertragenden Gesellschaft wird eine <nowiki>Fahrlässigkeitshaftung der Organmitglieder dieses Verschmelzungspartners gegenüber den Aktionären dieser Gesellschaft eingeführt (Art.&nbsp;20&nbsp;f.). Die 6.&nbsp;gesellschaftsrechtliche Richtlinie vom 17.12. 1982 (Spaltungs-RL [RL&nbsp;82/891]) ergänzt die Fusions-RL und soll zugleich dem Risiko einer Umgehung des dort vorgegebenen Schutzniveaus begegnen, welches aus der teilweisen wirtschaftlichen Austauschbarkeit von Spaltung und Verschmelzung folgt. Sie verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht dazu, das Instrument der Spaltung bereitzustellen, sondern macht Vorgaben für das Spaltungsverfahren nur insoweit, als die Möglichkeit einer Spaltung nach nationalem Recht existiert. In Aufbau und Regelungsgehalt ist die Richtlinie eng an die Fusionsrichtlinie angelehnt: auch sie betrifft ausschließlich Spaltungen unter Beteiligung einer Aktiengesellschaft. Das Niveau des Gläubiger- und Aktionärsschutzes ist dem der Fusions-RL angepasst.</nowiki><br />
<br />
Auf den Vorgaben dieser Richtlinien bauen die kontinentaleuropäischen Umwandlungsrechte durchgängig auf und ähneln sich demgemäß in ihren Grundstrukturen. Auch bei der Auslegung der einschlägigen Tatbestände sind die europäischen Vorgaben zu berücksichtigen. Zahlreiche kontinentaleuropäische Mitgliedstaaten (Deutschland, Italien, Belgien, Niederland u.a.) haben das in den Richtlinien vorgesehene Regime ferner über die europäischen Vorgaben hinaus auf die GmbH erstreckt. Eine wichtige Ausnahme bildet das englische Recht. Zwar wurden auch hier die 3. und 6.&nbsp;gesellschaftsrechtliche Richtlinie formal umgesetzt. So wurde mit sec. 427A ''Companies Act 1985'' eine Vorschrift in das englische Gesellschaftsrecht aufgenommen, mit der ein ''merger by fusion'' grundsätzlich möglich ist. Da dem englischen Recht die Gesamtrechtsfolge, und damit ein wesentlicher Grund für die Attraktion des Rechtsinstituts der Umwandlung, fremd ist und das englische Recht für den Übergang der mit dem übertragenden Rechtsträger bestehenden Schuldverhältnisse die Zustimmung der jeweiligen Vertragspartner verlangt, spielt der ''merger by fusion'' in der Rechtspraxis keine Rolle. Stattdessen finden Fusionen nach englischem Recht in der Form des Anteilserwerbs statt. Das englische Recht unterscheidet sich damit auch von den US-amerikanischen Gesellschaftsrechtsordnungen, welche den ''statutory merger'' kennen und nutzen.<br />
<br />
In Deutschland, wo die bereits seit Mitte des 19.&nbsp;Jahrhunderts bekannte Verschmelzung zunächst noch getrennt für die einzelnen Rechtsformen im AktG, GenG, KapErhG etc. geregelt war, wurde die Fusions-RL zunächst durch eine Anpassung der aktienrechtlichen Vorschriften zur Verschmelzung (§§&nbsp;339–393 AktG a.F.) umgesetzt. Eine wichtige Änderung brachte das UmwG 1994, welches die verstreuten Regelungen – und damit sowohl europäisch vorgeprägte und autonom mitgliedstaatliche Regelungen – erstmals systematisch zusammengefasst, vervollständigt und um neue Umwandlungsmöglichkeiten erweitert hat. Umwandlungsvorgänge wie die Verschmelzung oder der Formwechsel, die bis dahin Kapitalgesellschaften vorbehalten waren, wurden für alle Gesellschaftsformen geöffnet. Die Möglichkeit einer Spaltung wurde neu ins deutsche Recht eingeführt. Das Umwandlungsverfahren ist mit Modifikationen auch über den persönlichen Anwendungsbereich der europäischen Richtlinien hinaus an die dort vorgegebene Grundstruktur angelehnt. Über die Richtlinienvorgaben hinaus geht das Austrittsrecht dissentierender Anteilsinhaber, denen das UmwG bei der Verschmelzung in andere Rechtsformen, der Spaltung auf einen Rechtsträger anderer Rechtsform und beim Formwechsel das Recht einräumt, gegen Abfindung aus der Gesellschaft auszuscheiden. Das Abfindungsangebot muss bereits im Verschmelzungsvertrag bzw. Spaltungsvertrag oder &#8209;plan enthalten sein. Die Angemessenheit der Abfindung unterliegt der gerichtlichen Nachprüfung im Spruchverfahren.<br />
<br />
Auch hinsichtlich der Konzeption des Gläubigerschutzes bleiben zwischen den Mitgliedstaaten erhebliche Unterschiede bestehen. Die Fusions-RL verlangt von den Mitgliedstaaten als Mindestschutz einen Anspruch auf Einräumung von Sicherheiten (Art.&nbsp;13). An diesem Modell orientiert sich auch das deutsche Recht. Der Gläubigerschutz wird ergänzt durch eine Schadensersatzhaftung der Organe der übertragenden Rechtsträger auch gegenüber den Gläubigern (§&nbsp;25 UmwG). Bei der Spaltung, die zu einer Aufteilung der den Gläubigern ursprünglich zur Verfügung stehenden Haftungsmasse führt, sieht das deutsche Recht in Übereinstimmung mit einer von der Spaltungs-RL ausdrücklich akzeptierten Option eine gesamtschuldnerische Haftung der beteiligten Rechtsträger vor. Andere Rechtsordnungen (z.B. Großbritannien, Frankreich) räumen den Gläubigern bei Umwandlungen weitergehend ein Vetorecht ein. Durch die europäischen Richtlinien nicht vorgegeben ist ferner, zu welchem Zeitpunkt eine Umwandlung wirksam wird. In Deutschland ist dies der Zeitpunkt der Eintragung ins Handelsregister. Frankreich stellt demgegenüber jedenfalls bei der Verschmelzung durch Aufnahme auf den Zeitpunkt des letzten Hauptversammlungsbeschlusses ab.<br />
<br />
Der Schutz der Arbeitnehmerinteressen im Rahmen von Umwandlungen wird zwar durch europäisches Recht beeinflusst (siehe u.a. RL 2001/23 vom 12.3.2001 – Betriebsübergangs-RL), ist jedoch in der Fusions- und Spaltungsrichtline nicht vollständig harmonisiert. Das deutsche UmwG enthält in den §§&nbsp;321&nbsp;ff. einschlägige Regelungen.<br />
<br />
In Deutschland ist das UmwG mit seinem Versuch, einen rechtsformübergreifenden Rahmen für das Recht von Unternehmensumwandlungen zu schaffen und dabei konsistente Lösungen für den Schutz der Interessen von Anteilsinhabern und Gläubigern zu konzipieren, zum Ausgangspunkt weiterreichender Überlegungen geworden. So ist insb. die Frage aufgeworfen worden, ob sich das UmwG als „Allgemeiner Teil“ eines Rechts der Umstrukturierung von Unternehmen lesen lässt und seine Regelungen auf Strukturmaßnahmen außerhalb des Anwendungsbereichs des UmwG, die zu wirtschaftlich vergleichbaren Ergebnissen führen, entsprechend anzuwenden sind (sog. „Ausstrahlungswirkung des UmwG“). Dies wird von einer starken Meinung im gesellschaftsrechtlichen Schrifttum bejaht. Die Rspr. ist dem bislang nur teilweise gefolgt.<br />
<br />
== 3. Neuere Entwicklung im Recht der Unternehmensumstrukturierung auf Gemeinschaftsebene ==<br />
Die Fusions- und die Spaltungs-RL gewährleisteten noch nicht die Möglichkeit einer grenzüberschreitenden Umstrukturierung von Unternehmen. Art.&nbsp;220 EWG-Vertrag in seiner ursprünglichen, später geänderten Fassung behielt die Regelung dieser Frage einem völkerrechtlichen Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten vor. Die späteren Bemühungen der Kommission um eine Einbeziehung in die gesellschaftsrechtlichen Richtlinien hatten zunächst keinen Erfolg, zumal die Angleichung der nationalen Gesellschaftsrechtsordnungen nach 1989 zunehmend auf Widerstände stieß.<br />
<br />
Entscheidende Anstöße für das europäische Recht der Unternehmensumstrukturierung gingen von der Rspr. des [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] zur [[Niederlassungsfreiheit]] aus. In ''SEVIC'' (EuGH, Rs.&nbsp;C-411/03, Slg. 2005, I-10805) stellte der EuGH die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der auf §&nbsp;1 UmwG a.F. beruhenden deutschen Praxis fest, die Möglichkeit von Verschmelzungen generell auf Gesellschaften mit Sitz im Inland zu beschränken und bei grenzüberschreitenden Verschmelzungen die Eintragung ins nationale Handelsregister ohne weitere Prüfung abzulehnen. Der EuGH sah hierin eine nicht zu rechtfertigende Beschränkung der Niederlassungsfreiheit (Art.&nbsp;43, 48 EG/49, 54 AEUV), die es den Mitgliedstaaten gebietet, die tatsächliche Teilnahme von Gesellschaften mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat am Wirtschaftsleben des Gaststaates unter denselben Bedingungen gestatten, die für die inländischen Wirtschaftsbeteiligten gelten (Rn.&nbsp;18). Zu den Bedingungen der Teilnahme am Wirtschaftsleben zählen auch grenzüberschreitende Verschmelzungen, da sie den Zusammenarbeits- und Umgestaltungsbedürfnissen von Gesellschaften mit Sitz in verschiedenen Mitgliedstaaten entsprechen und für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes wichtige Modalitäten darstellen (Rn.&nbsp;19). Wenn das Recht eines Mitgliedstaates die Möglichkeit von Verschmelzungen auf innerstaatliche Vorgänge beschränkt, liegt darin eine diskriminierende Behandlung, die nur dann aufrechterhalten werden darf, wenn sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist (Rn.&nbsp;22). Eine pauschale Berufung auf den Schutz der Interessen von Gläubigern, Minderheitsgesellschaftern und Arbeitnehmern ohne eine konkrete Prüfung, ob die schutzwürdigen Interessen tatsächlich bedroht, genüge den gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an eine Rechtfertigung nicht.<br />
<br />
''Sevic'' gab den letzten Anstoß zur Billigung der RL&nbsp;2005/56 über die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten vom 26.10.2005 (Verschmelzungs-RL) durch die Mitgliedstaaten. Die Richtlinie regelt die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften, sofern mindestens zwei der beteiligten Gesellschaften dem Recht verschiedener Mitgliedstaaten unterliegen. Im Unterschied zur Fusions-RL ist der Anwendungsbereich der Verschmelzungs-RL nicht auf Aktiengesellschaften beschränkt. Vielmehr müssen die Mitgliedstaaten auch anderen Kapitalgesellschaften die Beteiligung an grenzüberschreitenden Verschmelzungen in dem Umfang gestatten, in welchem diesen eine innerstaatliche Verschmelzung offensteht (Diskriminierungsverbot) (Art.&nbsp;1, Art.&nbsp;4). Das Verschmelzungsverfahren (Verschmelzungsplan/Verschmelzungsbericht/unabhängige Prüfung/Gesellschafterbeschluss, Art.&nbsp;5-Art.&nbsp;9) ist weitgehend der Fusions-RL und den Art.&nbsp;17&nbsp;ff. SE-VO (VO&nbsp;2157/2001) nachgebildet, welche Aktiengesellschaften bereits zuvor die Möglichkeit einer grenzüberschreitenden Verschmelzung zu einer [[Europäische Aktiengesellschaft (Societas Europaea)|Europäischen Aktiengesellschaft]] (SE) eröffnet hat (Art.&nbsp;2(1), Art.&nbsp;17&nbsp;ff. SE-VO). <br />
<br />
Wie zuvor bereits die Fusions- und die Spaltungs-RL, so verweist auch die Verschmelzungs-RL in wichtigen Punkten – etwa hinsichtlich der erforderlichen Beschlussmehrheiten in den beteiligten Gesellschaft und hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung des Gesellschafter-, Gläubiger- und Arbeitnehmerschutzes auf mitgliedstaatliches Recht. Neben dem Verschmelzungsverfahren regelt die Verschmelzungs-RL vor allem, welches Recht für die Prüfung der Rechtmäßigkeit eines Verschmelzungsvorgangs maßgeblich ist. Zu unterscheiden ist insoweit zwischen der Rechtsmäßigkeit der Verschmelzungsbeschlüsse der beteiligten Gesellschaften, die nach dem auf die jeweilige Gesellschaft anwendbaren mitgliedstaatlichen Recht und durch die dortigen Gerichte oder Behörden zu prüfen ist (Art.&nbsp;10), und der Kontrolle der Durchführung der Verschmelzung, welche durch denjenigen Mitgliedstaat erfolgt, dessen Recht die aus der Verschmelzung hervorgehende Gesellschaft unterliegt (Art.&nbsp;11). Der Zeitpunkt des Wirksamwerdens der grenzüberschreitenden Verschmelzung richtet sich nach dem Recht des Sitzstaates der aufnehmenden Gesellschaft (Art. 12).<br />
<br />
Die Grundsätze, welche bei der Bewertung der Unternehmen und der auf dieser basierenden Festlegung der Verschmelzungswertrelation und des Umtauschverhältnisses anwendbar sind, werden in der Richtlinie nicht gesondert geregelt. Sie richten sich nach dem jeweils auf die beteiligten Verschmelzungspartner anwendbaren mitgliedstaatlichen Recht. Dies kann dazu führen, dass in einem wirtschaftlichen und rechtlichen Kernaspekt grenzüberschreitender Verschmelzungen teilweise divergierende mitgliedstaatliche Grundsätze aufeinandertreffen. Die Wirksamkeit der Transaktion hängt jedoch davon ab, dass die Verschmelzungswertrelation im Ergebnis den rechtlichen Anforderungen aller beteiligten Rechtsordnungen genügt. Die fehlende Harmonisierung in diesem Punkt kann in der Praxis Schwierigkeiten bereiten und stellt die Transaktionspraxis vor die Herausforderung, einen gemeinsamen Bewertungsstandard für grenzüberschreitende Verschmelzungen zu entwickeln.<br />
<br />
Durch die neuere Rspr. des EuGH zur Niederlassungsfreiheit haben ferner auch die seit langem existierenden Pläne der Kommission zur Verabschiedung einer Sitzverlegungsrichtlinie neuen Auftrieb erlangt, die über die im Rahmen des SE-Statuts und der Verschmelzungs-RL bereits bestehenden Möglichkeiten hinaus eine rechtsformwechselnde Sitzverlegung über die Grenze ermöglichen soll (siehe zuletzt ''Commission Staff Working Paper'' vom 12.12.2007: ''Impact Assessment on the Directive on cross-border transfer of registered office'', SEC(2007) 1707).<br />
<br />
Von großer praktischer Bedeutung sind die steuerrechtlichen Implikationen grenzüberschreitender Umstrukturierungen. Die steuerliche Behandlung grenzüberschreitender Zusammenschlüsse und Spaltungen im weiten, wirtschaftlichen Sinne – d.h. in all jenen Konstellationen, in denen ein Unternehmen oder Unternehmensteil unter bloßem Austausch der Anteile und ohne Auszahlung liquider Mittel an die veräußernden Anteilsinhaber erfolgt – ist Gegenstand der Fusionsbesteuerungs-RL (RL&nbsp;90/434) vom 23.7.1990. Die Richtlinie untersagt grundsätzlich eine Besteuerung von (tatsächlich weder bei den Gesellschaften noch den Anteilsinhabern in realisierbarer Weise anfallenden) Gewinnen aus einer grenzüberschreitenden Transaktion, etwa die Besteuerung von im Rahmen der Umstrukturierung aufgedeckten stillen Reserven. Eine solche Besteuerung würde in der Praxis häufig dazu führen, dass die grenzüberschreitende Transaktion unterbleibt. Die Richtlinie soll bewirken, dass die Besteuerung bis zur tatsächlichen Realisierung der Gewinne aufgeschoben wird. Die Fusionsbesteuerungs-RL ist allerdings in einigen Mitgliedstaaten bislang nur ungenügend umgesetzt. Vor diesem Hintergrund erlangt auch hier die auf die Grundfreiheiten ([[Grundfreiheiten (allgemeine Grundsätze)|Grundfreiheiten]] (allgemeine Grundsätze) gestützte Rspr. des EuGH zur Besteuerung grenzüberschreitender Unternehmensumstrukturierungen besondere Relevanz.<br />
<br />
== 4. Rückwirkungen auf mitgliedstaatliches Recht ==<br />
Die Verschmelzungs-RL war bis zum Dezember 2007 in mitgliedstaatliches Recht umzusetzen. Dies ist in Deutschland mit der Einfügung eines eigenen Abschnitts über die grenzüberschreitende Verschmelzung von Kapitalgesellschaften in das UmwG geschehen (siehe §§&nbsp;122a&nbsp;ff. UmwG). Eine grenzüberschreitende Verschmelzung von Personengesellschaften ist nicht vorgesehen, wenngleich ihre Zulassung auf der Grundlage des in ''SEVIC ''statuierten Diskriminierungsverbots gemeinschaftsrechtlich geboten erscheint. Die §§&nbsp;122a&nbsp;ff. UmwG knüpfen im Grundsatz an das Recht der inländischen Verschmelzung an, weisen jedoch einige Besonderheiten auf. Bedeutsam sind insb. die Sonderregelungen zum Schutz der Interessen von Minderheitsgesellschaftern und Gläubigern, die bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung in besonderer Weise berührt sein können. So sieht §&nbsp;122i UmwG einen Anspruch dissentierender Anteilsinhaber auf eine angemessene Barabfindung vor, wenn die Verschmelzung zu einem Wegzug aus Deutschland führt. Kein Anteilsinhaber soll gezwungen werden, die mit einem Wechsel in eine ausländische Rechtsform verbundene Änderung seiner Rechte und Pflichten hinzunehmen. Das den Gläubigern bei Inlandsverschmelzungen gemäß §&nbsp;22 UmwG zustehende Recht auf Sicherheitsleistung in Bezug auf potentiell gefährdete Forderungen wird bei grenzüberschreitenden Verschmelzungen durch §&nbsp;122j UmwG vorverlagert.<br />
<br />
Die deutschen Sonder-Schutzbestimmungen für grenzüberschreitende Verschmelzungen verweisen auf die Besonderheiten der Interessenlage, die bei derartigen Unternehmenstransaktionen nach wie vor besteht. Unter welchen Voraussetzungen diese Besonderheiten eine Ungleichbehandlung inländischer und grenzüberschreitender Transaktionen bzw. eine Beschränkung der Grundfreiheiten rechtfertigen, ist in der Rspr. des EuGH bislang nicht abschließend geklärt. Die Entwicklung gemeinschaftsweit einheitlicher gesellschaftsrechtlicher Schutzstandards für Anteilsinhaber, Minderheitsgesellschafter, Gläubiger und Arbeitnehmer ist bislang nur punktuell gelungen, bleibt aber gerade im Lichte der neueren Rspr. des EuGH eine Herausforderung.<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Alfred F. Conard'', Fundamental changes in marketable share companies, in: IECL XIII/2, Kap.&nbsp;6, 1969; ''Peter Hommelhoff'', ''Karl Riesenhuber'','' ''Strukturmaßnahmen, insbesondere Verschmelzung und Spaltung im Europäischen und deutschen Gesellschaftsrecht, in: Stefan Grundmann (Hg.), Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, 2000, 261&nbsp;ff.; ''Jens Petersen'', Der Gläubigerschutz im Umwandlungsrecht, 2001; ''York Schnorbus'', Gestaltungsfreiheit im Umwandlungsrecht, 2001; ''Karsten Schmidt'','' ''Integrationswirkung des Umwandlungsgesetzes, in: Festschrift für Peter Ulmer, 2003, 557&nbsp;ff.; ''Stefan Grundmann'', Europäisches Gesellschaftsrecht, 2004, §§&nbsp;25, 26; ''Harald Kallmeyer'', Umwandlungsgesetz, 3.&nbsp;Aufl. 2005; ''Roger Kiem'', Die Ermittlung der Verschmelzungswertrelation bei der grenzüberschreitenden Verschmelzung, Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht 2007, 542&nbsp;ff.; ''Maria Doralt'','' ''Cross-Border Mergers, European Company and Financial Law Review 2007, 17&nbsp;ff.; ''Barbara Dauner-Lieb'', ''Stefan Simon'', Kölner Kommentar zum UmwG, 2008; ''Marcus Lutter'','' Martin Winter ''(Hg.), UmwG, Bd.&nbsp;2, 4.&nbsp;Aufl. 2008; ''Marieke Wyckaert'','' Koen Geens'', Cross-border mergers and minority protection. An open-ended harmonization, Utrecht Law Review 4 (2008) 40&nbsp;ff.<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Company_Transformations,_Corporate_Divisions,_Mergers]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Gesellschaftsrecht,_internationales&diff=1701Gesellschaftsrecht, internationales2021-09-08T10:35:36Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Jan von Hein]]''<br />
== 1. Einleitung ==<br />
<br />
Das Internationale Gesellschaftsrecht steht seit je vor der Grundfrage, ob die Rechtsverhältnisse einer juristischen Person sich grundsätzlich nach dem Ort ihrer Inkorporation (Gründungstheorie) oder nach dem Recht ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes beurteilen (Sitztheorie). Während die Rechtsordnungen des ''[[common law]] '' traditionell der Gründungstheorie folgen, bevorzugte die Mehrzahl der kontinentaleuropäischen Staaten (Deutschland, Frankreich; anders aber die Schweiz, Dänemark und in den Niederlanden) die Anknüpfung an den Verwaltungssitz. Unter dem Druck der Rechtsprechung des [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] sahen sich jedoch auch die kontinentaleuropäischen Mitgliedstaaten der EU und des EWR-Abkommens in jüngerer Zeit überwiegend gezwungen, zur Gründungstheorie überzugehen. Trotz der zunehmenden Europäisierung des IPR fehlt es bislang an einem allgemeinen Rechtsakt zur Anknüpfung des Gesellschaftsstatuts. Lediglich in sektoriell begrenzten Richtlinien (Verschmelzungs-RL [RL&nbsp;2005/56]) sowie in den Verordnungen über supranationale Rechtsformen (SE-VO [VO&nbsp;2157/2001]) finden sich verstreute Regelungen zu Einzelfragen.<br />
<br />
== 2. Sitztheorie ==<br />
<br />
Der Streit zwischen Sitz- und Gründungstheorie konkretisiert den allgemeinen dogmatischen Konflikt zwischen Parteiautonomie, die für die Gründungstheorie durch die freie Wahl des Inkorporationsortes prägend ist, und dem Schutz Dritter, der bei der Sitztheorie im Vordergrund steht. Die Anknüpfung an den tatsächlichen Sitz der Hauptverwaltung erlaubt es, inländisches [[Gesellschaftsrecht]] auf sog. Briefkastenfirmen anzuwenden. Fallen somit Satzungs- und Verwaltungssitz auseinander, wurde dies bei Zuzug von Kapitalgesellschaften wegen der fehlenden Registereintragung herkömmlich mit dem Verlust der Rechtsfähigkeit bestraft. In neuerer Zeit wurde diese harte Rechtsfolge unter Einfluss der EuGH-Rechtsprechung (s.&nbsp;unter 3.) dahingehend abgemildert, dass eine ausländische Kapitalgesellschaft mit Verwaltungssitz im Inland zu einer rechts- und parteifähigen Personengesellschaft umqualifiziert wurde (BGH 1.7.2002, BGHZ 151, 204). Der von dieser Modifikation unberührte, mit der Sitzverlegung verbundene Fortfall des Haftungsprivilegs schränkte jedoch weiterhin die [[Niederlassungsfreiheit]] juristischer Personen erheblich ein. Entsprechend gibt der Herkunftsstaat bei einem Wegzug von Gesellschaften unter Beibehaltung des statuarischen Sitzes seinen Regelungsanspruch auf, es sei denn der neue Staat folgt der Gründungstheorie und verweist dadurch auf die Rechtsordnung des Herkunftsstaates zurück. Neben der kollisionsrechtlichen Ebene ist bei einem Wegzug aber zugleich das materielle Gesellschaftsrecht zu beachten, das möglicherweise die Verlegung des Verwaltungssitzes als Auflösungsbeschluss oder Auflösungsgrund versteht, wodurch bereits aus sachrechtlichen Gründen eine Auflösung der Gesellschaft herbeigeführt wird.<br />
<br />
Zugleich spiegelt die Auseinandersetzung die materiellrechtliche Weichenstellung zwischen einem liberalen, durch weitgehende Satzungsautonomie geprägten und einem durch zwingende Vorgaben charakterisierten Gesellschaftsrecht wider. Rechtsvergleichend zeigt sich eine Komplementarität zwischen einem liberalen Ansatz im internationalen (bzw. interlokalen) Gesellschaftsrecht einerseits, einer ergänzenden Kontrolle der Gesellschaften durch einen liquiden Kapitalmarkt und die damit einhergehende aufsichts- und börsenrechtliche Regulierung andererseits. Während z.B. die USA und England in organisationsrechtlichen Fragen herkömmlich liberal waren, setzte man in Deutschland und Frankreich auf einen prinzipiell zwingenden Schutz der Aktionäre, Gläubiger (Mindestkapital) und der Arbeitnehmer (Mitbestimmung), der kollisionsrechtlich durch die Sitztheorie gegen die Gefahren der Umgebung und Abwanderung geschützt wurde. <br />
<br />
== 3. Gründungstheorie ==<br />
<br />
Die Rechtsprechung des EuGH hat seit 1999 einen Übergang zur Gründungstheorie erzwungen (EuGH Rs.&nbsp;C-212/97 – ''Centros'','' ''Slg.&nbsp;1999, I-1459; Rs.&nbsp;C-208/00 – ''Überseering'', Slg.&nbsp;2002, I-9919; Rs.&nbsp;C-167/01 – ''Inspire Art'','' ''Slg.&nbsp;2003, I-10159). Die Umgehung von Mindestkapitalvorschriften des Sitzstaates hat der EuGH nicht als rechtsmissbräuchlich, sondern als Verwirklichung der durch Art.&nbsp;43, 48 EG/54, 56&nbsp;AEUV garantierten Niederlassungsfreiheit eingestuft (''Centros''). Eine Kapitalgesellschaft ist auch im Falle einer Sitzverlegung in der Rechtsform anzuerkennen, die sie nach dem Gründungsrecht gewählt hat; eine Umdeutung in eine rechtsfähige Personengesellschaft ist unzulässig (''Überseering''). Eine Sonderanknüpfung zwingender Vorschriften zum Schutz der Minderheitsgesellschafter, Gläubiger und Aktionäre wird vom EuGH zwar im Einzelfall nicht schlechthin ausgeschlossen; flächendeckende Abwehrgesetze gegen „pseudo-ausländische“ Gesellschaften sind jedoch mit der Niederlassungsfreiheit unvereinbar (''Inspire Art''). <br />
<br />
Da diese Urteile lediglich den Zuzug von Gesellschaften betrafen, muss die Verlegung des Verwaltungssitzes in das Ausland von den bislang behandelten Sachverhalten unterschieden werden. Die Rechtsprechung des EuGH sieht in Beschränkungen des rechtsformwahrenden Wegzugs keine Verletzung der Niederlassungsfreiheit. Stattdessen sei es den Gründungsstaaten selbst überlassen, die für die Rechtsfähigkeit erforderliche Verknüpfung der Gesellschaft mit dem jeweiligen Staat zu bestimmen (EuGH Rs.&nbsp;C-210/06 – ''Cartesio'', NJW 2009, 569; EuGH Rs.&nbsp;81/87'' – Daily Mail'', Slg. 1988, 5483). Mit dieser Begründung aus der Entscheidung ''Cartesio'' lehnt sich der EuGH erneut – entgegen dem Schlussantrag des Generalanwalts und Erwartungen von Praxis und Literatur – an die zwanzig Jahre zuvor ergangene Entscheidung ''Daily Mail ''an ([[Niederlassungsfreiheit]]).<br />
<br />
Unter dem Einfluss der europarechtlichen Vorgaben hat der BGH – zumindest für in der EG gegründete Gesellschaften – die Sitztheorie zugunsten der Gründungstheorie aufgegeben (BGH 14.3.2005, ZIP 2005, 805), ähnlich geht der österreichische Oberste Gerichtshof vor (OGH 15.7.1999, GesRZ 1999, 248). Wann diese auch im Sinne des vom Bundesjustizministerium vorgelegten Referentenentwurfs zum Internationalen Gesellschaftsrecht (Art.&nbsp;10 I EGBGB u.F.) kodifiziert wird, ist noch offen. Seit ''Cartesio'' besteht erneut Unsicherheit, ob die Gründungstheorie auch auf den Wegzug anzuwenden ist. Zumindest sind seit dem Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen vom 23.10.2008 (MoMiG) die bisherigen materiellrechtlichen Schranken beseitigt. Wurde §&nbsp;4a Abs.&nbsp;2 GmbHG a.F. und §&nbsp;5 Abs.&nbsp;2 AktG a.F. entnommen, dass der Beschluss über die Verlegung des Verwaltungssitzes in das Ausland die Auflösung der Gesellschaft nach sich zieht, hat die Streichung der Normen inländischen Gesellschaften zur Mobilität durch freie Wahl des Verwaltungssitzes verholfen. <br />
<br />
Auch das spanische Recht löst grenzüberschreitende Sachverhalte wohl im Sinne der Gründungstheorie; in Italien und Frankreich wird dies von einigen Autoren befürwortet. Hingegen beruht das 2004 kodifizierte belgische Internationale Gesellschaftsrecht nach wie vor auf der Sitztheorie (Art&nbsp;110 IPRG); dennoch soll der Wechsel des Verwaltungssitzes zulässig sein und das Gesetz so mit dem EG-Vertrag im Einklang stehen. Angesichts der immer noch bestehenden Unterschiede und Unklarheiten hat der Deutsche Rat für Internationales Privatrecht einen Vorschlag zur einheitlichen Einführung der Gründungstheorie auf europäischer Ebene ausgearbeitet.<br />
<br />
== 4. Auswirkungen auf Drittstaaten ==<br />
<br />
Der Übergang zur Gründungstheorie wirkt sich auch auf Gesellschaften aus Vertragsstaaten des EWR aus, die ebenso wie Gesellschaften aus Mitgliedstaaten der EU zu behandeln sind (BGH 19.9.2005, BGHZ 164, 148 betr. Liechtenstein). Ebenso gilt die Gründungstheorie kraft bilateraler Abkommen mit wichtigen Handelspartnern, insbesondere den USA (BGH 29.1.2003, BGHZ 153, 353 zu Art.&nbsp;XXV(5) des deutsch-amerikanischen Freundschaftsvertrages). In Bezug auf Drittstaaten wie z.B. die Schweiz folgt der BGH hingegen weiterhin der Sitztheorie (BGH 27.10.2008 – Trabrennbahn, IPRax 2009, 259). Im Gegensatz dazu sieht der vom Bundesjustizministerium vorgelegte Referentenentwurf zum Internationalen Gesellschaftsrecht sieht eine umfassende Modifikation der Gründungstheorie auch im Verhältnis zu Drittstaaten vor (siehe dessen Fassung von Art.&nbsp;10 Abs.&nbsp;1 EGBGB).<br />
<br />
== 5. Anwendungsbereich des Gesellschaftsstatuts ==<br />
<br />
Der Übergang zur Gründungstheorie wirft die Frage auf, ob auch Vorschriften zum Schutz Dritter der Disposition der Gesellschaftsgründer unterliegen oder ob insoweit andere Kollisionsnormen das anwendbare Recht bestimmen. Die – nach geltendem Recht rechtsformbezogene – unternehmerische [[Mitbestimmung]] der Arbeitnehmer bildet nach h.M. einen Teil des Gesellschaftsstatuts; nach a.A. handelt es sich hierbei um international zwingendes Recht bzw. einen Teil des deutschen ''[[ordre public]]''. Insbesondere ist derzeit die Frage der Qualifikation gläubigerschützender Institute umstritten. Während der BGH z.B. die persönliche Handelndenhaftung analog §&nbsp;11 Abs.&nbsp;2 GmbHG als gesellschaftsrechtlich qualifiziert hat (BGH 14.3.2005, NZG 2005, 508), wird für die Insolvenzverschleppungshaftung (§&nbsp;64 Abs.&nbsp;1 GmbHG) auch eine insolvenzrechtliche Qualifikation befürwortet. Für die auf der Grundlage des §&nbsp;826 BGB entwickelte Existenzvernichtungshaftung (BGH 16.7. 2007, BGHZ 173, 246 – ''Trihotel'') werden Vorschläge zu einer gesellschafts-, delikts- oder insolvenzrechtlichen Qualifikation diskutiert. Ob eine nicht abschließende Aufzählung, wie sie der deutsche Referentenentwurf zum Internationalen Gesellschaftsrecht und das belgisches IPRG nach schweizerischem Vorbild vorsehen, derartige Zuordnungsschwierigkeiten ausräumen kann, ist zweifelhaft.<br />
<br />
== 6. Grenzüberschreitende Umwandlungen ==<br />
<br />
Die europaweite Verwaltungssitzverlegung ermöglicht die Wahl des Staates der Haupttätigkeit. Mobilität der Gesellschaften sollte aber ferner die Wahl eines übertragenden bzw. übernehmenden Rechtsträgers oder den Wechsel der Rechtsform im Rahmen von Umstrukturierungsmaßnahmen miteinschließen. Solche können effizient durch grenzüberschreitende Umwandlungen verwirklicht werden, bei denen rechtstechnisch durch Gesamtrechtsnachfolge und Identität der Rechtsträger Auflösung, Neugründung und Einzelübertragungen vermieden werden.<br />
<br />
Für grenzüberschreitende Verschmelzungen gilt die sogenannte Kummulationslehre, d.h. jede der beteiligten Rechtsordnungen muss die Umwandlung zulassen und die einzelnen Sachvorschriften richten sich nach dem Statut jeder beteiligten Gesellschaft (vgl. Art.&nbsp;4(1) Verschmelzungs-RL, Art.&nbsp;10 Abs.&nbsp;2 des Referentenentwurfs, Art.&nbsp;113 belgisches IPRG). Während in Frankreich der Art.&nbsp;L.&nbsp;236-1&nbsp;ff. ''Code de commerce'' diese seit längerem anerkennt und der österreichische Oberste Gerichtshof die Verschmelzung bereits 2003 ermöglichte (OGH 20.3.2003, GesRZ 2003, 161), war sie in Deutschland lange nicht zugelassen. Nun regelt die Verschmelzungs-RL, die in den §§&nbsp;122&nbsp;a-122&nbsp;l UmwG umgesetzt wurde ([[Umwandlung/Spaltung/Verschmelzung]]) europaweit Näheres. Durch die Entscheidung ''Sevic ''(EuGH, Rs.&nbsp;C-411/03,'' ''Slg.'' ''2005, I-10805) in der der Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit auch auf Verschmelzungen ausgedehnt wurde, ist diese Richtlinie allerdings hinsichtlich ihrer Beschränkung auf Kapitalgesellschaften bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist überholt.<br />
<br />
Anders als bei der Verschmelzung fehlen für die Satzungssitzverlegung gemeinschaftsrechtliche Vorgaben und solche sind, seitdem die Kommission Ende 2007 die Arbeit an der 14.&nbsp;Gesellschaftsrechtlichen Richtlinie auf Grundlage einer offiziellen Folgenabschätzung eingestellt hat, wohl auch nicht mehr zu erwarten.<br />
<br />
== 7. Ausblick ==<br />
<br />
Angesichts des primärrechtlich induzierten Übergangs zur Gründungstheorie zumindest in Zuzugsfällen wäre es wünschenswert, wenn die Grundanknüpfung des Internationalen Gesellschaftsrechts sowie die mit der Bestimmung des Anwendungsbereichs des Gesellschaftsstatuts verbundenen Folgeprobleme gemeinschaftsrechtlich geregelt werden könnten. Dazu scheint aber gegenwärtig der politische Gestaltungswille zu fehlen.<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Eva-Maria Kieninger'', Internationales Gesellschaftsrecht nach „Centros“, „Überseering“ und „Inspire Art“, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 12 (2004) 685&nbsp;ff.; ''Christian Kersting'', Corporate Choice of law, Brooklyn Journal of International Law 28 (2002) 1&nbsp;ff.; ''Daniel Zimmer'', Ein Internationales Gesellschaftsrecht für Europa, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 67 (2003) 298&nbsp;ff.; ''Robert Drury'', The „Delaware syndrome“, Journal of Business Law (2005) 709&nbsp;ff.; ''Christoph Teichmann'', Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, 2006; Hans-Georg Koppensteiner, Zur grenzüberschreitenden Verschmelzung, Der Gesellschafter 2006, 111&nbsp;ff.; ''Wolfgang Schön'', The Mobility of Companies in Europe and the Organizational Freedom of Company Founders, European Company and Financial Law Review (2006) 122&nbsp;ff.; ''Hans Jürgen Sonnenberger'' (Hg.), Vorschläge und Berichte zur Reform des europäischen und deutschen internationalen Gesellschaftsrechts, 2007; ''Sergio M. Carbone'', Lex Mercatus e lex societatis tra principi di diritto internazionale privato e disciplina di mercati finanziari, Rivista di diritto internazionale privato e processuale 43 (2007) 27&nbsp;ff.; ''Peter Kindler'', Internationales Gesellschaftsrecht 2009: MoMiG, Trabrennbahn, Cartesio und die Folgen, IPRax 2009, 189&nbsp;ff.; ''Marc-Philippe Weller'', Die Rechtsquellendogmatik des Gesellschaftskollisionsrechts, Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts 2009, 202&nbsp;ff.<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Company_Law_(International)]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Rechtsdurchsetzung_im_Gesellschaftsrecht&diff=1699Rechtsdurchsetzung im Gesellschaftsrecht2021-09-08T10:35:02Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Heribert Hirte]]''<br />
<br />
Das Gesellschaftsrecht als das Recht der privaten Zweckverbände ist hinsichtlich der Problematik der Rechtsdurchsetzung von einem Dualismus der Durchsetzung durch die Verbandsorgane und durch dessen Mitglieder geprägt (siehe&nbsp;1.). Dazu treten noch die Interessen der Öffentlichkeit an einer Rechtsdurchsetzung, die durch umfangreiche (zusätzliche) staatliche Durchsetzungsmechanismen verwirklicht werden (siehe&nbsp;2.).<br />
<br />
== 1. Private Rechtsdurchsetzung ==<br />
Das Gesellschaftsrecht wird von mehrseitigen Rechtsbeziehungen geprägt. Dabei geht es neben der Durchsetzung durch die Verbandsorgane (siehe a) vor allem auch um eine Rechtsdurchsetzung durch die Verbandsmitglieder (siehe b).<br />
<br />
=== a) Rechtsdurchsetzung durch Verbandsorgane ===<br />
Die Rechtsdurchsetzung durch die Verbandsorgane findet sich in Form von Intraorganstreitigkeiten und Organstreitigkeiten. Während es bei Intraorganstreitigkeiten um die Durchsetzung rechtmäßigen Verhaltens gegenüber Mitgliedern desselben Organs geht, steht bei Organstreitigkeiten die Durchsetzung rechtmäßigen Verhaltens gegenüber einem anderen Organ im Vordergrund. Einen Sonderfall der Rechtsdurchsetzung durch Verbandsorgane bilden die Ausschlussklagen des Verbands gegen einzelne Verbandsmitglieder, für die im Allgemeinen ein wichtiger Grund notwendig ist.<br />
<br />
=== b) Rechtsdurchsetzung durch die Mitglieder des Verbands ===<br />
Weitaus größere Bedeutung hat allerdings die Rechtsdurchsetzung durch die Mitglieder des Verbands. Diese Rechtsdurchsetzung steht dabei in einem Spannungsverhältnis zur Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis der jeweiligen Gesellschafterorgane, die im Rahmen dieser Befugnis auf die Rechtmäßigkeit des eigenen Handelns und des Handelns des Verbands verpflichtet sind. Die Möglichkeit der Durchsetzung eines allgemeinen rechtmäßigen Handelns durch die Verbandsmitglieder ist dabei rechtsformabhängig und entsprechend unterschiedlich ausgestaltet. Während etwa die Gesellschafter einer Personengesellschaft oder einer GmbH rechtmäßiges Handeln auch klageweise durchsetzen können, besteht eine solche Möglichkeit für die Aktionäre einer Aktiengesellschaft nicht. Eine bedeutsame Ausnahme stellt in diesem Zusammenhang die Gesellschafterklage wegen Ansprüchen der Gesellschaft (''actio pro socio ''bzw.'' pro societate'') dar. In diesen Fällen kann das einzelne Verbandsmitglied trotz Bestehens einer Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis anderer Gesellschaftsorgane die Gesellschaft selbst bei der Geltendmachung ihrer Ansprüche vertreten. Die Gesellschafterklage wegen Ansprüchen der Gesellschaft ist dabei streng von Gesellschafterklagen aus eigenem Recht zu trennen, bei denen gerade nicht in die Organisationsstruktur des Verbands in Form der Zuordnung von Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnissen an bestimmte Verbandsorgane eingegriffen wird, sondern bei denen der Gesellschafter einen ihm selbst entstandenen Anspruch geltend macht, der sich nicht in einem bloßen Reflexschaden erschöpfen darf.<br />
<br />
Einer der zentralen Rechtsdurchsetzungsmechanismen für Verbandsmitglieder stellt zudem das Beschlussmängelrecht dar. Die Willensbildung der Gesellschafterversammlung wird durch das Beschlussmängelrecht dahingehend geschützt, dass jede Verletzung des Gesetzes oder der Satzung einer gerichtlichen Kontrolle unterworfen ist. Während schwere Mängel dabei zur Nichtigkeit des Beschlusses führen, ist für die übrigen Mängel die Unwirksamkeit von einer vorherigen gerichtlichen Geltendmachung abhängig. Im Rahmen des Beschlussmängelrechts nimmt dabei das Informationsrecht der Gesellschafter eine besondere Rolle ein, da das Beschlussmängelrecht der zentrale Sanktionsmechanismus für eine unvollständige oder unrichtige Information der Gesellschafter ist.<br />
<br />
=== c) Einfluss des europäischen Privatrechts ===<br />
(i)&nbsp;Harmonisierung des nationalen Gesellschaftsrechts. Trotz der umfangreichen Maßnahmen zur Harmonisierung des Gesellschaftsrechts im Binnenmarkt war der Problemkreis der Rechtsdurchsetzung davon bisher kaum betroffen. <br />
<br />
Die umfangreichste Regelung findet sich insofern in der Publizitäts-RL (RL&nbsp;68/151), die aber stärker die staatliche Rechtsdurchsetzung in Form der registerrechtlichen Kontrolle betrifft (s.u. 2.b)(i)). Weitere Regelungen betreffend die Durchsetzung mitgliedschaftlicher Rechte enthielt zudem der Vorschlag für eine Fünfte gesellschaftsrechtliche Richtlinie (Struktur-RL), die vom europäischen Gesetzgeber zwischenzeitlich allerdings aufgegeben wurde. Schließlich hat die Aktionärsrechte-RL (RL&nbsp;2007/36) erheblichen Einfluss auf die Durchsetzung mitgliedschaftlicher Rechte bei börsennotierten Gesellschaften. Dabei sind vor allem die Modalitäten der Unterrichtung von Aktionären im Vorfeld der Hauptversammlung etwa in Form der Verpflichtung der Gesellschaft zur Bereitstellung von Unterlagen zur Vorbereitung der Hauptversammlung im Internet betroffen (Art.&nbsp;4&nbsp;ff.). Darüber hinaus werden auch die Fragerechte der Aktionäre auf der Hauptversammlung und die Ausübung des Stimmrechts auf der Hauptversammlung insbesondere auch auf elektronischem Wege harmonisiert (Art.&nbsp;8&nbsp;ff.). Keine ausdrückliche Regelung enthält die Aktionärsrechte-RL allerdings hinsichtlich der Sanktionen bei einer Verletzung dieser Regelungen durch die Gesellschaft bzw. ihre Vertreter. Insofern werden weitergehende Klagerechte oder andere Formen der Rechtsdurchsetzung für die Verbandsorgane oder deren Mitglieder durch die Aktionärsrechte-RL auch nicht geschaffen.<br />
<br />
Die Harmonisierungsbemühungen des europäischen Gesetzgebers konzentrieren sich in einer Reihe von Richtlinien zunehmend auf die Verantwortlichkeit von Verwaltungs-, Leitungs- und Aufsichtsorganen von börsennotierten Gesellschaften. So normieren etwa Art.&nbsp;50c Jahresabschluss-RL (RL&nbsp;78/660) und Art.&nbsp;7 Transparenz-RL (RL&nbsp;2004/109) eine Verantwortlichkeit für die Aufstellung bzw. Veröffentlichung von Unternehmensabschlüssen.<br />
<br />
Die vor allem auf dem Gebiet des Kartellrechts (Weißbuch der Kommission „Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EU-Wettbewerbsrechts“, KOM (2008) 165 endg.) und des Verbraucherschutzrechts zunehmende Debatte über die Schaffung einer kollektiven Durchsetzungsmöglichkeit für Geschädigte sind bisher auf dem Gebiet des Europäischen Gesellschaftsrechts nicht weiter fortgeschritten. <br />
<br />
(ii)&nbsp;Supranationale Gesellschaften. Die bisherigen supranationalen Gesellschaftsformen ([[Gesellschaftsrecht]]) der [[Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung|Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV)]], der [[Europäische Aktiengesellschaft (Societas Europaea)|Europäischen Aktiengesellschaft (SE – ''Societas Europaea'']]) und der [[Europäische Genossenschaft (Societas Cooperativa Europaea)|Europäischen Genossenschaft (SCE – ''Societas Cooperativa Europaea'')]] enthalten zur Rechtsdurchsetzung durch die jeweilige Organe oder Gesellschafter kaum (eigene) Vorschriften, so dass entsprechend das nationale Recht des Sitzstaates für Fragen des Beschlussmängelrechts, der Intraorganstreitigkeiten bzw. Organstreitigkeiten<nowiki> und der Klagen der Gesellschafter zur Anwendung kommt (Art.&nbsp;2 Abs.&nbsp;1 EWIV-VO [VO&nbsp;2137/85], Art.&nbsp;9 SE-VO [VO&nbsp;2157/2001], Art.&nbsp;8 SCE-VO [VO&nbsp;1435/2003]). Auch das an sich auf eine Anwendung nationalen Rechts verzichtende Statut der </nowiki>geplanten [[Europäische Privatgesellschaft (Societas Privata Europaea)|Europäischen Privatgesellschaft]] (SPE –''Societas Privata Europaea'') enthält keine direkten Durchsetzungsmechanismen für die Organe oder die Gesellschafter. Insofern bleibt es für die Durchsetzung – die Begründung eines klagbaren Anspruchs durch das SPE-Statut vorausgesetzt – bei der Anwendung nationalen Rechts.<br />
<br />
(iii)&nbsp;Europäisches Zivilprozess- und Insolvenzrecht. Das [[Europäisches Zivilprozessrecht|europäische Zivilprozessrecht]] regelt die Fragen der Rechtsdurchsetzung im Gesellschaftsrecht nur äußerst sporadisch und meist unzureichend. So enthält die Brüssel&nbsp;I-VO (VO&nbsp;44/2001) ([[Zuständigkeit, internationale]]; [[Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen]]) zu den gesellschaftsrechtlichen Klagearten kaum Regelungen. Lediglich Art.&nbsp;22 Nr.&nbsp;2 Brüssel&nbsp;I-VO statuiert einen ausschließlichen Gerichtsstand am Sitz der Gesellschaft oder juristischen Person für Klagen betreffend die Gültigkeit, die Nichtigkeit oder die Auflösung einer Gesellschaft oder juristischen Person oder die Gültigkeit der Beschlüsse ihrer Organe. Dabei wird allerdings die Frage nach der Bestimmung des Sitzes der Gesellschaft oder juristischen Person bereits dem internationalen Privatrecht des jeweiligen Mitgliedstaates überantwortet. Abgesehen von dieser unvollständigen Zuständigkeitsregelung enthält das europäische Prozessrecht keine weiteren gesellschaftsrechtlichen Regelungen. Insofern bleibt es bei der Anwendung der allgemeinen Vorschriften, die aber aufgrund des meist bestehenden Beklagtengerichtsstandes oftmals keine Verfahrenskonzentration am Sitz der Gesellschaft bewirken und insofern eine entsprechende Rechtsdurchsetzung erschweren.<br />
<br />
Ähnlich verhält es sich auch im Rahmen des europäischen Insolvenzrechts ([[Insolvenz, grenzüberschreitende]]). Die Europäische Insolvenzverordnung (EuInsVO, VO&nbsp;1346/2000) enthält für die Insolvenz von Gesellschaften oder juristischen Personen keinerlei gesonderte Regelungen, so dass insofern die auch auf natürliche Personen geltenden Vorschriften zur Anwendung kommen. Lediglich bei der Zuständigkeit enthält Art.&nbsp;3(1)2 EuInsVO eine Sonderregelung in Form einer widerlegbaren Vermutung des Bestehens des Mittelpunkts seiner hauptsächlichen Interessen (''Center of Main Interest ''<nowiki>[COMI]</nowiki>'')'' am Satzungssitz der Gesellschaft bzw. der juristischen Person. Der EuGH hat den Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen in der ''Eurofood''-Entscheidung (EuGH Rs.&nbsp;C-341/04, Slg. 2006, I-3813) dahingehend konkretisiert, dass dafür objektive und für Dritte feststellbare Kriterien vorliegen müssen, so dass insbesondere bei Konzerntochtergesellschaften der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen nicht ohne weiteres am Sitz der Konzernmuttergesellschaft besteht.<br />
<br />
(iv) Einfluss der Grundfreiheiten. Die Grundfreiheiten sind für die Rechtsdurchsetzung von Gesellschaftsrecht durch Verbandsorgane oder Verbandsmitglieder bisher nicht von Bedeutung. Ein Bezugspunkt besteht lediglich hinsichtlich der [[Niederlassungsfreiheit]] dahingehend, dass sowohl für Verbände als auch für deren Mitglieder eine umfassende Mobilität im Binnenmarkt besteht und entsprechende Beschränkungen der Mitgliedstaaten europarechtswidrig und daher nicht anzuwenden sind. Diese Mobilität führt aufgrund der unzureichenden Regelung von gesellschaftsrechtlichen Zuständigkeiten im Europäischen Zivilprozessrecht oftmals zu einer fehlenden Konzentration der Streitigkeiten am Sitz der Gesellschaft (s.o. 1.c)(iii)).<br />
<br />
== 2. Staatliche Rechtsdurchsetzung ==<br />
Die staatliche Rechtsdurchsetzung im Gesellschaftsrecht erfolgt im Wesentlichen durch die registerrechtliche Kontrolle. Darüber hinaus erfolgt eine zunehmende Durchsetzung gesellschaftsrechtlicher Fragestellungen durch kapitalmarktrechtliche Aufsichtsbehörden ([[Kapitalmarktrecht]]). Auch der [[Abschlussprüfer]] und die staatliche Überwachung seiner Tätigkeit sowie diejenige der von ihm erstellen Abschlüsse gehören hierher <br />
<br />
=== a) Registerrechtliche Kontrolle ===<br />
Bei der registerrechtlichen Kontrolle muss zwischen deklaratorischen und konstitutiven Handelsregistereintragungen unterschieden werden. Das Registergericht prüft aber unabhängig von der Frage des konstitutiven oder deklaratorischen Charakters einer Eintragung zunächst aber immer die förmlichen und materiellen Voraussetzungen einer Eintragung (§&nbsp;12 FGG). <br />
<br />
Bei den deklaratorischen Handelsregistereintragungen besteht zwar keine unmittelbare staatliche Rechtsdurchsetzungsmöglichkeit in Form der Kontrolle durch das Registergericht, allerdings wird eine mittelbare Durchsetzungsmöglichkeit durch die Wirkungen der Registerpublizität erreicht, da sich die Eintragungsverpflichteten gegenüber dem allgemeinen Rechtsverkehr auf eine Änderung der Rechtslage erst berufen können, wenn diese auch im Handelsregister eingetragen wurde. Die zentrale staatliche Rechtsdurchsetzungsmöglichkeit stellt aber die konstitutive Handelsregistereintragung dar, da der Eintritt der Änderung der Rechtslage von einer Eintragung im Handelsregister und damit von einer vorherigen Prüfung durch das Registergericht abhängt. Vor allem im Recht der Kapitalgesellschaften spielt die Registerkontrolle bei den meisten Gründungsvorgängen und Strukturmaßnahmen eine zentrale Rolle.<br />
<br />
=== b) Einfluss des europäischen Privatrechts ===<br />
(i)&nbsp;Harmonisierung des nationalen Gesellschaftsrechts. Das Handelsregister wird vor allem durch die Publizitäts-RL adressiert. Dabei beschränkt sich die Publizitäts-RL allerdings auf die Publi-zitätswirkungen von Handelsregistereintragungen, ohne aber selbst zu regeln, in welchem Umfang die Registergerichte die einzutragenden Umstände bzw. einzureichenden Unterlagen auf ihre Richtigkeit überprüfen sollen. Auch die weiteren gesellschaftsrechtlichen Richtlinien enthalten zwar meist einen Verweis auf die Publizitäts-RL hinsichtlich des Offenlegungsverfahrens, der Maßstab der Kontrolle durch das Registergericht ist aber aufgrund einer fehlender Regelung dem nationalen Recht überlassen. So verweist etwa Art.&nbsp;25 Kapitalschutz-RL (RL&nbsp;77/91) für die Bekanntmachung einer Kapitalerhöhung lediglich auf das Verfahren nach Art.&nbsp;3 Publizitäts-RL.<br />
<br />
(ii)&nbsp;Supranationale Gesellschaften. Bei den supranationalen Gesellschaften ist eine Kontrolle durch die Registergerichte bei der Gründung der Gesellschaft – insbesondere hinsichtlich der Anwendung der Mitbestimmungsregeln bei der Europäischen Aktiengesellschaft und der Europäischen Genossenschaft – und bei ihrer (sofern zugelassen) Sitzverlegung vorgesehen (vgl. für die Europäische Aktiengesellschaft (SE – ''Societas Europaea'') Art.&nbsp;8(8) und 9, 15&nbsp;ff. SE-VO; für die Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung (EWIV) Art.&nbsp;14(2) EWIV-VO; für die Europäische Genossenschaft (SCE – ''Societas Cooperativa Europaea'') Art.&nbsp;7 Abs.&nbsp;8, 11(2), 17&nbsp;ff. SCE-VO). Das gleiche gilt auch für das Statut der geplanten Europäischen Privatgesellschaft (SPE – ''Societas Privata Europaea'') nach deren Art.&nbsp;10(4)(a). Für die übrigen Verfahren wird für die supranationalen Gesellschaftsformen auf das in der Publizitäts-RL geregelte Verfahren verwiesen.<br />
<br />
(iii)&nbsp;Europäisches Prozessrecht. Das Eintragungsverfahren bei den Handelsregistern unterfällt als öffentlich-rechtliches Verfahren nicht der Brüssel&nbsp;I-VO. Insofern bleibt es auch hinsichtlich des Zuständigkeitsrechts bei der Anwendung nationalen Rechts.<br />
<br />
Eine Besonderheit besteht zudem im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art.&nbsp;234 EG/267 AEUV. Nach der Rechtsprechung des EuGH besteht für Registergerichte kein Vorlagerecht im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art.&nbsp;234(2) EG/267(2) AEUV, da es sich bei Registergerichten nicht um Gerichte i.S.v. Art.&nbsp;234 EG, sondern vielmehr um bloße Verwaltungsbehörden handeln soll (EuGH Rs.&nbsp;C-86/00 – ''HSB-Wohnbau GmbH'', Slg. 2001, I-5353, 5360; EuGH Rs.&nbsp;C-447/00 – ''Holto Ltd''., Slg. 2002, I-735, 744). Diese Beschränkung des Vorlagerechts verhindert eine effektive Durchsetzung des Europäischen Gesellschaftsrechts, da eine Reihe von Auslegungs- und Anwendungsfragen des harmonisierten Rechts sich typischerweise im Zusammenhang mit einer registerrechtlichen Kontrolle stellen.<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Karsten Schmidt'', „Insichprozesse“ durch Leistungsklagen in der Aktiengesellschaft, Zeitschrift für den Zivilprozess 92 (1979) 212&nbsp;ff.; ''Peter Hommelhoff'', Der aktienrechtliche Organstreit. Vorüberlegungen zu den Organkompetenzen und ihrer gerichtlichen Durchsetzbarkeit, Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht 143 (1979) 288&nbsp;ff.; ''Ludwig Häsemeyer'', Der interne Rechtsschutz zwischen Organen, Organmitgliedern und Mitgliedern der Kapitalgesellschaft als Problem der Prozeßführungsbefugnis, Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht 144 (1980) 265&nbsp;ff; ''Barbara Grunewald'', Die Gesellschafterklage in der Personengesellschaft und GmbH, 1990; ''Klaus Gerd Krieger'', Aktionärsklage zur Kontrolle des Vorstands- und Aufsichtsratshandelns, Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht 163 (1999) 343&nbsp;ff.; ''Martin Schwab'', Das Prozessrecht gesellschaftsrechtlicher Streitigkeiten, 2005; ''Klaus J. Hopt'' (Hg.), Prospekt- und Kapitalmarktinformationshaftung, 2005; ''Sebastian Mock'', Die actio pro socio im internationalen Privat- und Verfahrensrecht, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 72 (2008) 264&nbsp;ff.<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Company_Law_(Enforcement)]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Gesellschaftsrecht&diff=1697Gesellschaftsrecht2021-09-08T10:34:36Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Andreas M. Fleckner]]''<br />
== 1. Funktion ==<br />
<br />
Das Gesellschaftsrecht regelt die innere und äußere Verfassung von Gesellschaften. Es hat eine ''eröffnende'' Funktion, soweit es ihre Errichtung und Organisation abweichend von den allgemeinen Regeln, insbesondere über Rechtsgeschäfte und Verträge, ermöglicht. Soweit das Gesellschaftsrecht – wie ganz überwiegend – die allgemeinen Regeln nur ergänzt oder abändert, hat es eine ''regulierende'' Funktion.<br />
<br />
Einen ersten Zugang zur funktionalen Bedeutung des Gesellschaftsrechts erhält, wer ausgehend von seiner nationalen Rechtsordnung danach fragt, ob und inwieweit das Gesellschaftsrecht gegenüber den allgemeinen Vorschriften etwas Zusätzliches eröffnet. Dies ist von Land zu Land verschieden. In einer essentiellen Frage, der Vermögensverfassung, hat das Gesellschaftsrecht überall eine ''eröffnende ''Funktion: Vertraglich lassen sich das individuelle (Privat&#8209;)Vermögen der Gesellschafter und das gemeinsame (Geschäfts&#8209;)Vermögen der Gesellschaft nicht hinreichend trennen („Prinzip beidseitiger Vermögenstrennung“).<br />
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Die Bestimmung der Funktion des Gesellschaftsrechts hat bedeutende Implikationen für seine Abgrenzung zu benachbarten Rechtsgebieten, insbesondere zum Kapitalmarktrecht und zum Insolvenzrecht.<br />
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== 2. Begriff ==<br />
<br />
Der gegenwärtige Rechts- und Wirtschaftsverkehr gebraucht den Begriff der Gesellschaft meist in einem sehr weiten Sinne als ''alle Vereinigungen des Privatrechts zur gemeinsamen Zweckverfolgung'' ''sowie'' – in Definitionen regelmäßig übergangen – ''Einpersonengesellschaften''. Hierunter fallen sowohl die Gesellschaften im engeren Sinne (''societas'', ''société'', ''partnership'') als auch die Körperschaften oder Vereine (''universitas'', ''association'', ''company/corporation''). Körperschaften sind auf überindividuelle Ziele gerichtet und deshalb vom jeweiligen Bestand ihrer Mitglieder unabhängig. Demgegenüber verfolgen Gesellschaften im engeren Sinne die gemeinsamen Interessen ihrer Gesellschafter und haben – grundsätzlich – keine von ihren Mitgliedern unabhängige Existenz. In ihrer Reinform werden Gesellschaften deshalb aufgelöst, wenn ein Gesellschafter stirbt (Inst. 3,25,5), kündigt (Inst. 3,25,4) oder insolvent wird (Inst. 3,25,7/8).<br />
<br />
Das Gesellschaftsrecht kennt eine Vielzahl unterschiedlicher Gesellschaftsformen; in der Bundesrepublik ist eine „hinreichende Vielfalt“ sogar verfassungsrechtlich (Art.&nbsp;9 Abs.&nbsp;1 GG) garantiert (BVerfG 1.3.1979, BVerfGE 50, 290, 355). Gesellschaften im engeren Sinne sind (in Deutschland) die Gesellschaft bürgerlichen Rechts, die offene Handelsgesellschaft, die Kommanditgesellschaft, die stille Gesellschaft, die [[Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung|Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung]], die Partnerschaftsgesellschaft und die Reederei. Körperschaften sind die [[Aktiengesellschaft]], die [[Europäische Aktiengesellschaft (Societas Europaea)|Europäische Aktiengesellschaft]], die Kommanditgesellschaft auf Aktien, die eingetragene Genossenschaft, die [[Europäische Genossenschaft (Societas Cooperativa Europaea)|Europäische Genossenschaft]], der Verein und der Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit. Die [[Gesellschaft mit beschränkter Haftung]] lässt sich weder nach ihrer typisierenden Regelung im Gesetz noch ihrer heterogenen Ausgestaltung in der Praxis einer dieser Kategorien zuordnen; sie ist historisch als Mischform konzipiert und hat diesen Charakter bis heute behalten.<br />
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== 3. Geschichte ==<br />
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Bereits der ''Codex Hammurabi'' (18.&nbsp;Jahrhundert v.&nbsp;Chr.) enthielt Vorschriften über die arbeitsteilige Verfolgung wirtschaftlicher Zwecke (§§&nbsp;77+f, 100-107). Am weitesten ausdifferenziert unter den antiken Rechten und gemeinsame Grundlage des modernen europäischen Gesellschaftsrechts ist das römische Sozietätsrecht, das ''ius societatis''. Sowohl die Institutionen des ''Gaius'' (Gai. Inst. 3,148-3,154b) und ''Justinians'' (Inst. 3,25) als auch die Digesten (Dig. 17,2) und der ''Codex Iustinianus'' (Cod. Iust. 4,37) behandeln die ''societas'' in einem eigenen Abschnitt. Eine zweite Grundlage des modernen Gesellschaftsrechts sind die germanischen Rechte und Praktiken des Mittelalters (bekannt, aber unklar Sachsenspiegel, Landrecht, I&nbsp;12: „andere lude er gut to samene hebbet“). Mit der [[Rezeption]] des [[römisches Recht|römischen Recht]]s vermischten sich die germanischen und die römischen Regeln und vereinigten sich – jedenfalls lokal (exemplarisch Frankfurter Reformation von 1578, Teil&nbsp;II, Tit.&nbsp;XXIII) – zu einem weitgehend homogenen Ganzen. Bei manchen Zweifelsfragen kommen die unterschiedlichen Ausgangspunkte aber wieder zum Vorschein: etwa im 19.&nbsp;Jahrhundert beim Streit um die Rechtsnatur der [[Aktiengesellschaft]] oder in der jüngeren Vergangenheit bei der Diskussion um die Rechtsfähigkeit der Gesellschaft bürgerlichen Rechts.<br />
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Den größten Einfluss auf die Entwicklung des modernen Gesellschaftsrechts in Kontinentaleuropa hatten die Vorschriften des ''[[Code civil]]'' (21.3.1804) ''du contrat de société ''(Art.&nbsp;1832–1873) und des ''Code de Commerce'' (15.9.1807) ''des sociétés'' (Art.&nbsp;18–64). Das französische Gesellschaftsrecht ist seitdem mehrfach grundlegend umgestaltet worden, findet sich aber bis heute ganz überwiegend im ''Code Civil'' (Art.&nbsp;1832–1873) und im ''Code de Commerce ''(Art.&nbsp;L.&nbsp;210-Art.&nbsp;L&nbsp;252-12). Die erste gesamtdeutsche Regelung des Gesellschaftsrechts enthielt der Entwurf eines [[Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch|Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches]] (ADHGB) (12.3.1861) (Art.&nbsp;85–270). Vier Jahrzehnte später wurden diese Vorschriften teils revidiert, teils unverändert in das Handelsgesetzbuch (10.5.1897) (§§&nbsp;105–342) übernommen; gleichzeitig erhielt das Bürgerliche Gesetzbuch (18.8.1896) einen Abschnitt über die ''Gesellschaft'' (§§&nbsp;705–740). Die Bestimmungen über die offene Handelsgesellschaft, die Kommanditgesellschaft, die stille Gesellschaft und die Gesellschaft bürgerlichen Rechts sind seitdem kaum verändert worden. Die übrigen Gesellschaftsformen sind heute andernorts geregelt: Der [[Gesellschaft mit beschränkter Haftung]] wurde bei ihrer „Erfindung“ 1892 ein eigenständiges Gesetz gewidmet (20.4. 1892); das Aktienrecht wurde 1937 in ein eigenes Gesetz überführt (Aktiengesetz vom 30.1.1937) und bis heute in einem Spezialgesetz (Aktiengesetz vom 6.9.1965) belassen. Nach anfangs sehr anlassorientierter und unsystematischer Gesetzgebung hat der englische Gesetzgeber das Gesellschaftsrecht erstmals im ''Companies Act 1862'' sowie zuletzt im ''Companies Act 1985'' bzw. im ''Companies Act 2006 ''konsolidiert und kodifiziert.<br />
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== 4. Rechtsvergleichung ==<br />
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Rechtsvergleichung ist im Bereich des Gesellschaftsrechts seit jeher eine der wichtigsten Erkenntnisquellen. Der ''Code de Commerce'' (1807) im Allgemeinen und seine gesellschaftsrechtlichen Bestimmungen im Besonderen dienten zahlreichen weiteren Handelsgesetzbüchern zum Vorbild, beispielsweise dem span. ''Código de Comercio ''(1829), dem portug. ''Código Commercial'' (1833) und dem niederl. ''Wetboek van Koophandel'' (1838) sowie – abgeschwächt – dem Entwurf eines [[Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch|Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches]] (ADHGB).<br />
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In den Gebieten des Gesellschaftsrechts, in welchen die Gesetzgebung bereits zur Mitte des 19.&nbsp;Jahrhunderts im Wesentlichen abgeschlossen wurde, ist die Rechtsvergleichung beinahe zum Erliegen gekommen. Am augenfälligsten ist dies für die Gesellschaften im engeren Sinne (s.o.&nbsp;2.). Dort, wo Gesetzgebung, Rechtsprechung und Wissenschaft bis heute um ein geeignetes Regelungsregime ringen – also insbesondere bei der [[Aktiengesellschaft]] und der [[Gesellschaft mit beschränkter Haftung]] – war die Rechtsvergleichung durchgehend (allerdings mit qualitativen und quantitativen Unterschieden) bedeutsam (näher bei der Darstellung der einzelnen Gesellschaftsformen).<br />
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== 5. Rechtsvereinheitlichung ==<br />
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In einzelnen Fragen des Gesellschaftsrechts ist die europäische Rechtsharmonisierung weit fortgeschritten (etwa für die Rechnungslegung). Ebenso wie beim [[Kapitalmarktrecht]] liegt dies an der Bedeutung des Gesellschaftsrechts für die Verwirklichung eines [[Europäischer Binnenmarkt|europäischen Binnenmarkt]]s. Zu unterscheiden ist zwischen vereinheitlichtem nationalem Gesellschaftsrecht (nachfolgend a), supranationalem Gesellschaftsrecht (b) und der Verwirklichung der [[Niederlassungsfreiheit]] bzw. der [[Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit]] (c).<br />
<br />
=== a) Vereinheitlichtes nationales Gesellschaftsrecht ===<br />
<br />
(i)&nbsp;Zur Vereinheitlichung des nationalen Gesellschaftsrechts sind bislang zwölf grundlegende Richtlinien ergangen (im Folgenden geordnet nach dem Datum ihrer Verabschiedung, nicht nach der von der zeitlichen Abfolge teilweise abweichenden und mittlerweile aufgegebenen offiziellen Nummerierung): (1)&nbsp;Erste Richtlinie (RL&nbsp;68/151 vom 9.3.1968) zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (sog. Publizitäts-RL). (2) Zweite Richtlinie (RL&nbsp;77/91 vom 13.12.1976) zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (sog. Kapital-RL). (3) Vierte Richtlinie (RL&nbsp;78/660 vom 25.7.1978) über den Jahresabschluß von Gesellschaften bestimmter Rechts<nowiki>formen (sog. Jahresabschluss-RL). (4) Dritte Richtlinie (RL&nbsp;78/855 vom 9.10.1978) betreffend die Verschmelzung von Aktiengesellschaften (sog. Verschmelzungs-RL). (5) Sechste Richtlinie (RL&nbsp;82/891 vom 17.12.1982) betreffend die Spaltung von Aktiengesellschaften (sog. Spaltungs-RL). (6) Siebente Richtlinie (RL&nbsp;83/349 vom 13.6.1983) über den konsolidierten Abschluß (sog. Konzernabschluß-RL). (7) Achte Richtlinie (RL&nbsp;84/253 vom 10.4.1984) über die Zulassung der mit der Pflichtprüfung der Rechnungslegungsunterlagen beauftragten Personen, abgelöst von der RL&nbsp;2006/43 vom 17.5.2006 über Abschlussprüfungen von Jahresabschlüssen und konsolidierten Abschlüssen (sog. Abschlussprüfer-RL). (8) Elfte Richtlinie (RL&nbsp;89/666 vom 21.12.1989) über die Offenlegung von Zweigniederlassungen, die in einem Mitgliedstaat von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen errichtet wurden, die dem Recht eines anderen Staates unterliegen (sog. Zweigniederlassungs-RL). (9) Zwölfte Richtlinie (RL&nbsp;89/667 vom 21.12.1989) betreffend Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit einem einzigen Gesellschafter (sog. Einpersonengesellschafts-RL). (10) Richtlinie (RL&nbsp;2004/25 vom 21.4.2004) betreffend Übernahmeangebote (sog. Übernahme-RL) [ursprünglich als Dreizehnte Richtlinie vorgeschlagen]. (11) Richtlinie (RL&nbsp;2005/56 vom 26.10.2005) über die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten (sog. Internationale Verschmelzungs-RL) [ursprünglich als Zehnte Richtlinie vorgeschlagen]. (12) Richtlinie (RL&nbsp;2007/36 vom 11.7.2007) über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften (sog. Aktionärsrechte-RL).</nowiki><br />
<br />
(ii)&nbsp;Nicht weiterverfolgt oder noch nicht erlassen wurden: (1)&nbsp;Vorschlag (zuletzt 91/C 321/09 vom 20.11.1991) für eine fünfte Richtlinie über die Struktur der Aktiengesellschaft sowie die Befugnisse und Verpflichtungen ihrer Organe (sog. Struktur-RL). (2)&nbsp;Vorentwurf (DOK. Nr.&nbsp;III/1639/ 84 von 1984) einer neunten Richtlinie (sog. Konzernrechts-RL). (3)&nbsp;Vorentwurf (zuletzt DOK. Nr. XV/43/87 von 1987) einer Richtlinie (sog. Liquidations-RL). (4)&nbsp;Vorentwurf (vom 22.4. 1997) für eine vierzehnte Richtlinie über die Verlegung des Sitzes einer Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat mit Wechsel des für die Gesellschaft maßgebenden Rechts (sog. Sitzverlegungs-RL).<br />
<br />
(iii)&nbsp;Die [[Europäische Kommission]] hat in den letzten Jahren zwei Empfehlungen (Art. 249(5) Alt.&nbsp;1 EG/288(5) Alt.&nbsp;1 AEUV) ausgesprochen: (1) Empfehlung (2004/913 vom 14.12. 2004) zur Einführung einer angemessenen Regelung für die Vergütung von Mitgliedern der Unternehmensleitung börsennotierter Gesellschaften. (2) Empfehlung (2005/162 vom 15.2. 2005) zu den Aufgaben von nicht geschäftsführenden Direktoren bzw. Aufsichtsratsmitgliedern börsennotierter Gesellschaften sowie zu den Ausschüssen des Verwaltungs- bzw. Aufsichtsrats.<br />
<br />
=== b) Supranationales Gesellschaftsrecht ===<br />
<br />
Auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts hat sich die [[Europäische Gemeinschaft]] nicht darauf beschränkt, das nationale Gesellschaftsrecht zu vereinheitlichen. Vielmehr wurde außerdem unmittelbar geltendes, supranationales Gesellschaftsrecht erlassen.<br />
<br />
(i)&nbsp;Alle börsennotierten Unternehmen sind per Verordnung (VO&nbsp;1606/2002 vom 19.7.2002) seit 2005 verpflichtet, ihre Abschlüsse nach den ''International Accounting Standards'' (IAS) bzw. nunmehr ''International Financial Reporting Standards'' (IFRS) zu erstellen ([[Rechnungslegung]]).<br />
<br />
(ii)&nbsp;Nach außen hin am deutlichsten als Erscheinungen supranationalen Gesellschaftsrechts zu erkennen sind die drei europäischen Gesellschaftsformen: (1)&nbsp;Die [[Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung|Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung]] (EWIV) wurde 1985 mittels einer Verordnung (VO 2137/85 vom 25.7.1985) und nationaler Ausführungsgesetze geschaffen. In der nicht selbst auf Gewinnerzielung gerichteten EWIV, deren Vorbild der französische'' groupement d'intérêt économique (Code de Commerce'', Art.&nbsp;L.&nbsp;251-1–Art.&nbsp;L&nbsp;251-23) ist, können grenzüberschreitende Hilfstätigkeiten organisiert werden. Die praktische Relevanz der EWIV ist gering; in der Bundesrepublik als dem größten Mitgliedstaat gibt es nur 27 solcher Gesellschaften mit nennenswerter Tätigkeit (Umsatzsteuerstatistik 2006; das Unternehmensregister weist für 2008 insgesamt 68 Veröffentlichungen von 249 Unternehmen aus). (2)&nbsp;Die [[Europäische Aktiengesellschaft (Societas Europaea)|Europäische Aktiengesellschaft (''Societas Europaea'')]] (SE) ist das „Flaggschiff des europäischen Gesellschaftsrechts“ (''Klaus J. Hopt''). Sie entspricht funktional wie strukturell der [[Aktiengesellschaft]] und wurde nach der Jahrtausendwende mittels einer Verordnung (VO&nbsp;2157/2001 vom 8.10.2001), einer Richtlinie (RL&nbsp;2001/86 vom 8.10.2001) und nationaler Umsetzungsgesetze eingeführt. Die ''Societas Europaea'' hat die (im Laufe der jahrzehntelangen Diskussionen immer weiter reduzierten) Erwartungen vieler Beobachter übertroffen: Aktuell (Stand: Juni 2008) gibt es europaweit 213&nbsp;Gesellschaften, in Deutschland 70, in Frankreich sieben, im Vereinigten Königreich fünf (so die empirische Untersuchung von ''Horst Eidenmüller'', ''Andreas Engert'', ''Lars Hornuf'', 2008). (3)&nbsp;Die [[Europäische Genossenschaft (Societas Cooperativa Europaea)|Europäische Genossenschaft (''Societas Cooperativa Europaea'') (SCE)]] beruht wie die ''Societas Europaea'' auf einer Verordnung (VO 1435/2003 vom 22.7.2003), einer ergänzenden Richtlinie (RL&nbsp;2003/72 vom 22.7.2003) und nationalen Umsetzungsgesetzen.<br />
<br />
(iii)&nbsp;Es gibt bzw. gab auf europäischer Ebene Pläne, für weitere supranationale Rechtsformen (1)&nbsp;Kürzlich hat die Kommission den Vorschlag (25.6.2008) einer [[Europäische Privatgesellschaft (Societas Privata Europaea)|Europäischen Privatgesellschaft]] (''Societas Privata Europaea'') vorgelegt. Wesentliches Unterscheidungsmerkmal gegenüber der [[Europäische Aktiengesellschaft (Societas Europaea)|Europäischen Aktiengesellschaft]] ist, dass die Anteile an der Privatgesellschaft nicht öffentlich handelbar sind; es geht also um eine Art europäische [[Gesellschaft mit beschränkter Haftung]]. (2)&nbsp;Die Entwürfe einer Verordnung (zuletzt 93/C 236/05 vom 6.7.1993) und einer Richtlinie (zuletzt 93/C 236/06 vom 6.7.1993) zur Einführung einer Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft hat die Kommission im Frühjahr 2006 zurückgenommen (2006/C 64/03). (3)&nbsp;Dasselbe gilt für den Europäischen Verein, für den eine Verordnung (zuletzt 93/C 236/01 vom 6.7.1993) und eine Richtlinie (zuletzt 93/C 236/02 vom 6.7.1993) vorgeschlagen, aber zwischenzeitlich ebenfalls zurückgenommen worden sind (2006/C 64/03). (4)&nbsp;Im Zusammenhang mit den europäischen Gesellschaftsformen zu erwähnen ist außerdem die [[Europäische Stiftung]].<br />
<br />
=== c) Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit und Kapitalverkehrsfreiheit ===<br />
<br />
Ein weiterer wichtiger Bestandteil des europäischen Gesellschaftsrechts sind die Urteile des [[Europäischer Gerichtshof|Europäischen Gerichtshof]]s (EuGH) zur Verwirklichung der [[Niederlassungsfreiheit]] (Art. 43–48 EG/49–55 AEUV) und der [[Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit]] (Art.&nbsp;56–60 EG/63–66, 75 AEUV).<br />
<br />
(i)&nbsp;Die sechs wichtigsten Entscheidungen zur Niederlassungsfreiheit, die ausdrücklich auch für Gesellschaften gilt (Art.&nbsp;48 EG/54 AEUV), sind ''Daily Mail'' (Rs. 81/87, Slg. 1988, 5483), ''Centros'' (Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459), ''Überseering'' (Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919), ''Inspire Art'' (Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155), ''SEVIC Systems'' (Rs. C-411/03, Slg. 2005, I-10805) und ''Cartesio'' (Rs. C-210/06, NJW 2009, 569). Die Urteile haben eine juristische und eine politische Dimension. Rechtlich geht es um die Frage, ob und inwieweit nach dem Recht eines Mitgliedstaats errichtete Gesellschaften ihre Geschäftstätigkeit auf einen anderen Mitgliedstaat konzentrieren oder ganz dorthin „umziehen“ können, was sowohl im Erst- als auch im Zweitstaat Probleme bereiten kann. Die politische Bedeutung der Urteile liegt darin, dass eine weite Auslegung der Niederlassungsfreiheit zu einem [[Wettbewerb der Rechtsordnungen]] um das – meist aus Sicht der Gründer – „bessere“ Gesellschaftsrecht führt.<br />
<br />
(ii)&nbsp;Die Kapitalverkehrsfreiheit überschneidet sich für die unternehmerische Beteiligung an Gesellschaften mit der Niederlassungsfreiheit (gesehen, aber nicht gelöst von Art.&nbsp;43(2) EG/49(2) AEUV). Alle insoweit ergangenen Entscheidungen des Gerichtshofs betreffen Hindernisse bei der Unternehmensübernahme. Sechsmal hatte der Gerichtshof über sog. ''Goldene Aktien'' zu entscheiden. Hierbei handelt es sich um Sonderrechte, die staatlichen Stellen eingeräumt sind und die Übernahme von (zuvor privatisierten) Unternehmen erschweren. Die diesbezüglichen Urteile betrafen Regelungen in Portugal (Rs. C-367/98, Slg. 2002, I-4731), in Frankreich (Rs. C&#8209;83/99, Slg. 2002, I-4781), in Belgien (Rs. C-503/99, Slg. 2002, I-4809), in Spanien (Rs. C-463/00, Slg. 2003, I-4581), im Vereinigten Königeich (Rs. C-98/01, Slg. 2003, I-4641) und in den Niederlanden (Rs. C-282/04, C-283/04, Slg. 2006, I-9141). Über verwandte Fragen hatte der Gerichtshof in zwei Verfahren gegen Italien zu entscheiden (Rs. C-174/04, Slg. 2005, I-4933 und Rs. C-463/04, C-464/04, Slg. 2007, I-10419). Nicht nur um eine Goldene Aktie, sondern um einzelne Bestimmungen eines „Goldenen Gesetzes“ ging es in der Entscheidung (Rs. C-112/05, Slg. 2007, I-8995) zum sog. Volkswagen-Gesetz (Gesetz vom 21.7.1960); ob die in Umsetzung des Urteils vorgenommenen Streichungen (Gesetz vom 8.12.2008) ausreichen, um das Gesetz in Einklang mit den europäischen Vorgaben zu bringen, ist fraglich.<br />
<br />
== 6. Aktuelle Herausforderungen ==<br />
<br />
Die aktuellen Herausforderungen des Gesellschaftsrechts sind, soweit sie auf einzelne Gesellschaftsformen beschränkt sind, in deren Kontext zu besprechen. Rechtsformübergreifend werden in Europa nur wenige Themen erörtert.<br />
<br />
(i)&nbsp;Seit Jahrzehnten in der Diskussion, aber keine genuin gesellschaftsrechtliche Problematik ist die unternehmerische [[Mitbestimmung]] der Arbeitnehmer im Aufsichts- oder Verwaltungsrat größerer Gesellschaften. Ihretwegen behindert die Bundesrepublik seit Jahrzehnten die Harmonisierung des nationalen Gesellschaftsrechts und die Schaffung europäischen Einheitsrechts.<br />
<br />
(ii)&nbsp;Ein allgemeines Problem im Schnittbereich von Gesellschaftsrecht und Insolvenzrecht (s.o. 1.) ist die Frage, inwieweit gläubigerschützende Vorschriften im Vorfeld von Insolvenzen gesellschaftsrechtlich oder insolvenzrechtlich zu qualifizieren sind. Der deutsche Gesetzgeber (Insolvenzantragspflicht, §&nbsp;15a InsO) und der Bundesgerichtshof (Existenzvernichtungshaftung, §&nbsp;826 BGB) haben jüngst zwei ehedem gesellschaftsrechtliche Materien in das allgemeine Insolvenz- bzw. Deliktsrecht überführt. Unausgesprochen dürfte es sich hierbei um den Versuch handeln, diese Regelungsmaterien aus dem Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit (Art.&nbsp;43–48 EG/49–55 AEUV) herauszunehmen, um ausländische Gesellschaften trotz der jüngeren Rechtsprechung des EuGH (s.o. 5.c.) denselben Regeln unterwerfen zu können wie inländische. Vermutlich wird es für die europarechtliche Qualifikation als gesellschafts- oder insolvenzrechtlich aber nicht auf den Regelungsstandort, sondern auf den funktionellen Regelungsinhalt ankommen. Der erscheint bei der Insolvenzantragspflicht weniger gesellschaftsrechtlich als bei der Existenzvernichtungshaftung. <br />
<br />
(iii)&nbsp;Nicht nur eine formelle, sondern eine wichtige materielle Frage ist, wie weit die Kompetenzen der europäischen Entscheidungsträger zur Harmonisierung des Ge<nowiki>sellschaftsrechts reichen bzw. reichen sollten. Der EG-Vertrag ermächtigt Rat und Kommission nur, „Schutzbestimmungen [zu] koordinieren, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften ... im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten“ (Art.&nbsp;44(2)(g) EG/50(2)(g) AEUV). Eine Allzuständigkeit gibt es für das Gesellschaftsrecht bislang ebenso wenig wie allgemein.</nowiki><br />
<br />
== 7. Ausblick ==<br />
<br />
Das europäische Gesellschaftsrecht steht vor einer wichtigen Richtungsentscheidung. Die erste Phase der Angleichung der nationalen Gesellschaftsrechte und der Schaffung europäischen Einheitsrechts ist nahezu beendet – nicht, weil alle ursprünglichen Ziele erreicht wurden, sondern weil derzeit allenfalls noch die Sitzverlegungs-RL und die Europäische Privatgesellschaft Realisierungschancen haben. Ob die bisherigen Maßnahmen sinnvoll sind und ob weitere folgen sollten, bedarf eingehender Diskussion. Die Rechtswissenschaft könnte zu dieser Debatte einen genaueren Vergleich der nationalen Gesellschaftsrechte beisteuern. Hilfreich wird dieser Beitrag aber nur sein, wenn mehr als die gegenwärtigen Rechtsvorschriften verglichen wird:<br />
<br />
Erstens sollte endlich die große historische Forschungslücke geschlossen und eingehend untersucht werden, inwieweit die modernen Gesellschaftsrechte einem gemeinsamen Vorbild folgen und wo sie eigene Wege gehen. Entgegen dem vielbetonten Klischee von der Andersartigkeit und Eigenartigkeit des ''common law'' scheint das englische Gesellschaftsrecht jedenfalls bei kursorischer Durchsicht seiner historischen Grundlagen und gegenwärtigen Ausgestaltung in zentralen Fragen näher am römischen Sozietätsrecht zu liegen als das französische und das deutsche Gesellschaftsrecht. Für die Fortentwicklung des europäischen Gesellschaftsrechts ist diese gemeinsame historische Grundlage eine große Chance, weil sie der Diskussion einen konsensfähigen Ausgangspunkt gibt.<br />
<br />
Zweitens sollte sich die Rechtswissenschaft gemeinsam mit den Sozialwissenschaften um eine genauere empirische Aufarbeitung des europäischen Gesellschaftswesens bemühen. Eine Aktiengesellschaft und eine ''société anonyme'' unterscheidet mehr als ihr Name und ihr Regelungsregime.<br />
<br />
Gefordert ist mithin eine funktionale Analyse des europäischen Gesellschaftsrechts, mit vertikaler wie horizontaler Rechtsvergleichung und unter Einbeziehung interdisziplinärer Erkenntnisse. Derartige Forschung könnte sich als Ausgangspunkt erweisen für eine dezentrale Fortentwicklung des europäischen Gesellschaftsrechts hin zu einem ''novum ius societatis commune''.<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Marcus Lutter'', Europäisches Unternehmensrecht, 4.&nbsp;Aufl. 1996; ''Günter Christian Schwarz'', Europäisches Gesellschaftsrecht, 2&nbsp;Bde., 2000; ''Georges Ripert'', ''René Roblot'', Traité de droit commercial, Bd.&nbsp;I, Halbbd.&nbsp;2: Les sociétés commerciales, 18.&nbsp;Aufl., fortgeführt von Michel Germain, 2002; ''Stefan Grundmann'', Europäisches Gesellschaftsrecht, 2004 (revidiert in Zusammenarbeit mit ''Florian Möslein'': European Company Law, 2007); ''Reinier H. Kraakman'', ''Paul Davies'', ''Henry Hansmann'', ''Gerard Hertig'', ''Klaus J. Hopt'', ''Hideki Kanda'', ''Edward B. Rock'', The Anatomy of Corporate Law, 2004; ''Mathias Habersack'', Europäisches Gesellschaftsrecht, 3.&nbsp;Aufl. 2006; ''Klaus J. Hopt'', Comparative Company Law, in: Mathias Reimann, Reinhard Zimmermann (Hg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, 2006, 1161&nbsp;ff.; ''Paul L. Davies'', Gower and Davies’ Principles of Modern Company Law, 8. Aufl. 2008; ''Andreas Engert'', Gesellschaftsrecht, in: Katja Langenbucher (Hg.), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts, 2. Aufl. 2008, §&nbsp;5 (225&nbsp;ff.); ''Andreas M. Fleckner'', Antike Kapitalvereinigungen, in Vorbereitung für 2010.<br />
<br />
==Quellen==<br />
Auswahl: Codex Hammurabi, 18.&nbsp;Jahrhundert v.&nbsp;Chr.; zitiert nach der Edition von Richardson, Hammurabi’s Laws, Sheffield, 2000. Sachsenspiegel, 13.&nbsp;Jahrhundert n.&nbsp;Chr.; zitiert nach der Ausgabe von ''Karl August Eckhardt'', Sachsenspiegel – Landrecht, 2. Aufl., Göttingen, 1955. Frankfurter Reformation von 1578: Der Statt Franckenfurt erneuwerte Reformation, Frankfurt, 1578. Code de Commerce vom 10.-15.9.1807, Bulletin des lois No.&nbsp;164, 161&nbsp;ff.; Codigo de Comercio vom 30.5.1829, edicion oficial, Madrid, 1829. Codigo Commercial Portuguez vom 18.9.1833, Lissabon, 1833. Wetboek van Koophandel: Officiële uitgave, ’s-Gravenhage, 1838. Entwurf eines allgemeinen deutschen Handelsgesetz-Buchs vom 12.3.1861: [[Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch]] (ADHGB). An Act for the Incorporation, Regulation, and Winding-up of Trading Companies and other Associations vom 7.8.1862, 25 & 26 Vict. ch. 89. <br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Company_Law]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Betriebsvereinbarung&diff=1695Betriebsvereinbarung2021-09-08T10:34:03Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Ulrich Runggaldier]]''<br />
== 1. Gegenstand und Zweck ==<br />
Der Begriff Betriebsvereinbarung ist lediglich im deutschsprachigen Raum fest verankert. In den übrigen europäischen Ländern gibt es zwar Rechtsinstitute, die ähnliche Zielsetzungen und Aufgaben wahrnehmen, doch sind diese vom Institut der „Betriebsvereinbarung“ abzugrenzen. Die „Betriebsvereinbarung“ ist ein zentraler Baustein der sogenannten „Betriebsverfassung“. Begriff, Funktion und Ziel der Betriebsvereinbarung sind daher nur unter Berücksichtigung der Grundlagen der Betriebsverfassung verständlich. Die Betriebsverfassung hat den im Betrieb, Unternehmen oder Konzern bestehenden Interessengegensatz von Kapital und Arbeit in vertrauensvoller Zusammenarbeit auszugleichen (§&nbsp;2 Abs.&nbsp;1 BetrVG; §&nbsp;39 Abs.&nbsp;1 österreich. ArbVG, der wie folgt lautet: „Ziel der Bestimmungen über die Betriebsverfassung und deren Anwendung ist die Herbeiführung eines Interessenausgleichs zum Wohle der Arbeitnehmer und des Betriebes“). Der genannte Interessenausgleich erfolgt in aller Regel durch den Abschluss von Betriebsvereinbarungen.<br />
<br />
Die Betriebsvereinbarung selbst ist ein zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat im Rahmen ihrer Zuständigkeit geschlossener Vertrag über betriebliche Angelegenheiten. Die Betriebsvereinbarung ist gemeinsam von Arbeitgeber und Betriebsrat zu beschließen und schriftlich niederzulegen. Zum Zwecke der Kundmachung hat der Arbeitgeber die Betriebsvereinbarung an geeigneter Stelle im Betrieb auszulegen.<br />
<br />
Die Betriebsvereinbarung darf nicht jedwede Angelegenheit regeln. Das Gesetz umschreibt nämlich die Angelegenheiten, die Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein können. Das österreichische Recht nennt ausdrücklich jene Bereiche und Angelegenheiten, deren Regelung durch Gesetz oder Kollektivvertrag der Betriebsvereinbarung vorbehalten ist (§§&nbsp;96, 96a, 97 ArbVG; darunter die Einführung von Kontrollmaßnahmen und technischen Systemen zur Kontrolle der Arbeitnehmer, sofern diese Maßnahmen die Menschenwürde berühren; oder allgemeine Ordnungsvorschriften; nicht jedoch Regelungen, die das laufende Entgelt betreffen).<br />
<br />
Nach deutschem Recht können hingegen Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Dies gilt nicht, wenn ein Tarifvertrag den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt. Das bedeutet, dass der Tarifvertrag der Betriebsvereinbarung vorgeht. Damit ist auch klargestellt, dass die betriebliche Regelungsebene von der außerbetrieblichen Regelungsebene zu unterscheiden ist, wobei die Betriebsvereinbarungsparteien die Vorgaben der zuständigen Tarifverträge zu beachten haben.<br />
<br />
Die Betriebsvereinbarung gilt unmittelbar und zwingend und ist insoweit dem Tarifvertrag ähnlich. Unmittelbare Wirkung einer Betriebsvereinbarung bedeutet, dass diese wie ein Gesetz von außen auf das Arbeitsverhältnis einwirkt. Den Regelungen der Betriebsvereinbarung kommt daher normative Wirkung zu. Zwingende Wirkung besagt, dass die Betriebsvereinbarung von Arbeitnehmer und Arbeitgeber nicht abbedungen werden darf (Günstigkeitsprinzip). Die Betriebsvereinbarung selbst kann, soweit nichts anderes vereinbart ist, mit einer Frist von 3 Monaten gekündigt werden. Nach deutschem Recht kann nur für Betriebsvereinbarungen in Angelegenheiten der erzwingbaren Mitbestimmung eine Nachwirkung greifen. Betriebsvereinbarungen in Angelegenheiten, die lediglich der freiwilligen Mitbestimmung unterliegen, wirken nicht nach. Im österreichischen Recht ist es im Wesentlichen umgekehrt.<br />
<br />
Nach deutschem Recht hat der Betriebsrat, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht, in bestimmten Angelegenheiten mitzubestimmen (etwa Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit, Einführung und Anwendung von technischen Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen: §&nbsp;87 Abs.&nbsp;1 BetrVG). Kommt eine Einigung über eine dieser Angelegenheiten nicht zustande, so entscheidet die Einigungsstelle. Dieses Institut hat Schlichtungsfunktionen und – in bestimmten Fallkonstellationen – auch Entscheidungsfunktionen wahrzunehmen. Der Spruch der Einigungsstelle ersetzt die Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat. Im Ergebnis bedeutet das, dass der Betriebsrat eine entsprechende Regelung erzwingen kann. Etwas anderes gilt für die freiwillige Betriebsvereinbarung. Eine solche kann nicht erzwungen werden, sondern ist nur dann abschließbar, wenn beide Parteien einen entsprechenden Abschluss vereinbaren (§&nbsp;88 BetrVG nennt betriebliche Maßnahmen, die Gegenstand einer freiwilligen Betriebsvereinbarung sein können, was aber nicht bedeutet, dass keine andere Angelegenheit durch Abschluss einer freiwilligen Betriebsvereinbarung geregelt werden kann).<br />
<br />
In der betrieblichen Praxis gibt es immer wieder sogenannte „Regelungsabreden“. Die Regelungsabrede ist ein formloser Vertrag zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat, der lediglich die Parteien gegeneinander berechtigt und verpflichtet. Die Regelungsabrede entfaltet sohin keine normative Wirkung. Ähnliches gilt in Österreich in Bezug auf die sogenannte „freie Betriebsvereinbarung“, also eine Betriebsvereinbarung, die Angelegenheiten regelt, deren Regelung weder durch Gesetz noch durch Kollektivvertrag der Betriebsvereinbarung vorbehalten sind. Solche Betriebsvereinbarungen sind zwar nichtig, können jedoch schuldrechtliche Wirkungen entfalten.<br />
<br />
== 2. Tendenzen der Rechtsentwicklung ==<br />
Die Betriebsvereinbarung als Vereinbarung zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber war vom deutschen Betriebsrätegesetz 1920 noch nicht vorgesehen. Gleichwohl wurden die in diesem Gesetz geregelten Vereinbarungsvarianten einige Jahre später als Betriebsvereinbarung (bzw. Arbeitsordnung) bezeichnet. Nach überwiegender Meinung wurde diese als Inhalt des Arbeitsvertrages qualifiziert. Auf Grund des „Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit 1934“ (ab 1938 auch in Österreich in Geltung) war der Arbeitgeber für den Erlass der Betriebsordnung zuständig. Das kurz nach Kriegsende erlassene Kontrollratsgesetz Nr.&nbsp;22 (1946) hat die Betriebsvereinbarung als Institut wieder eingeführt, wobei wieder Betriebsräte gewählt werden konnten. Rechtseinheit in Deutschland wurde erst durch das BetrVG 1952 hergestellt. Seitdem gelten die Bestimmungen des BetrVG 1972, nunmehr in der Fassung vom 25.9.2001 (insbesondere §&nbsp;77 Abs.&nbsp;1-6). Eine ähnliche Entwicklung ist für Österreich festzustellen. Die Rechtsinstitute der Betriebsvereinbarung und der Arbeitsordnung wurden im Jahre 1947 gesetzlich neu geregelt und schließlich in das im Jahre 1973 erlassene ArbVG eingebunden (§§&nbsp;32&nbsp;ff.). Derzeit ist sowohl in Deutschland als auch in Österreich keine größere Reform oder Neuregelung der Betriebsvereinbarung in Sicht. Inwieweit Gemeinschaftsrecht zu einer Umgestaltung der Betriebsvereinbarung nach deutschem und österreichischem Recht notwendig werden wird, ist noch völlig offen.<br />
<br />
Weniger verrechtlicht sind die Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber (Unternehmen) einerseits und Arbeitnehmerrepräsentanten bzw. Gewerkschaftsbeauftragten andererseits in anderen Mitgliedstaaten, insbesondere in Italien, Frankreich, Spanien und Großbritannien.<br />
<br />
In diesen Staaten gibt es kein der Betriebsvereinbarung nach deutschem bzw. österreichischem Recht vergleichbares Rechtsinstitut. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass sich in den genannten Staaten Verhandlungsstrukturen auf betrieblicher Ebene herausgebildet haben, die gesetzlich nur ungenügend oder überhaupt nicht geregelt wurden. Das wirft viele Fragen und Probleme auf, die wohl auch in naher Zukunft nicht gelöst werden. Zumeist werden Absprachen getroffen oder/und schriftliche Verträge zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmervertretungen (häufig unter Beteiligung von Gewerkschaftsbeauftragten) abgeschlossen.<br />
<br />
Im französischen Recht ist eine Betriebsvereinbarung nach deutschem Muster nicht vorgesehen. Allenfalls kann man die ''Convention d’Entreprise'' oder ''d’Etablissement'' (also den Firmenkollektivvertrag) als funktionales Äquivalent der Betriebsvereinbarung qualifizieren, sofern diese zwischen Arbeitgeber und dem Gewerkschaftsbeauftragten (''Délégué Syndical'') der repräsentativen Gewerkschaften abgeschlossen werden. Dagegen ist der ''Comité d’Entreprise'', also der Betriebsrat, kein funktionales Äquivalent, da in ihm lediglich Mitwirkung in Form von Beratung und Verwaltung der sozialen und kulturellen Tätigkeiten erfolgt. Hingegen anerkennt das im Jahre 2004 verabschiedete „Gesetz über den sozialen Dialog“ die gewerkschaftsfreie Betriebsvereinbarung. Danach können – bei Fehlen eines gewerkschaftlichen Partners – auch Arbeitnehmervertreter im Betriebsrat mit dem Arbeitgeber eine Vereinbarung (''Accord d’Entreprise'') schließen, die von den übergeordneten Tarifnormen auch nach unten abweichen können. Voraussetzung ist aber, dass ein übergeordneter allgemeinverbindlicher Flächentarif (''Convention Collective'') die Vereinbarung zulässt. Der übergeordnete Tarifvertrag gibt auch die Themen der Vereinbarung vor, Grenzen sind dieser Freigabe nicht gesetzt.<br />
<br />
In Italien fehlt ebenfalls eine gesetzliche Reglementierung von Verträgen zwischen dem Arbeitgeber und den Belegschaftsvertretern (bzw. Gewerkschaftsvertrauensleuten). Wie Verhandlungen auf betrieblicher Ebene geführt werden und wer als Verhandlungspartner auf dieser Ebene dem Arbeitgeber gegenübertritt, ist demnach offen. Allerdings wurde im Jahre 1991 (mit einer Aktualisierung 1993) das sogenannte „Interkonföderale Übereinkommen über die Errichtung und Funktionsweise der einheitlichen betrieblichen Gewerkschaftsvertretungen“'' ''getroffen'' ''(''accordo interconfederale in materia di rappresentanze sindacali unitarie = ''RSU)''.'' Die nach dem genannten Übereinkommen errichteten RSU bestehen zu zwei Dritteln aus gewählten Repräsentanten der Belegschaft und zu einem Drittel aus Vertretern der Gewerkschaft. In der Regel wird der RSU vom übergeordneten Tarifvertrag die Kompetenz übertragen, über einzelne Agenden mit dem Arbeitgeber sogenannte ''contratti collettivi aziendali'' (also Firmenkollektivverträge) abzuschließen. In der betrieblichen Praxis wird bzw. werden aber im Rahmen von betrieblichen Verhandlungen zumeist der RSU ein oder mehrere Gewerkschaftsvertreter zugeordnet. In dem „Interkonföderalen Übereinkommen vom 23.7.1993 über die Einkommens- und Beschäftigungspolitik“ werden nämlich die einheitlichen betrieblichen Gewerkschaftsvertretungen (i.d.R. zusammen mit den örtlichen Organen der Gewerkschaften, die den nationalen Tarifvertrag unterzeichnet haben) als legitimer Verhandlungspartner der Arbeitnehmerseite im Rahmen der Verhandlungen und des Abschlusses von Firmentarifverträgen bezeichnet. Das hat zur Folge, dass Ausgestaltung und Umfang der Betriebsautonomie in Italien von den großen Gewerkschaften (Gewerkschaftsbünden) festgelegt werden. Insbesondere haben die drei großen Gewerkschaftsbünde im genannten Interkonföderalen Übereinkommen aus 1993 eine Teilung der Kompetenzen zwischen dem Branchenkollektivvertrag und dem Firmenkollektivvertrag vereinbart''.'' Danach dürfen die Firmentarifverträge nicht jene entgeltbezogenen Angelegenheiten neu oder anders regeln, die im nationalen Branchenkollektivvertrag bereits normiert wurden, wobei die Festlegung leistungsbezogener Zusatzentgelte im Ermessen der Betriebsparteien steht. Im Einzelfall sind auch Abweichungen vom Branchentarifvertrag aufgrund des Spezialitätsgrundsatzes möglich.<br />
<br />
Allerdings sind viele Fragen noch offen; so etwa die Frage, inwieweit dem Firmentarifvertrag eine ''erga omnes''-Wirkung zukommt; oder die Frage der Zulässigkeit der Adaptierung zwingender Tarifnormen an die Besonderheiten eines einzelnen Betriebes. Es nimmt daher nicht wunder, dass die rechtlich nicht bindenden Regelungen des Interkonföderalen Übereinkommens vom 23.7.1993 einer breiten Kritik ausgesetzt sind. Erhebliche Teile der Rechtslehre fordern deshalb eine Neuausrichtung der betrieblichen Verhandlungs- und Vertragsebene. Insbesondere wird die unmittelbare und zwingende, sowie die ''erga omnes''-Wirkung der Firmenkollektivverträge gegenüber sämtlichen Arbeitnehmern eingemahnt, sowie eine Ausweitung der Angelegenheiten, die durch Firmenkollektivvertrag geregelt werden können, gefordert.<br />
<br />
Komplizierter als das italienische Betriebsverfassungsrecht ist das ''spanische'', insbesondere was Vereinbarungen und Absprachen zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite auf betrieblicher Ebene anbelangt. So werden unter den Begriff ''Convenio Colectivo'' verschiedene Varianten des Kollektivvertrages subsumiert (etwa der Tarifvertrag, der Firmentarifvertrag oder auch Haustarifvertrag und die Betriebsvereinbarung); es gibt also keine grundlegende Unterscheidung zwischen Firmenkollektivvertrag und Betriebsvereinbarung. Der ''Convenio Colectivo'' kann auch nebeneinander vom Betriebsrat bzw. den Belegschaftsvertretern und der Gewerkschaftsabteilung im Betrieb abgeschlossen werden. Eine gesetzliche Regelung des ''acuerdo de empresa'' (Betriebsvereinbarung) ist freilich unterblieben; man greift daher auf das allgemeine Vertragsrecht zurück und sucht die Lösung in der analogen Anwendung der einen oder anderen Bestimmung zum ''Convenio Colectivo''.<br />
<br />
In ''Großbritannien'' wird man im Allgemeinen davon auszugehen haben, dass eine britische „Betriebsvereinbarung“ eine Vereinbarung ist, die zwischen dem Arbeitgeber einerseits und dem ''shop steward'', der für seine Gewerkschaft handelt, andererseits abgeschlossen wird (''collective agreement''). In Bezug auf Fragen der Arbeitszeit ist auch das ''workforce agreement'' von Relevanz (dazu die ''Working Time Regulation'' ''1999'', Schedule 1)<br />
<br />
Das ''collective agreement'' gilt, wenn das Gegenteil nicht ausdrücklich vereinbart wird, zwischen den Vertragspartnern ''nicht'' als Vertrag im üblichen Sinn, es hat nämlich keine bindende Wirkung. Der Inhalt des Vertrages wird dagegen Teil des Arbeitsvertrages (also ''incorporated''), kraft vermuteter Übernahme. Gegenstand der Übernahme sind die in Abkommen enthaltenen Arbeitsbedingungen. Die Einbeziehung in den Arbeitsvertrag hat den Vorteil, dass der Anspruch erhalten bleibt, wenn der Arbeitgeber der Gewerkschaft die Anerkennung entzieht; allerdings mit dem Nachteil, dass die Parteien des Arbeitsvertrages auf Grund der „Vertragsfreiheit“ nicht gehindert sind, schlechtere Arbeitsbedingungen zu vereinbaren.<br />
<br />
Wie diese Kurzübersicht zum Recht der Betriebsvereinbarung in wichtigen Mitgliedstaaten verdeutlicht, sind folgende Fragen nach wie vor nicht gelöst bzw. umstritten:<br />
<br />
Besonders problembehaftet ist das Verhältnis zwischen der überbetrieblichen Regelungsebene einerseits und der betrieblichen Regelungsebene andererseits. Das gilt etwa in Bezug auf die Sperrklausel des §&nbsp;77 Abs.&nbsp;3 BetrVG; auf die Begrenzung der Regelungsmacht der Betriebsparteien durch das Gesetz in Österreich; auf die nach wie vor bestehenden Unklarheiten in Bezug auf den Umfang der Regelungsbefugnis der Betriebsparteien gegenüber den Vorgaben der Tarifparteien in Italien. Nicht zuletzt wird aus rechtspolitischer Sicht von verschiedener Seite eine stärkere, vom Flächentarifvertrag nicht zu stark eingeschränkte Regelungsautonomie der Betriebsparteien gefordert: Letztere kennen die wirtschaftliche Situation des Betriebes (Unternehmens), die Wünsche und die Kritik der Belegschaft besser als die abgehobenen „Gewerkschaftsführer“. Diesen Bedürfnissen sollen die in Deutschland und Österreich (teilweise) etablierten Öffnungsklauseln nachkommen. Diese haben jedoch nicht jene Ziele erreicht, die mit deren Einführung erwartet wurden; sie sind daher kein Königsweg zur Entschärfung der Konflikte zwischen Regelungsebenen bzw. zwischen den Branchen- bzw. Flächentarifverträgen einerseits und der Betriebsvereinbarung andererseits.<br />
<br />
Bleibt die Frage, ob der Erweiterung der Betriebsautonomie durch Gesetz der Arbeitnehmerschutz-Gedanke entgegensteht, zumal etwa in Deutschland und in Österreich von Seiten der Betriebsräte Streiks zur Durchsetzung weiterer Regelungskompetenzen nicht erlaubt sind. Von der außerbetrieblichen Gewerkschaft dürften sich ohnehin viele Arbeitnehmer mehr erwarten als vom Abschluss von Betriebsvereinbarungen.<br />
<br />
Vereinheitlichungsprojekte hinsichtlich des Rechtsinstituts der Betriebsvereinbarung sind nach alledem auf Gemeinschaftsebene nicht auszumachen. Die jeweiligen nationalen Betriebsverfassungen hüten eifersüchtig ihr eigenes System und tendieren nicht in Richtung einer Vereinheitlichung. Auch die viel gepriesene offene Methode der Koordinierung dürfte zumindest hinsichtlich der hier thematisierten Materie keine Vereinheitlichung befördern.<br />
<br />
== 3. Vereinheitlichungsprojekte ==<br />
Das Gemeinschaftsrecht hat sich bisher mit dem Themenbereich betrieblicher Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber/Unternehmen und Arbeitnehmer bzw. Gewerkschaftsrepräsentanten nicht befasst. Allenfalls kann man die RL&nbsp;2002/14 vom 11.3.2002 als einen ersten Ansatz zum Ausbau einer gemeinschaftsrechtlichen Betriebsverfassung qualifizieren. Ziel dieser Richtlinie ist die Festlegung eines allgemeinen Rahmens mit Mindestvorschriften für das Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmervertretungen von in der Gemeinschaft ansässigen Unternehmen und Betrieben. Die Unterrichtung und Anhörung soll im Geiste der Zusammenarbeit zwischen Arbeitnehmer-Vertretungen und Arbeitgeber erfolgen''.''<br />
<br />
Unter Unterrichtung ist gemäß der Richtlinie „die Übermittlung von Informationen“ durch den Arbeitgeber an die Arbeitnehmer-Vertreter zu verstehen. Diese Informationen sollen den Vertretern Gelegenheit zur Kenntnisnahme und Prüfung der behandelten Fragen geben. Anhörung bedeutet der Richtlinie zufolge „die Durchführung eines Meinungsaustausches und eines Dialoges zwischen Arbeitnehmer-Vertretern und dem Arbeitgeber“.<br />
<br />
Die Unterrichtung betrifft die wirtschaftliche Situation des Unternehmens oder des Betriebes; Unterrichtung und Anhörung beziehen sich auf die Beschäftigungssituation und wahrscheinliche Beschäftigungsentwicklung sowie Entscheidungen, die wesentliche Veränderungen der Arbeitsorganisation oder der Arbeitsverträge mit sich bringen können.<br />
<br />
Die Unterrichtung und die Anhörung haben so zu erfolgen, dass die Arbeitnehmervertreter die Inhalte prüfen und hierzu noch rechtzeitig Stellung nehmen können.<br />
<br />
Regelungen, die Betriebsvereinbarungen betreffen (könnten), sind dieser Richtlinie nicht zu entnehmen. Fazit ist daher, dass es im europäischen Recht keine Vorschriften zur Vereinheitlichung der in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich ausgestalteten (normativ wirkenden) Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretungen bzw. Gewerkschaftsvertretungen gibt. Nur bedingt kann man die schriftliche Vereinbarung zwischen den besonderen Verhandlungsgremien und der Unternehmens(Konzern)leitung zur Errichtung eines [[Europäischer Betriebsrat|Europäischen Betriebsrat]]es als eine Betriebsvereinbarung qualifizieren. Die genannte Vereinbarung regelt ja nur wie der Europäische Betriebsrat ausgestaltet sein soll und welche Funktionen er ausüben soll. <br />
<br />
==Literatur==<br />
''Hans-Christoph Matthes'', §&nbsp;328, in: Reinhard Richardi, Otfried Wlotzke (Hg.), Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Bd.&nbsp;3, 2.&nbsp;Aufl. 2000; ''Ulrich Runggaldier'', Flexibilisierung des Arbeitsrechts und Tarifvertragsrecht. Österreich und Italien im Vergleich, in: Industrielle Beziehungen 2003, 41&nbsp;ff.; ''Bruno'' ''Caruso'', Sistemi contrattuali e regolazione legislativa in Europa, in: Giornale di Diritto del Lavoro e di Relazioni Industriali 2006, 581&nbsp;ff.; ''Alberto Pizzoferrato'', Il contratto collettivo di secondo livello come espressione di una cultura cooperativa e partecipativa, in: Rivista Italiana di Diritto del Lavoro 2006, 434&nbsp;ff.;'' Franz Gamillscheg'', Kollektives Arbeitsrecht, Bd.&nbsp;2, 2008, 756&nbsp;ff; Literatur zum ''spanischen'', ''französischen'' und ''englischen'' Recht der Betriebsvereinbarung in ''Franz Gamillscheg'', Kollektives Arbeitsrecht, Bd.&nbsp;2, 2008, 757&nbsp;ff.; ''Rudolf Strasser'', §§&nbsp;29-32, in: Rudolf Strasser, Peter Jabornegg, Reinhard Resch (Hg.), Kommentar zum Arbeitsverfassungsgesetz (Loseblatt).<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Company_Agreement]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Gemeinschaftsmarke&diff=1693Gemeinschaftsmarke2021-09-08T10:33:32Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Roland Knaak]]''<br />
== 1. Gegenstand und Zweck des Gemeinschaftsmarkenschutzes ==<br />
<br />
Marken sind Rechte des [[Geistiges Eigentum (allgemein)|geistigen Eigentum]]s. Sie gewähren ein ausschließliches Recht zur Kennzeichnung der durch die Marke geschützten Waren oder Dienstleistungen. In einer auf freiem Wettbewerb beruhenden Wirtschaftsordnung haben Marken die Aufgabe, dessen Unverfälschtheit zu sichern. Der [[Europäischer Gerichtshof|Europäische Gerichtshof]] sieht im [[Markenrecht]] einen wesentlichen Bestandteil des Systems eines unverfälschten Wettbewerbs, dessen Schaffung und Erhaltung nach Art.&nbsp;3(1)(g) EG (keine direkte Entsprechung im AEUV) zu den Zielen des [[EG-Vertrag]]es gehört. Waren oder Dienstleistungen, die mit Marken gekennzeichnet sind, müssen deshalb die Gewähr bieten, einem bestimmten Unternehmen zugeordnet werden zu können. Markenprodukte sollen einen bestimmten betrieblichen Ursprung garantieren. In dieser Funktion dienen Marken zugleich der Förderung und Vermarktung technischer und kreativer Leistungen, die durch das [[Patentrecht]], [[Urheberrecht]] und die anderen Rechte des geistigen Eigentums geschützt werden.<br />
<br />
Bis zur Schaffung der Gemeinschaftsmarke waren Marken ausschließlich nationale Rechte. Marken mussten von Land zu Land unter Schutz gestellt werden, und sie waren nach dem für alle Rechte des geistigen Eigentums geltenden Territorialitätsprinzip auch nur von Land zu Land geschützt. Als Rechte des gewerblichen und kommerziellen Eigentums im Sinne des Art.&nbsp;30 EG/36 AEUV können sie mit ihrem territorial begrenzten Schutz zu Hindernissen für den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr werden. Mit der VO&nbsp;40/94 des Rates über die Gemeinschaftsmarke (GMV, konsolidiert durch VO&nbsp;207/2009) ist erstmals die Rechtsgrundlage für ein Markenrecht entstanden, das die nationalen Grenzen überwindet. Die Gemeinschaftsmarke ist ein vom Gemeinschaftsgesetzgeber geschaffenes einheitliches supranationales Markenrecht, das im gesamten Territorium der Europäischen Gemeinschaft, also mittlerweile in 27&nbsp;Mitgliedstaaten geschützt ist. Ihre Aufgabe ist es, für den Verkehr mit Markenprodukten in der Gemeinschaft binnenmarktähnliche Verhältnisse herzustellen, dadurch den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr zu fördern und so zur Verwirklichung des [[Europäischer Binnenmarkt|europäischen Binnenmarktes]] beizutragen.<br />
<br />
== 2. Entstehung und Entwicklung des Gemein&shy;schafts&shy;marken&shy;systems ==<br />
<br />
Die Entstehung des Gemeinschaftsmarkensystems reicht zurück bis in die Anfänge der 1970er Jahre, als die [[Europäische Gemeinschaft]] noch aus sechs Mitgliedstaaten bestand. Damals begann ein von der EG-Kommission ([[Europäische Kommission]]) eingesetzter kleiner Kreis internationaler Experten, an dem als Vertreter der Wissenschaft das damalige Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Patent-, Urheber- und Wettbewerbsrecht beteiligt war, auf der Grundlage eines Vorentwurfes aus den 1960er Jahren die Grundzüge des Gemeinschaftsmarkenrechts auszuarbeiten. Diese Arbeiten mündeten in Entwürfe und Vorschläge der EG-Kommission, aus denen Ende der 1980er Jahre der Text der GMV in der schließlich verabschiedeten Fassung hervorgegangen ist. Nachdem im Jahre 1993 auch die beiden politischen Fragen, die Sitz- und die Sprachenfrage für das zu schaffende Markenamt der Gemeinschaft gelöst waren, ist die GMV im Jahre 1994 in Kraft getreten. Seit dem 1.4.1996 können Gemeinschaftsmarken angemeldet werden.<br />
<br />
Inzwischen sind mehr als 500.000 Gemeinschaftsmarken bei dem dafür zuständigen, in den fünf Amtssprachen Spanisch, Englisch, Deutsch, Französisch und Italienisch arbeitenden Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (HABM) in Alicante eingetragen. Das Gemeinschaftsmarkensystem hat damit binnen weniger Jahre Dimensionen angenommen, die an das seit über 100 Jahren bestehende System der internationalen Markenregistrierung heranreichen, das von der ''[[World Intellectual Property Organization]]'' (WIPO) in Genf verwaltet wird und gegenwärtig etwas mehr als 530.000 IR-Marken umfasst. Im Gegensatz zu Gemeinschaftsmarken werden diese internationalen Marken aber wie nationale Marken nach nationalem Recht von Land zu Land geschützt. Es handelt sich um Bündel nationaler Rechte, die lediglich in einem vereinheitlichten internationalen Registrierungsverfahren unter Schutz gestellt werden.<br />
<br />
Mit der GMV hat das [[Markenrecht]] eine Vorreiterrolle bei der Rechtsvereinheitlichung in Europa übernommen. Es gibt kein anderes Rechtsgebiet, in dem der Integrationsprozess so weit fortgeschritten ist. Diese Entwicklung ist durch die Marken-RL (RL&nbsp;89/104, konsolidiert durch RL&nbsp;2008/95) aus dem Jahre 1989 zusätzlich beschleunigt worden. Durch sie wurden die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in den wichtigsten materiellrechtlichen Fragen des [[Markenrecht]]s angeglichen. Inzwischen erlässt der [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] zum europäischen Markenrecht so viele Urteile wie auf fast keinem anderen Rechtsgebiet. In diesen Urteilen legt er auf Vorabentscheidungsersuchen nationaler Gerichte der Mitgliedstaaten die Bestimmungen der Marken-RL und der GMV aus oder entscheidet in Verfahren zur Eintragung oder Nichtigkeit von Gemeinschaftsmarken als letzte Instanz über die Auslegung und Anwendung der Vorschriften der GMV.<br />
<br />
== 3. Grundsätze des Gemeinschaftsmarkenrechts ==<br />
<br />
Das Gemeinschaftsmarkenrecht wird von drei übergeordneten Grundsätzen beherrscht, die sein Verhältnis zum nationalen Recht bestimmen und die es zugleich davon unterscheiden. Der erste Grundsatz ist die ''Autonomie'' des Gemeinschaftsmarkenrechts. Das Prinzip der Autonomie bedeutet, dass die Gemeinschaftsmarke allein den Vorschriften der GMV unterliegen soll. Dieses Prinzip ist allerdings dadurch eingeschränkt, dass die GMV nicht alle markenrechtlichen Fragen regelt, sondern teilweise auf das nationale Recht der Mitgliedstaaten verweist. Ein Beispiel dafür sind die Rechtsfolgen bei Verletzungen einer Gemeinschaftsmarke, die sich mit Ausnahme der Unterlassungssanktion nach nationalem Recht richten. Zweiter allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsmarkenrechts ist die ''Einheitlichkeit'' der Gemeinschaftsmarke. Die Gemeinschaftsmarke ist ein einheitliches Schutzrecht mit Wirkung für die gesamte Gemeinschaft. Eintragung und Löschung einer Gemeinschaftsmarke haben zwingend eine gemeinschaftsweite Wirkung, und auch ihre Benutzung kann grundsätzlich nur für die gesamte Gemeinschaft untersagt werden. Der dritte Grundsatz des Gemeinschaftsmarkenrechts ist das Prinzip der ''Koexistenz''. Das Gemeinschaftsmarkenrecht tritt neben die nationalen Markenrechtsordnungen. Die supranationale Rechtsordnung koexistiert mit den nationalen Rechtsordnungen, ohne dass ein Rangverhältnis besteht. Anmelder können Zeichen als nationale Marken und parallel als Gemeinschaftsmarken unter Schutz stellen. Im Verhältnis von Rechten verschiedener Inhaber erstrecken sich die Schutzwirkungen der nationalen Marken auf Gemeinschaftsmarken in gleicher Weise wie auf nationale Marken. Über den Vorrang des jeweiligen Rechts entscheidet allein das kennzeichenrechtliche Prioritätsprinzip. Die prioritätsältere nationale Marke setzt sich deshalb gegen eine später angemeldete Gemeinschaftsmarke durch. Auf der Grundlage dieser drei allgemeinen Prinzipien sind Schutzvoraussetzungen, Schutzinhalt und Schutzschranken der Gemeinschaftsmarken in der GMV ausgestaltet.<br />
<br />
== 4. Grundzüge des Gemein&shy;schafts&shy;marken&shy;schutzes ==<br />
<br />
Zu den ''Schutzvoraussetzungen'' einer Gemeinschaftsmarke gehört zunächst das Fehlen absoluter Eintragungshindernisse. Gemeinschaftsmarken dürfen nur eingetragen werden, wenn kein absolutes Eintragungshindernis vorliegt. Anmeldungen von Gemeinschaftsmarken werden vom HABM daraufhin geprüft. Die absoluten Eintragungshindernisse der GMV entsprechen inhaltlich weitgehend den Schutzverweigerungsgründen, die im internationalen Markenrecht für die Prüfung von IR-Marken durch die Behörden der Verbandsstaaten der Pariser Verbandsübereinkunft (PVÜ) gelten. Dies sind die fehlende Unterscheidungskraft, das Eintragungshindernis für ausschließlich beschreibende oder für verkehrsübliche Zeichen oder Angaben, der Verstoß einer Marke gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten, das Verbot der Eintragung täuschender Marken sowie Eintragungshindernisse für Hoheitszeichen und sonstige Abzeichen, Embleme und Wappen von Hoheitsträgern oder zwischenstaatlichen Organisationen. Hinzu kommen aus der PVÜ nicht bekannte Schutzhindernisse für Formmarken und für Marken, die gemeinschaftsrechtlich geschützte geographische Angaben enthalten. Infolge des Einheitlichkeitsprinzips kann der Schutz einer Gemeinschaftsmarke bereits dann nicht entstehen, wenn ein absolutes Eintragungshindernis in einem Teil der Gemeinschaft besteht. Als ein solcher Teil der Gemeinschaft gilt jeder Mitgliedstaat. Anmeldungen einer Gemeinschaftsmarke werden deshalb beispielsweise bereits dann als beschreibende Zeichen zurückgewiesen, wenn sie in der Amtssprache eines einzigen Mitgliedstaates beschreibend sind.<br />
<br />
Neben diesen absoluten Eintragungshindernissen gibt es relative Eintragungshindernisse. Darunter sind ältere Rechte Dritter zu verstehen, deren Schutz durch die Gemeinschaftsmarke verletzt wird. Das HABM berücksichtigt sie im Anmeldeverfahren allerdings nicht von Amts wegen, sondern nur, wenn sie von den Rechtsinhabern innerhalb von drei Monaten nach Veröffentlichung der Anmeldung durch Widerspruch geltend gemacht werden. Zu diesen älteren Rechten Dritter gehören alle älteren Marken, d.h. Gemeinschaftsmarken, international registrierte Marken und nationale Marken, aber auch nicht eingetragene Marken und sonstige Kennzeichenrechte, wenn sie nach dem maßgeblichen Recht des Schutzlandes oder der Gemeinschaft die Befugnis verleihen, die Benutzung einer jüngeren Marke zu untersagen. Mit diesem breiten Katalog relativer Eintragungshindernisse werden das Koexistenzprinzip und der Einheitlichkeitsgrundsatz praktisch uneingeschränkt verwirklicht. Der Schutz einer Gemeinschaftsmarke kann durch ein in einem einzigen Mitgliedstaat geschütztes älteres Recht zu Fall gebracht werden. Die Schutzwirkungen der älteren nationalen Rechte werden von der GMV fast uneingeschränkt anerkannt. Eine Ausnahme besteht nur für ältere Rechte von lediglich örtlicher Bedeutung. Sie bilden keine relativen Eintragungshindernisse, können aber in ihrem Schutzgebiet Grundlage für ein Verbot der Benutzung einer Gemeinschaftsmarke sein.<br />
<br />
Der ''Schutzumfang'' von Gemeinschaftsmarken wird in Anlehnung an die Regelungen in der Marken-RL abgestuft gewährt. Gemeinschaftsmarken, die nicht die Schwelle der Bekanntheit in der Gemeinschaft erlangt haben, genießen einen sog. Identitätsschutz gegen ihre identische oder quasi-identische Übernahme durch einen Dritten im Identitätsbereich der geschützten Waren oder Dienstleistungen und ferner einen Schutz vor Verwechslungsgefahr. Verwechslungsgefahr besteht, wenn die mit den Marken gekennzeichneten Waren oder Dienstleistungen in den Augen des maßgebenden Publikums aus demselben oder aus wirtschaftlich miteinander verbundenen Unternehmen stammen. Die Beurteilung der Verwechslungsgefahr als einer Rechtsfrage hängt nach den Auslegungsgrundsätzen des [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] von mehreren Faktoren ab, darunter vor allem der Kennzeichnungskraft der älteren Gemeinschaftsmarke, der Ähnlichkeit der sich gegenüberstehenden Zeichen und der Ähnlichkeit der jeweiligen Waren oder Dienstleistungen. Bei der Prüfung dieser Faktoren handelt es sich um Tatsachenfragen, die Beweisen zugänglich sind. Bekannte Gemeinschaftsmarken sind nicht nur gegen Verwechslungsgefahr geschützt, sondern gegen unlautere Beeinträchtigung ihrer Unterscheidungskraft oder unlautere Ausnutzung ihres Rufes. Für diesen Schutz genügt es grundsätzlich, dass die Gemeinschaftsmarke durch die Benutzung eines jüngeren Zeichens in Erinnerung gerufen wird, ohne dass es dabei zu einer Verwechslungsgefahr kommen muss.<br />
<br />
''Schutzschranken'' für Gemeinschaftsmarken bestehen bei Verwendung von Namen, von geographisch beschreibenden oder sonstigen beschreibenden Angaben oder Zeichen und bei Verwendung der geschützten Gemeinschaftsmarke als Bestimmungshinweis, insbesondere für Zubehör oder Ersatzteile einer Ware. Der [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] hat inzwischen auch zu diesen Schutzschranken in mehreren Urteilen Auslegungsgrundsätze formuliert, die nicht nur für die Anwendung des harmonisierten Markenrechts, sondern auch für das Gemeinschaftsmarkenrecht gelten.<br />
<br />
Die Schutzdauer einer Gemeinschaftsmarke beträgt zehn Jahre ab dem Zeitpunkt ihrer Anmeldung. Gegen Zahlung einer Gebühr, die gegenwärtig ohne Zuschläge EUR 1.350,- beträgt, kann dieser Schutz beliebig oft um weitere zehn Jahre verlängert werden.<br />
<br />
Betrachtet man Entwicklung und Stand der Rechtsprechung zum europäischen Markenrecht, so ist festzustellen, dass die Schutzvoraussetzungen vom [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] tendenziell streng definiert werden, dass der Schutzumfang grundsätzlich eng bemessen wird und erweiterte Schutzräume nur bekannten Marken zugestanden werden und dass die Schutzschranken tendenziell weit ausgelegt werden. Die markenrechtliche Schutzschranke zugunsten von Namen beispielsweise hat der EuGH entgegen den Absichten des europäischen Gesetzgebers auf Handelsnamen ausgedehnt. Auch die Verwendung geographischer Angaben beurteilt er im Lichte der Schrankenregelung großzügig. Er sieht in dieser Regelung einen Ausdruck der allgemeinen Zielsetzung, die Interessen des Markenschutzes einerseits und des freien Waren- und Dienstleistungsverkehrs andererseits miteinander in Einklang zu bringen. Bei der Prüfung der Schutzvoraussetzungen betont der EuGH das Allgemeininteresse an der freien Verfügbarkeit von Zeichen, die die Funktion einer Marke, Waren oder Dienstleistungen eines Unternehmens von konkurrierenden Produkten zu unterscheiden, nicht erfüllen. Aus diesem Allgemeininteresse leitet er das Gebot einer strengen Beurteilung der Eintragbarkeit ab. Den Schutzumfang richtet der EuGH an der Hauptaufgabe des Markenschutzes aus, Gewähr zu bieten, dass alle mit der Marke gekennzeichneten Waren oder Dienstleistungen unter der Kontrolle eines einzigen Unternehmens stehen, das für ihre Qualität verantwortlich gemacht werden kann. Übergreifender ''Leitgedanke'' all dieser Auslegungsregeln ist, dass die Marke ihre Aufgabe als wesentlicher Bestandteil des Systems eines unverfälschten Wettbewerbs erfüllen soll. Auf diese Weise hat der EuGH das [[Markenrecht]] im [[EG-Vertrag]] fest verankert.<br />
<br />
== 5. Weitere Vereinheit&shy;lichungs&shy;schritte ==<br />
<br />
Die Vereinheitlichung im Gemeinschaftsmarkenrecht ist bislang nicht abgeschlossen. Bei einigen Fragen, die zu einem vollständigen markenrechtlichen Schutzsystem gehören, verweist die GMV auf die Vorschriften des nationalen Rechts und des [[internationales Privatrecht|internationalen Privatrechts]] der Mitgliedstaaten. Für Verfahren wegen Verletzung einer Gemeinschaftsmarke überträgt die GMV den von den Mitgliedstaaten benannten Gemeinschaftsmarkengerichten die Zuständigkeit. Diese Lücken in der Rechtsvereinheitlichung sind inzwischen durch weitere gemeinschaftsrechtliche Maßnahmen enger geworden.<br />
<br />
Die Richtlinie zur Durchsetzung der Rechte des Geistigen Eigentums aus dem Jahre 2004 (RL&nbsp;2004/48) hat einen gemeinschaftsrechtlichen Rahmen für die Sanktionen bei Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums geschaffen, der auch für die Verletzung von Gemeinschaftsmarken gilt ([[Geistiges Eigentum (Durchsetzung)]]). Die Verweisung in der GMV auf das nationale Sanktionenrecht der Mitgliedstaaten führt dadurch in einen harmonisierten Bereich, der der Auslegungskontrolle des EuGH unterliegt. Mit der Rom II-VO (VO&nbsp;864/2007) aus dem Jahre 2007 sind außerdem die für Verletzungen von Rechten des [[Geistiges Eigentum (allgemein)|geistigen Eigentum]]s geltenden Regeln des [[internationales Privatrecht|internationalen Privatrechts]] gemeinschaftlich festgelegt worden. Die Verweise in der GMV auf das internationale Privatrecht der Mitgliedstaaten sind deshalb jetzt nach den Grundsätzen der Rom&nbsp;II-VO auszulegen. Die Rom&nbsp;II-VO scheint freilich nicht das Problem gelöst zu haben, dass die Rechtsfolgen bei gemeinschaftsweiten Verletzungen einer Gemeinschaftsmarke nicht einheitlich nach der Rechtsordnung eines einzigen Mitgliedstaates beurteilt werden können, sondern dass an das Recht der einzelnen Mitgliedstaaten angeknüpft werden muss, in denen die Verletzungen begangen wurden. Dies wird sich erst ändern können, wenn die Vorschriften der RL&nbsp;2004/48 unmittelbar in die GMV übernommen werden und so ein eigenständiges autonomes System der Sanktionen im Gemeinschaftsmarkenrecht entsteht. Sollte auch noch eine originäre Gemeinschaftsgerichtsbarkeit für Verletzungen von Gemeinschaftsmarken eingeführt werden, die die gegenwärtige Zuständigkeit der Gemeinschaftsmarkengerichte der Mitgliedstaaten ablöst, wäre der Vereinheitlichungsprozess im Gemeinschaftsmarkenrecht praktisch vollendet.<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Alexander v. Mühlendahl'','' Dietrich C. Ohlgart'', Die Gemeinschaftsmarke, 1998; ''Roland Knaak'', Grundzüge des Gemeinschaftsmarkenrechts und Unterschiede zum nationalen Markenrecht, Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, Internationaler Teil 2001, 665&nbsp;ff.; ''Friedrich Ekey'', ''Diethelm Klippel'', Heidelberger Kommentar zum Markenrecht, 2003;'' Gerhard Schricker'', ''Eva-Marina Bastian'', ''Roland Knaak'', Gemeinschaftsmarke und Recht der EU-Mitgliedstaaten, 2006; ''Eike Schaper'', Durchsetzung der Gemeinschaftsmarke, 2006; ''Günther Eisenführ'', ''Detlef Schennen'', Gemeinschaftsmarkenverordnung, 2.&nbsp;Aufl. 2007.<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Community_Trade_Mark]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Gemeinschaftsgeschmacksmuster&diff=1691Gemeinschaftsgeschmacksmuster2021-09-08T10:33:01Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Annette Kur]]''<br />
__FORCETOC__<br />
== 1. Gegenstand und Zweck; systematische Stellung ==<br />
<br />
Der Begriff „Gemeinschaftsgeschmacksmuster“ bezeichnet einen gemeinschaftsunmittelbaren, durch die VO 6/2002 (Gemeinschaftsgeschmacksmuster-VO, GGV) geschaffenen Rechtstitel, der einen immaterialgüterrechtlichen Schutz für die Erscheinungsform von Erzeugnissen verleiht. In den wesentlichen inhaltlichen Aspekten – Schutzgegenstand, Schutzvoraussetzungen, Schutzumfang und Schutzschranken – stimmen die materiellen Regelungen der GGV mit denjenigen der RL&nbsp;98/71 (Geschmacksmuster-RL, GMRL) überein und entsprechen somit dem in Deutschland wie auch in anderen Mitgliedstaaten der EU geltenden [[Geschmacksmusterrecht]].<br />
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Die Schaffung eines einheitlichen, gemeinschaftsweit gültigen Rechtstitels im Bereich des Geschmacksmusterrechts bezweckt die Überwindung der Territorialität nationaler Schutzrechte und wirkt dadurch der Aufspaltung des Gemeinsamen Marktes entgegen. Ferner wird auf diese Weise übernational tätigen Unternehmen ein attraktiver, weitreichender Schutz zur Verfügung gestellt. Durch eine besonders einfache, benutzerfreundliche Gestaltung des Eintragungsverfahrens soll ein Anreiz geschaffen werden, in großem Umfang von dieser Schutzmöglichkeit Gebrauch zu machen. Soweit dennoch Schutzlücken verbleiben, da die Eintragung von Geschmacksmustern auf nationaler oder Gemeinschaftsebene für bestimmte, stark modeabhängige Zweige designorientierter Industrien nicht als lohnend erscheint, wurde mit dem Rechtsinstitut des nicht eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters ein Auffangtatbestand vorgesehen, der für innerhalb der Europäischen Gemeinschaft veröffentlichte, musterfähige Gestaltungen einen kurzfristigen Schutz gegen Nachahmung verleiht.<br />
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Ebenso wie das Gemeinschaftsmarkenrecht ([[Gemeinschaftsmarke]]) koexistiert das Gemeinschaftsgeschmacksmusterrecht mit den auf nationaler Ebene fortbestehenden Schutzsystemen. Der Schutzerwerb kann auf beiden Ebenen parallel erfolgen. Geschmacksmuster, die lediglich national geschützt werden, und die im Zuge des Rechtserwerbs öffentlich zugänglich gemacht werden, führen automatisch zur Entstehung eines nicht eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters und genießen daher zumindest für dessen Laufzeit Nachahmungsschutz in allen anderen Mitgliedsländern.<br />
<br />
Auf Gemeinschaftsebene können Formgebungen und graphische Symbole außer durch das Gemeinschaftsgeschmacksmusterrecht auch als Gemeinschaftsmarke geschützt werden; die inhaltliche Ausrichtung der Rechte sowie die Schutzvoraussetzungen und das Eintragungsverfahren weisen allerdings erhebliche Unterschiede auf. Auf der Ebene des nationalen Rechts werden Konkurrenz- und Abgrenzungsfragen vor allem im Verhältnis zwischen dem nicht eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmuster und den Regelungen zum Schutz gegen [[Unlauterer Wettbewerb (Grundlagen)|unlauteren Wettbewerb]] oder entsprechenden Rechtsgrundsätzen akut. Im Zentrum steht dabei die Frage, ob nach Ablauf des kurz bemessenen, gemeinschaftsrechtlichen Schutzes die Nachahmung der ursprünglich geschützten Form generell als zulässig gelten muss oder ob auf die Grundsätze des wettbewerbsrechtlichen Nachahmungsschutzes zurückgegriffen werden kann. Nach BGH 15.9.2005 – Jeans, GRUR 2006, 79 ist letzteres zumindest dann möglich, wenn die Unlauterkeit der Nachahmungshandlung nicht in der Übernahme der werthaltigen („eigenartigen“) Form, sondern in deren Kennzeichnungseignung begründet liegt, so dass unterschiedliche Anknüpfungspunkte für die Schutzgewährung maßgeblich sind.<br />
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== 2. Das Gemeinschafts&shy;ge&shy;schmacksmuster im Einzelnen ==<br />
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Für die Einzelheiten des materiellen Schutzes von Gemeinschaftsgeschmacksmustern kann auf die insoweit übereinstimmenden Ausführungen zum Geschmacksmusterrecht verwiesen werden. Einzugehen ist daher lediglich auf diejenigen Aspekte des Gemeinschaftsgeschmacksmusterrechts, die – wie insbesondere das Eintragungsverfahren – in der GGV im Gegensatz zur GMRL explizit geregelt sind.<br />
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Die Anmeldung von Gemeinschaftsgeschmacksmustern erfolgt beim Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (HABM), das bei Schaffung des Gemeinschaftsmarkensystems als gemeinschaftsunmittelbare Behörde mit Sitz in Alicante gegründet wurde. Anmeldungen können entweder direkt beim HABM oder über die nationalen Patentämter eingereicht werden; in letzterem Fall leiten die Ämter die Anmeldeunterlagen unmittelbar, ohne eigene Prüfung, an das HABM weiter. Die Anmeldung muss Angaben zur Identität des Anmelders sowie eine reproduktionsfähige Wiedergabe der Gestaltung enthalten, für die Schutz begehrt wird („Muster“); anzugeben sind ferner auch die Erzeugnisse, in die das Muster aufgenommen oder für die es verwendet werden soll (Art.&nbsp;36 GGV). Das HABM stellt fest, ob der angemeldete Gegenstand der Definition in Art.&nbsp;4 GGV entspricht und nicht wegen Sittenwidrigkeit vom Schutz ausgeschlossen ist; im Übrigen beschränkt sich die Prüfung auf die formellen Erfordernisse – Vollständigkeit der Pflichtangaben, Entrichtung der fälligen Gebühren (Art.&nbsp;45 GGV). Soweit mehrere Muster geschützt werden sollen, lassen sich Kostenvorteile durch die Zusammenfassung in einer Sammelanmeldung erzielen. Voraussetzung ist, dass die Erzeugnisse, in die die Muster aufgenommen werden sollen, derselben Klasse des vom HABM verwendeten, internationalen Klassifizierungssystems angehören (Art. 37 GGV). Der Anmelder kann ferner beantragen, dass die bildliche Bekanntmachung des Musters für einen Zeitraum von bis zu 30 Monaten aufgeschoben wird; auch dadurch verringern sich die Gebühren für die Anmeldung. Nach Ablauf des Aufschiebungszeitraums müssen die für die Veröffentlichung fälligen Gebühren nachentrichtet werden, wenn das Recht aufrechterhalten werden soll; anderenfalls verfällt es (Art.&nbsp;50 GGV).<br />
<br />
Nach der Eintragung werden Gemeinschaftsgeschmacksmuster im Amtsblatt des HABM veröffentlicht; bei Aufschiebung der Bildbekanntmachung beschränkt sich die Veröffentlichung auf die Daten zur Identität des Anmelders (Art.&nbsp;49; Art.&nbsp;50(3) GGV) Die Eintragung begründet die Vermutung der Rechtsgültigkeit des Gemeinschaftsgeschmacksmusters (Art.&nbsp;85(1)). Dritte, die Einwände gegen die Rechtsgültigkeit geltend machen wollen, können die Nichtigkeitsabteilungen des HABM anrufen (Art.&nbsp;52 GGV); daran schließt sich der Rechtszug zu den Beschwerdekammern des HABM sowie zum EuG und gegebenenfalls zum EuGH an (Art.&nbsp;55&nbsp;ff. GGV). Die mangelnde Rechtsgültigkeit kann ferner auch in Form der Widerklage im Rahmen von Verletzungsverfahren geltend gemacht werden. Zuständig sind insoweit die nationalen Gerichte, die von den Mitgliedstaaten als Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte benannt worden sind (Art.&nbsp;80, 81 GGV).<br />
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Eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster werden für fünf Jahre, berechnet ab dem Zeitpunkt der Anmeldung, geschützt. Der Schutz kann bis zu einer Gesamtdauer von 25 Jahren um jeweils fünf Jahre verlängert werden (Art.&nbsp;12 GGV). Er richtet sich gegen jede innerhalb des Schutzbereichs liegende Erscheinungsform, ungeachtet dessen, ob das verletzende Muster in Kenntnis der geschützten Gestaltung erzeugt wurde (Art.&nbsp;10 GGV). Ausnahmen von diesem Grundsatz bestehen in zwei Fällen: Solange die Bildbekanntmachung des Gemeinschaftsgeschmacksmusters aufgeschoben ist, ist der Schutz auf Nachahmungen beschränkt (Art. 19(3) GGV). Ferner bleibt derjenige, der zum Zeitpunkt der Anmeldung des Gemeinschaftsgeschmacksmusters (oder, bei Inanspruchnahme von Priorität nach Art.&nbsp;4 PVÜ, zum maßgeblichen Prioritätszeitpunkt) bereits ein übereinstimmendes Muster gutgläubig in Benutzung genommen oder wesentliche Vorkehrungen dazu getroffen hat, berechtigt, das Muster auch weiterhin im bisherigen Umfang zu benutzen (Vorbenutzungsrecht, Art.&nbsp;22 GGV).<br />
<br />
Außer durch die Eintragung beim HABM kann ein Geschmacksmusterrecht auf Gemeinschaftsebene auch durch die Benutzung oder sonstige Zugänglichmachung erworben werden (nicht eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster). Damit wurde erstmals ein Gemeinschaftstitel geschaffen, der keine Eintragung in einem zentralen Register voraussetzt. Um geschützt zu werden, muss das Muster die allgemeinen Voraussetzungen der Neuheit und Eigenart erfüllen; ferner muss die Benutzung oder Zugänglichmachung ''innerhalb der Gemeinschaft'' erfolgt sein (Art.&nbsp;11 i.V.m. Art.&nbsp;110a(5) GGV). Die Dauer des Schutzes beträgt drei Jahre ohne Verlängerungsmöglichkeit; er richtet sich gegen Nachahmungen, d.h., der Verletzer muss das Muster nachweislich gekannt haben (Art. 19(2) GGV).<br />
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Im Übrigen ist der Umfang des Schutzes eingetragener und nicht eingetragener Gemeinschaftsgeschmacksmuster der gleiche und entspricht damit auch den aufgrund der GMRL vereinheitlichten Bestimmungen des nationalen Rechts. Im Gegensatz zur GMRL, die diese Frage weitgehend dem nationalen Recht überlässt, sieht Art.&nbsp;110 GGV vor, dass bis zum Inkrafttreten einer endgültigen, gemeinschaftsweiten Lösung der Schutz von Teilen komplexer Erzeugnisse nicht gegen deren Herstellung und Vertrieb zu Reparaturzwecken durchgesetzt werden kann, soweit die Teile notwendigerweise exakt nachgebaut werden müssen, um die Erscheinungsform des Originalprodukts wieder herzustellen.<br />
<br />
Gemeinschaftsgeschmacksmuster können Gegenstand einfacher oder ausschließlicher Lizenzen sein; sie können ferner verpfändet werden und Gegenstand sonstiger dinglicher Rechte sein (Art.&nbsp;29, 32 GGV). Bei einer Übertragung eines eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters wird der Rechtsübergang im Verhältnis zu Dritten erst wirksam, wenn eine entsprechende Eintragung im Gemeinschaftsgeschmacksmusterregister erfolgt ist (Art.&nbsp;28(b) GGV). Entsprechendes gilt für Lizenzen und andere dingliche Rechte, die sich auf eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster beziehen, soweit nicht der Dritte beim Zeitpunkt des Rechtserwerbs Kenntnis von der Rechtshandlung hatte (Art.&nbsp;33(2) GGV).<br />
<br />
Für Klagen wegen Verletzung von Gemeinschaftsgeschmacksmustern sind die von den Mitgliedstaaten benannten Gerichte als Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte zuständig (Art. 80, 81 GGV). Soweit eine bereits erfolgte oder drohende Verletzung festgestellt wird, sieht die GGV folgende Sanktionen vor: Anordnung der Untersagung; Anordnung der Beschlagnahme der nachgeahmten Erzeugnisse sowie der Materialien und Werkzeuge, die vorwiegend zu deren Herstellung benutzt worden sind; Anordnung anderer, den Umständen angemessenen Sanktionen, die in der Rechtsordnung einschließlich des internationalen Privatrechts des Mitgliedstaates vorgesehen sind, in dem die Verletzungshandlungen vorgenommen wurden oder drohen (Art.&nbsp;89(1)(a)-(d) GGV).<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Alexander Bulling'','' ''Gemeinschaftsgeschmacksmuster, 2003;'' Catherine Jenewein'','' ''Europäischer Designschutz durch nicht eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster, 2003; ''Ulrike Koschtial'', Das Gemeinschaftsgeschmacksmuster: Die Kriterien der Eigenart, Sichtbarkeit und Funktionalität, Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, Internationaler Teil 2003, 973&nbsp;ff.; ''Peter Schramm'', Der europaweite Schutz des Produktdesigns, 2005; ''Eckhart Gottschalk'', ''Sylvia Gottschalk'', Das nicht eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster, Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, Internationaler Teil 2006, 461&nbsp;ff.;'' Oliver Rühl'', Gemeinschaftsgeschmacksmuster, 2007; ''Birgit Reinisch'', Das nicht eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster und sein Verhältnis zum wettbewerbsrechtlichen Leistungsschutz, 2008; ''Nils Weber'', Entscheidungspraxis des HABM zur Nichtigkeit von Gemeinschaftsgeschmacksmustern, Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht 2008, 115&nbsp;ff.<br />
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[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Community_Design]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Gemeinschaft_Unabh%C3%A4ngiger_Staaten&diff=1689Gemeinschaft Unabhängiger Staaten2021-09-08T10:32:29Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Eugenia Kurzynsky-Singer]]''<br />
== 1. Überblick ==<br />
<br />
Die GUS (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, russisch: ''Sodružestvo Nezavisimych Gosudarstv'') ist ein auf völkerrechtlichen Verträgen basierender regionaler Zusammenschluss von 12 der insgesamt 15 nach dem Zerfall der Sowjetunion entstandenen Staaten; nicht beigetreten sind die drei baltischen Republiken. Der Hauptzweck der GUS ist die Entwicklung und Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten in u.a. politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, kulturellen, ökologischen, militärischen und außenpolitischen Bereichen gemeinsamer Interessen (vgl. Art.&nbsp;2 und 4 der GUS-Satzung). Über supranationale Befugnisse gegenüber ihren Mitgliedern verfügt die GUS nicht. Ihr Hauptsitz befindet sich in Minsk, Weißrussland; die Amtssprache ist Russisch. Die ursprünglichen 12 Teilnehmerstaaten sind: Aserbaidschan, Armenien, Weißrussland, Georgien, Kasachstan, Kirgisistan, Moldau, Russland, Tadschikistan, Turkmenistan, Ukraine und Usbekistan. Nach dem Konflikt in Südosetien im August 2008 erklärte Georgien seinen Austritt. Die Mitgliedschaft endete im August 2009.<br />
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== 2. Entstehung der GUS ==<br />
<br />
Die im Jahre 1922 als ein multinationaler Staat gegründete Sowjetunion erbte bereits vom Zarenreich diverse ethnische Spannungen und Konflikte, die sich in den darauf folgenden Jahren weiter vermehrt und vertieft haben. Obwohl als eine Föderation per Staatsvertrag der Republiken gegründet, entwickelte sich die Sowjetunion zu einem repressiven zentralistischen Staat, der jegliche nationale Identitätsfindung durch eine aufgezwungene Russifizierung zu unterdrücken suchte und als ideologische Zielvorgabe eine Verschmelzung der Nationalitäten zu einem sowjetischen Volk propagierte. Seit dem Ende der 1980er Jahre kamen aber die bislang unterdrückten oder vertuschten Spannungen auf allen Ebenen zum Vorschein. Neben dem Ausbruch einiger lokal begrenzter nationaler Konflikte wurde auch das Streben der Republiken nach der Unabhängigkeit und Selbstbestimmung deutlich. Zunächst zielten die Forderungen der Republiken lediglich auf die Reform der staatsvertraglichen Grundlage. Nach dem gescheiterten Putsch im August 1991 war der Zerfall der UdSSR aber nicht mehr aufzuhalten.<br />
<br />
Am 8.12.1991 unterzeichneten die drei slawischen Republiken der Sowjetunion – Russland, Ukraine und Weißrussland – in Minsk (Weißrussland) einen Staatsvertrag über die Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (Abkommen von Minsk), in dessen Präambel sie feststellten, dass die Union der SSR als Subjekt des Völkerrechts und geopolitische Realität ihre Existenz beendet“. Die Parteien erklärten ihre Absicht, die gegenseitigen Beziehungen auf der Grundlage der gegenseitigen Anerkennung und des Respekts der staatlichen Souveränität, des Rechts auf Selbstbestimmung und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten aufzubauen. Es wurden auch Bereiche, in denen eine Kooperation (Art.&nbsp;4 des Abkommens) und eine gemeinsame Tätigkeit (Art.&nbsp;7 des Abkommens) angestrebt wurden, aufgezählt.<br />
<br />
Es wird diskutiert, ob dieses Abkommen insoweit völkerrechtswidrig war, als die Auflösung der Sowjetunion festgestellt wurde. Wahrscheinlich zielte diese Erklärung aber auch nicht darauf, die Auflösung der Sowjetunion als Rechtsfolge herbeizuführen. Dafür sprechen sowohl die Wortwahl („wir ... konstatieren, dass die Union der SSR ... ihre Existenz beendet“) als auch die systematische Stellung in der Präambel. Diese Frage kann aber dahingestellt bleiben, denn nur wenig später wurde die Gründung der GUS durch weitere Sowjetrepubliken bestätigt. Am 21.12.91 unterzeichneten die Teilnehmerstaaten der GUS mit Ausnahme der Republik Georgien, die der GUS offiziell am 23.12.1993 beigetreten ist, in Almaty (Kasachstan) eine Erklärung und ein Protokoll zum Abkommen über die Schaffung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. In der Erklärung wird auf das Abkommen von Minsk Bezug genommen und festgelegt, dass die Vertragsparteien „auf einer gleichberechtigten Grundlage“ die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten bilden. Das gegenseitige Respektieren der Staatssouveränität wird zugesichert, und es wird betont, dass die GUS weder ein Staat noch ein supranationales Gebilde ist. Schließlich wird vereinbart, dass mit der Gründung der GUS die Sowjetunion ihre Existenz beendet. Zusammen mit der Ratifizierung des Protokolls kündigten die Länderparlamente auch den Unionsvertrag, wodurch die Existenz der UdSSR auch ''de jure'' aufhörte.<br />
<br />
Die aufgelöste Sowjetunion hinterließ ihren Nachfolgestaaten ein widersprüchliches Erbe. Die erlangte staatliche Unabhängigkeit löste in den postsowjetischen Staaten eine Suche nach einer neuen nationalen Identität aus, die oftmals zu der Distanzierung gegenüber der gemeinsamen Vergangenheit im Rahmen der Sowjetunion und der daraus folgenden Befürchtung einer erneuten Hegemonie Russlands führte. Andererseits machten die vielfältigen Bindungen wirtschaftlicher, persönlicher, kultureller Natur, die nach dem Untergang der Sowjetunion über die neu gezogenen Landesgrenzen hinaus fortbestanden, einen kompletten Bruch zwischen den neu gegründeten Staaten weder möglich noch wünschenswert. Es erschien auch naheliegend, die Entstehung eines gemeinsamen Marktes im postsowjetischen Raum zu fördern, denn die Konkurrenzfähigkeit der dort produzierten Waren und Dienstleistungen war auf dem Weltmarkt mehr als zweifelhaft; auf dem Binnenmarkt der GUS könnten die Produkte aber gute Absatzchancen haben. Dieses Spannungsverhältnis zwischen der Desintegration, Reintegration und Neuintegration prägte und prägt die GUS in einem hohen Maße.<br />
<br />
== 3. Organisatorischer Rahmen der GUS ==<br />
<br />
=== a) Gründungsdokumente und Satzung der GUS ===<br />
<br />
Die Gründungsabkommen der GUS aus dem Jahr 1991, nämlich das Abkommen von Minsk sowie die in Almaty unterschriebenen Dokumente (Erklärung und Protokoll) sind sehr knapp. Das umfangreichste, das Abkommen von Minsk, umfasst lediglich 14 Artikel. Es fehlen die Bestimmungen über die Organstruktur der GUS und über das Inkrafttreten der Abkommen. Es werden zwar die Bereiche der gemeinsamen Tätigkeit (Art.&nbsp;7 Abkommen von Minsk), zu denen die Koordination der außenpolitischen Aktivitäten, die Zusammenarbeit bei der Entwicklung eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes, bei der Entwicklung von Transport und Fernmeldesystemen, auf dem Gebiet des Umweltschutzes sowie die Fragen der Migrationspolitik und die Bekämpfung der organisierten Kriminalität gehören, festgelegt. Ihre Realisierung wird aber den noch zu schaffenden und im Abkommen nicht weiter präzisierten koordinierenden Instituten überlassen. Es wird weiterhin festgehalten, dass „zum Zwecke der Sicherung der internationalen Stabilität und Sicherheit das einheitliche Kommando über die militärisch-strategischen Streitkräfte und die einheitliche Kontrolle über die Kernwaffen“ erhalten bleiben, aber auch hierzu werden keine weiteren Vereinbarungen getroffen. Es stellt sich somit die Frage, ob die GUS-Gründungsdokumente überhaupt als ein völkerrechtlicher Vertrag qualifiziert werden können oder ob sie mangels eines Rechtsbindungswillens lediglich eine politische Absichtserklärung darstellen. Anzumerken ist allerdings, dass das Wirtschaftsgericht der GUS in einer Entscheidung vom 31.3.94 (Nr. 02/94) diese Abkommen bezüglich der Frage, welche Staaten als Gründerstaaten der GUS angesehen werden können, als der später erlassenen Satzung vorrangige Gründungsdokumente der Gemeinschaft ansah.<br />
<br />
Dementsprechend wurde die GUS unmittelbar nach ihrer Entstehung, insbesondere durch die westlichen Beobachter, teilweise als eine Einrichtung, die lediglich eine „zivilisierte Scheidung“ unter den ehemaligen Sowjetrepubliken ermöglichen sollte, bezeichnet. In der Anfangsphase der GUS lag der Schwerpunkt der Zusammenarbeit in der Tat auf der Aufteilung des Vermögens und der Schulden der aufgelösten UdSSR. Zwar wurden bereits im ersten Jahr nach der Gründung rund 200 GUS-Dokumente verabschiedet. Die Qualität der Zusammenarbeit litt aber unter dem mangelnden Integrationswillen der Teilnehmer. Doch konnten diese desintegrativen Tendenzen abgeschwächt werden, so dass am 22.1.93 die Satzung der GUS verabschiedet wurde.<br />
<br />
Auch in der Satzung werden für die GUS-Teilnehmerstaaten keine konkreten Verpflichtungen festgelegt, vielmehr bringt die Satzung die Absicht zum Ausdruck, auf den bereits in den Gründungsdokumenten genannten und nun etwas präzisierten Gebieten zu kooperieren.<br />
<br />
Der GUS wurden keinerlei supranationale Befugnisse seitens ihrer Teilnehmer übertragen, was in Art. 1 der Satzung neben der Feststellung, dass die Gemeinschaft keinen Staat darstellt, explizit festgehalten wird. Die Grundlage der interstaatlichen Zusammenarbeit im Rahmen der GUS bilden gemäß Art. 5 der Satzung völkerrechtliche Verträge, die sowohl multilateral als auch bilateral ausgestaltet werden können. Die Entscheidungen der höchsten Organe der GUS (Rat der Staatsoberhäupter und Rat der Regierungschefs, vgl. unten) müssen einstimmig getroffen werden. Allerdings steht es jedem Staat frei, sich für an der Sache nicht interessiert zu erklären, was die Wirksamkeit der Entscheidung im Übrigen, insbesondere ihre Bindungswirkung unter den beteiligten Staaten, nicht tangiert (Art. 23 der Satzung). Diese Vorschriften bringen die Vorstellung von der GUS als einem Konvolut der Beziehungen zwischen einzelnen GUS-Staaten, die in ihrer Intensität divergieren können, zum Ausdruck. In den letzten Jahren ist auf der Grundlage der GUS ein kompliziertes Geflecht von zahlreichen völkerrechtlichen Verträgen und Abkommen mit jeweils wechselnden Teilnehmern entstanden. Insbesondere seit der Mitte der 1990er Jahre wird die Tendenz sichtbar, eine vertiefte wirtschaftliche Integration in kleinen Blöcken (z.B. Eurasische Wirtschaftsunion) oder auf der Grundlage bilateraler Abkommen (z.B. Union zwischen Russland und Weißrussland) anzustreben. Solche regionale Blöcke sind nicht alternativ, sondern komplementär zur GUS konzipiert, so dass in diesem Zusammenhang von der „Integration der verschiedenen Geschwindigkeiten“ gesprochen wird.<br />
<br />
=== b) Mitgliedschaft in der GUS ===<br />
<br />
In Bezug auf die Mitgliedschaft in der GUS unterscheidet die Satzung zwischen Gründungsstaaten, Mitgliedern, assoziierten Mitgliedern und Beobachtern (Art.&nbsp;7 und 8 der GUS-Satzung). Die Gründungsstaaten, d.h. die Staaten, die die Gründungsdokumente der GUS zum Zeitpunkt der Verabschiedung der Satzung unterschrieben und ratifiziert haben, verfügen über die Möglichkeit, GUS-Mitglied durch die bloße „Übernahme der Verpflichtungen aus dieser Satzung innerhalb eines Jahres seit ihrer Verabschiedung“ zu werden, worunter wohl die Ratifizierung zu verstehen ist. Im Übrigen steht der Beitritt zur GUS allen Staaten, die „die Ziele der Gemeinschaft teilen und die Verpflichtungen, die sich aus der Satzung ergeben, übernehmen“, offen. Hierzu ist die Zustimmung aller Mitglieder erforderlich (Art.&nbsp;7 der Satzung). Ein Austritt ist nach der Erfüllung der übernommenen Verpflichtungen und unter Beachtung einer Kündigungsfrist von 12 Monaten möglich (Art.&nbsp;9 der Satzung). <br />
<br />
Nach der bereits erwähnten Entscheidung des GUS-Wirtschaftsgerichtes aus dem Jahr 1994 konnten allerdings lediglich neun Staaten als Mitglieder der GUS angesehen werden. Dazu zählten die Republik Armenien, die Republik Kasachstan, die Kirgisische Republik, die Russische Föderation, die Republik Tadschikistan, die Republik Usbekistan, die Republik Weißrussland, die Republik Aserbaidschan und die Republik Georgien. Bezüglich der Republik Moldau, der Ukraine und Turkmenistans konnten die Voraussetzungen einer Vollmitgliedschaft nicht festgestellt werden. Nichtsdestotrotz beteiligten diese Staaten sich an den Abkommen, die nur den GUS-Mitgliedern offenstanden bzw. an der Arbeit der GUS-Organe, ohne dass dies seitens der GUS-Mitglieder beanstandet wurde. Um alle aufgezählten Staaten zu erfassen, wird daher die Bezeichnung „GUS-Teilnehmerstaaten“ oder einfach „GUS-Staaten“ verwendet.<br />
<br />
=== c) Die wichtigsten Organe der GUS ===<br />
<br />
Das oberste Organ der GUS ist gemäß Art.&nbsp;21 der GUS-Satzung der ''Rat der Staatsoberhäupter''. Diese Vertretung der Mitgliedstaaten auf der höchsten Ebene tritt zweimal jährlich zu seinen ordentlichen Sitzungen zusammen, außerordentliche Sitzungen können auf Antrag eines Mitgliedstaates einberufen werden. Dieses Organ berät und entscheidet über die grundlegenden Fragen der Zusammenarbeit der GUS-Staaten in den Bereichen ihrer gemeinsamen Interessen.<br />
<br />
Art.&nbsp;22 GUS-Satzung sieht neben dem Rat der Staatsoberhäupter den ''Rat der Regierungschefs'' vor. Seine Aufgabe ist die Koordinierung der Zusammenarbeit der Organe vollziehender Gewalt der GUS-Staaten in den Bereichen ihrer gemeinsamen Interessen. Die ordentlichen Sitzungen des Rates der Regierungschefs, in dem die Regierungen aller GUS-Staaten auf höchster Ebene vertreten sind, finden viermal jährlich statt.<br />
<br />
Das nicht in der GUS-Satzung festgelegte ''Exekutivsekretariat'' ist das ständige Verwaltungsorgan der GUS. Es wurde am 14.5.93 gegründet und beruht allein auf den entsprechenden Beschlüssen des Rates der Staatsoberhäupter. Die Hauptaufgabe des Exekutivsekretariats besteht in der organisationstechnischen Unterstützung der Tätigkeit des Rates der Staatsoberhäupter und des Rates der Regierungschefs. In der Praxis übernahm dieses Organ die Aufgaben des in Art. 28(1) der GUS-Satzung vorgesehenen Koordinations- und Konsultativkomitees, das seine Tätigkeit Ende 1993 eingestellt hatte.<br />
<br />
Weiterhin verfügt die GUS über das ''Wirtschaftsgericht'', das gemäß Art.&nbsp;32 der GUS-Satzung die Erfüllung der wirtschaftlichen Verpflichtungen im Rahmen der GUS gewährleisten soll. Es ist berechtigt, über die Auslegung der Abkommen und anderer Rechtsakte der Gemeinschaft bezüglich wirtschaftlicher Fragen zu entscheiden. Ferner gehören zu seiner Kompetenz Streitigkeiten über die Erfüllung der wirtschaftlichen Verpflichtungen, die sich aus den im Rahmen der GUS geschlossenen Verträgen sowie anderen Rechtsakten der Gemeinschaft ergeben. In diesem Verfahren ist das Gericht allerdings lediglich befugt, einen Verstoß gegen die Verpflichtungen festzustellen und Maßnahmen vorzuschlagen, die zu ergreifen dem verurteilten Staat empfohlen wird. Ein Verfahren zur Durchsetzung der Entscheidung ist nicht vorgesehen; der verurteilte Staat ist für die Durchführung der empfohlenen Maßnahmen alleine verantwortlich (Punkt 4 der Vereinbarung über das Wirtschaftsgericht der Gemeinschaft).<br />
<br />
Die ''Interparlamentarische Versammlung'' wurde ursprünglich nicht als GUS-Organ im eigentlichen Sinne, sondern als eine Institution zur Gewährleistung der interparlamentarischen Zusammenarbeit konzipiert (Art.&nbsp;36, 37 der GUS-Satzung). Erst im Jahre 1995 wurde sie aufgrund eines zwischen acht GUS-Staaten geschlossenen Vertrages als ein zwischenstaatliches Organ der GUS etabliert. Die Interparlamentarische Versammlung hat im Wesentlichen beratende Tätigkeit, die die Harmonisierung der Gesetzgebung in den GUS-Staaten fördern soll. Insbesondere ist sie befugt, gemäß Art.&nbsp;4 Punkt g der „Konvention über die Interparlamentarische Versammlung der GUS-Teilnehmerstaaten“ vom 26.5.95 Modellgesetze und Modellgesetzbücher zu verabschieden, die an die Parlamente der teilnehmenden Staaten weitergeleitet werden. <br />
<br />
Darüber hinaus verfügt die GUS über die ''Organe der interministerialen Zusammenarbeit'','' ''die in Art.&nbsp;27, 30, 31 der GUS-Satzung und durch Beschlüsse des Rates der Staatsoberhäupter bzw. des Rates der Regierungschefs geregelt sind. Sie werden aus den zuständigen Ministern der einzelnen Sachbereiche gebildet und sollen den Rat der Staatsoberhäupter bzw. den Rat der Regierungschefs unterstützen. Zu nennen sind insbesondere der Rat der Außenminister (Art.&nbsp;27 der GUS-Satzung), der Rat der Verteidigungsminister (Art.&nbsp;30 der GUS-Satzung) und der Rat der Befehlshaber der Grenztruppen (Art.&nbsp;31 der GUS-Satzung).<br />
<br />
Die von den Organen der GUS verabschiedeten Rechtsakte laufen allerdings weitgehend ins Leere. Es fehlen jegliche Mechanismen zu ihrer Durchsetzung viele von ihnen haben von Anfang an lediglich den Charakter einer Empfehlung. Die Rechtsakte der Gemeinschaft werden von der Wissenschaft kaum aufgearbeitet und systematisiert. Angesichts der enormen Menge der erlassenen Rechtsakte fehlt der GUS-Rechtsetzung dadurch jegliche Transparenz.<br />
<br />
== 4. Bedeutung der GUS für die Entwicklung des Privatrechts im postsowjetischen Raum ==<br />
<br />
=== a) Die Modellgesetzgebung ===<br />
<br />
Zur Zeit der Sowjetunion verfügten die Republiken über eigenständige Zivilgesetzbücher, die sich allerdings lediglich in einzelnen Detailfragen nicht prinzipieller Natur voneinander unterschieden. Zu berücksichtigen ist weiterhin, dass die Zivilrechtsquelle mit dem höchsten Rang nicht die Zivilgesetzbücher der Republiken, sondern die von der Union erlassenen „Grundlagen der Zivilgesetzgebung der UdSSR“ waren. Die Zivilgesetzbücher der Republiken mussten aus diesen Grundlagen unter der Berücksichtigung der dort vorgenommenen Kompetenzverteilung zwischen den Republiken und der Union entwickelt werden. Auf diese Weise entstand in der Sowjetunion ein weitgehend einheitliches Zivilrecht. <br />
<br />
Eines der ursprünglichen Ziele der GUS war es den bestehenden einheitlichen Rechtsraum soweit wie möglich zu erhalten, was insbesondere durch die Gründung der Interparlamentarischen Versammlung (s.o.) bekräftigt wurde. Der politische Wille dieses Ziel auch weiter zu verfolgen ist zumindest auf Seiten Russlands nach wie vor vorhanden. Die vom Präsidenten Dmitrij Medvedev im Juli 2008 unterschriebene Präsidentenverordnung („Ukaz“), in der die Erarbeitung der Konzeption zur Weiterentwicklung des [[Russisches Zivilgesetzbuch|Russischen Zivilgesetzbuchs]] angeordnet wird, enthält als ein ausdrücklich genanntes Ziel neben der Anpassung der Zivilgesetzgebung an die wirtschaftliche Entwicklung und der Annäherung an das Recht der Europäischen Union auch die Aufrechterhaltung der Einheitlichkeit in den zivilrechtlichen Regulierungen der GUS angehörenden Staaten.<br />
<br />
Die von der Interparlamentarischen Versammlung zu verabschiedende Modellgesetzgebung scheint ein großes Potential zur Förderung dieses Ziels zu haben. Da die Rechtsordnungen aller an der GUS beteiligten Staaten gemeinsame Wurzeln in dem sowjetischen Zivilrecht haben und mit ähnlichen Problemen, die sich aus dem Transformationsprozess ergeben, konfrontiert sind, erscheint die Erarbeitung von gemeinsamen Lösungen als eine sinnvolle Strategie von der insbesondere die ärmeren Länder profitieren könnten.<br />
<br />
In den letzten Jahren wurden bereits über 200 Modellgesetze und &#8209;gesetzbücher verabschiedet, darunter auf dem Gebiet des Privatrechts die Modellgesetze zur Insolvenz und zu den Kapitalgesellschaften. Für ein Modellzivilprozessbuch gibt es seit 2003 ein Konzeptpapier. Auch an dem Entwurf eines neuen Modellgesetzes für Aktiengesellschaften wird gearbeitet. Es kann wohl davon ausgegangen werden, dass die Modellgesetze zumindest die Diskussion in den einzelnen Ländern mitprägen. Darüber, in welchem Maße die dort entwickelten Lösungen Eingang in die nationale Gesetzgebung finden, gibt es aber kaum Erkenntnisse. <br />
<br />
Das bedeutendste Modellgesetz, das von der Interparlamentarischen Versammlung erlassen wurde, ist das Modellzivilgesetzbuch. Es beeinflusste stark die Zivilgesetzbücher von Armenien, Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgisistan, Russland, Tadschikistan und Usbekistan und kann damit als ein für diese Staaten gemeinsamer Referenzrahmen der Zivilgesetzgebung gelten. Das Zivilgesetzbuch ist in diesem System als eine Art „Verfassung des Marktes“ konzipiert. Weitere Rechtsnormen auf dem Gebiet des Zivilrechts müssen dem Zivilgesetzbuch entsprechen (Art. 2 Teil 1 Modellzivilgesetzbuch GUS, vgl. auch Zivilgesetzbücher Usbekistans (Art. 3), Tadschikistans (Art. 2 Teil 1), Ukraine (Art. 4 Teil 2), Kasachstans (Art. 3 Teil 2), Kirgisiens (Art. 2 Teil 4), Armeniens (Art. 1, Teil 1, Satz 2), Aserbaidschans (Art. 2.1). (vgl. ausführlich [[Russisches Zivilgesetzbuch]]). Das Modellzivilgesetzbuch besteht aus drei Büchern, mit fortlaufend nummerierten Vorschriften, die separat von 1994 bis 1996 erlassen wurden. Das erste Buch enthält den allgemeinen Teil, der aus Unterteilen „Allgemeine Bestimmungen“ und „Personen“ besteht, das Eigentumsrecht und das allgemeine Schuldrecht. Das zweite Buch enthält das besondere Schuldrecht, das dritte Buch die Regelungen des intellektuellen Eigentums, des Erbrechts und des internationalen Privatrechts. Damit wiederholt es die Struktur der „Grundlagen der Zivilgesetzgebung der UdSSR“ und des Zivilgesetzbuchs Russlands aus dem Jahr 1964. Auch inhaltlich wurde die Kontinuität zum sowjetischen Zivilrecht in einem relativ hohen Maße beibehalten. Das Modellzivilgesetzbuch enthält z.B. solche Institute des sowjetischen Rechts wie das Recht der Bewirtschaftung und der Operativen Verwaltung (Kapitel 19, Art. 297&nbsp;ff. Modellzivilgesetzbuch GUS).<br />
<br />
=== b) Die sog. Rechtshilfe&shy;abkommen: gemeinsames IPR und gegen&shy;seitige Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen===<br />
<br />
Der institutionelle Rahmen der GUS erleichtert den Abschluss von multilateralen Abkommen unter den GUS-Staaten. Die bedeutendsten Abkommen für das Zivilrecht sind die Minsker Konvention vom 22.1.1993 „Über Rechtshilfe und Rechtsverhältnisse in Zivil-, Familien- und Strafsachen“ sowie das Kiewer Übereinkommen von 20.3.1992 „Über das Verfahren der Entscheidung von Streitigkeiten, die mit der Ausübung wirtschaftlicher Tätigkeit verbunden sind“. Für beide Abkommen wurden inzwischen Nachfolgeverträge ausgearbeitet. Am 7.10.2002 wurde in Chişinău (Moldawien) eine Konvention über Rechtshilfe und Rechtsverhältnisse in Zivil-, Familien- und Strafsachen (im russischen Sprachgebrauch: „Kišinever Konvention“) durch die GUS-Länder (mit Ausnahme von Turkmenistan und Usbekistan) unterschrieben. Bis jetzt ist sie aber lediglich von sechs GUS-Staaten, nämlich Aserbaidschan, Armenien, Weißrussland, Kasachstan, Kirgisistan, und Tadschikistan ratifiziert worden. Das Nachfolgerabkommen für das Kiewer Übereinkommen, das Moskauer Übereinkommen vom 6.3.1998, ist seit 9.1.2001 für Aserbaidschan, Kasachstan und Tadschikistan in Kraft. <br />
<br />
Die Rechtshilfeabkommen setzen die entsprechende Praxis aus der UdSSR fort und regeln neben der Rechtshilfe im engeren Sinne auch Fragen der internationalen Zuständigkeit, des anwendbaren Rechts und der gegenseitigen Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen und teilweise behördlichen Entscheidungen.<br />
<br />
Damit wurde ein IPR geschaffen, das im Verhältnis der an der Konvention teilnehmenden Staaten zu einander einheitlich zur Anwendung kommt und dadurch in der Rechtsanwendungspraxis eine große Rolle spielen dürfte. Die durch die beiden Rechtshilfeabkommen aufgestellten Grundsätze wurden zu einem großen Teil in das Modellzivilgesetzbuch übernommen und dort erheblich weiterentwickelt. Vor allem bei der Anknüpfung des Vertragsstatuts stellte das Modellzivilgesetzbuch eine andere Regelung als die beiden Rechtshilfeabkommen auf. Während das Kiewer Übereinkommen und die Minsker Konvention ''lex loci actus ''für maßgeblich erklären (Art. 41 der Minsker Konvention, Art. 11(f) Kiewer Übereinkommen), ist nach dem Modellzivilgesetzbuch das Recht des Landes anwendbar, in dem diejenige Vertragspartei ihren Sitz hat, welche die charakteristische Leistung erbringt (Art. 1225 Modellzivilgesetzbuch). Außerdem haben die in der Minsker Konvention aufgestellten Regelungen zum internationalen Ehe- und Familienrecht in dem Modellzivilgesetzbuch keine Entsprechung. Wie bereits die Zivilgesetzbücher der Sowjetzeit klammert das Modellzivilgesetzbuch das Familienrecht aus seinem Anwendungsbereich aus und behält die Regelung einem Familiengesetzbuch vor, das auch die kollisionsrechtlichen Regelungen enthalten soll. <br />
<br />
Bei der gegenseitigen Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen spielen die Rechtshilfeabkommen ebenfalls eine große praktische Rolle. Die Minsker Konvention erlaubt eine gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen der Justizbehörden in Zivil- und Familiensachen einschließlich gerichtlich bestätigter Vergleiche in diesen Sachen und notarieller Urkunden über Geldschulden sowie Entscheidungen der Gerichte über Schadensersatz in Strafsachen (Art. 51&nbsp;ff). Das Kiewer Übereinkommen regelt die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von rechtskräftigen Entscheidungen der zuständigen Gerichte, allerdings nur in Wirtschaftssachen. Diese werden in Art.&nbsp;1 des Übereinkommens als Streitigkeiten definiert, die aus vertraglichen und anderen zivilrechtlichen Beziehungen zwischen den Wirtschaftssubjekten untereinander sowie ihrer Beziehungen zu den staatlichen und anderen Organen resultieren. Beide Abkommen enthalten einen Katalog der Gründe, aus denen die Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung versagt werden kann. Eine inhaltliche Überprüfung der anzuerkennenden Entscheidung findet dabei nicht statt. Zu den Anerkennungsversagungsgründen zählen insbesondere fehlende internationale Zuständigkeit des Erstgerichts, eine entgegenstehende Rechtskraft, Verletzung des Rechts auf das rechtliche Gehör, Ablauf der Vollstreckungsfrist. Einen ausdrücklichen ''ordre public''-Vorbehalt enthalten die Abkommen nicht, es wird dennoch – zumindest durch die russischen Gerichte – geprüft, ob ein Verstoß vorliegt.<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Theodor Schweisfurth'', Vom Einheitsstaat (UdSSR) zum Staatenbund (GUS), Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 1992, 541&nbsp;ff.; ''Wolfgang Seiffert'', Von der Sowjetunion (UdSSR) zur Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), Osteuropa-Recht 1992, 79&nbsp;ff.; ''Dietrich Frenzke'', Rechtliche Dokumente zum Moskauer Putsch und zur Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, Osteuropa-Recht 1992, 96, 125&nbsp;ff.; ''Boris Meissner'', Das politische Paktsystem innerhalb der GUS, Osteuropa-Recht 1994, 226&nbsp;ff.; ''Ferenc Majoros'', Eine umfassende multilaterale Regelung der Rechtsbeziehungen in Zivil-, Familien-, und Strafsachen unter den GUS-Staaten, Osteuropa-Recht 1998, 2&nbsp;ff.; ''Oxana M. Balayan'', Institutionelle Struktur der Wirtschaftsintegration in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), 1999; ''Katlijn Malfliet'', The Commonwealth Of Independent States: Towards Supranationalism?, in: Ferdinand Feldbrugge (Hg.), Law in Transition, 2002, 99&nbsp;ff.; ''V.P. Kirilenko'','' Ju. V. Mišal’čenko'', Pravo Sodružestva Nezavisimych Gosudarstv v sisteme meždunarodnogo prava, Moskovskij Žurnal meždunarodnogo prava 2003, Nr. 3, 109&nbsp;ff.; ''Rilka Dragneva'', Is “Soft” Beautiful? Another Perspective on Law, Institutions, and Integration in the CIS, Review of Central and East European Law 2004, Nr. 3, 279&nbsp;ff.; ''V.N. Šumskij'','' ''Soveršenstvovanie organizacionno-pravovoj osnovy dejatel’nosti Sodružestva Nezavisimych Gosudarstv, Zakonodatel’stvo I Ekonomika 2007, Nr. 9, 4&nbsp;ff.<br />
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[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Commonwealth_of_Independent_States_(CIS)]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Common_law&diff=1687Common law2021-09-08T10:31:20Z<p>Richter: </p>
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<div>von ''[[Stefan Vogenauer]]''<br />
== 1. Begriff ==<br />
Der Begriff ''common law'' hat vier verschiedene Bedeutungen, die sich jeweils im Gegensatz zu anderen Gegenständen entwickelten. Ursprünglich bezeichnete er das „gemeine“, also in ganz England geltende Recht, das die königlichen Richter im Mittelalter unter allmählicher Verdrängung der lokalen Rechte schufen. Später verstand man darunter allgemeiner die Summe der Rechtssätze des [[Richterrecht]]s im Gegensatz zum Gesetzes- und Gewohnheitsrecht. Im Bereich des Fallrechts bezeichnet der Begriff ''common law'' im engeren Sinne auch die von den königlichen Gerichten in Westminster (den sogenannten ''common law courts'') entwickelten Rechtssätze im Gegensatz zu den Rechtsnormen der ''[[equity]]'', die aus der eigenständigen Gerichtsbarkeit des Lordkanzlers hervorgingen. Letztere entstanden ursprünglich als Korrektiv zur einzelfallorientierten Abmilderung von Härten des formstrengen ''common law'' im Namen der Billigkeit, verfestigten sich aber später zu generell-abstrakten Regeln. Heute ist die Unterscheidung von ''common law'' und ''equity'' im englischen Recht nur noch von historischem Interesse.<br />
<br />
Für die Entwicklung des europäischen Privatrechts ist lediglich die vierte Bedeutung des Begriffs ''common law'' relevant. Darin bezeichnet er die Gesamtheit der Rechtsordnungen, die sich auf das englische Recht zurückführen lassen. Aufgrund der imperialen Eroberungspolitik der Krone gerieten seit der frühen Neuzeit große Teile der Erdoberfläche unter englische Herrschaft. Dazu gehörten etwa Irland, die heutigen USA (ohne Louisiana), das heutige Kanada (ohne Quebec), Australien, Neuseeland, Jamaika, Indien und weitere asiatische, karibische und afrikanische Kolonien. In diesen Territorien wurde umgehend die Geltung des englischen Rechts begründet. In der Regel galt es zwar nur für bestimmte Rechtsgebiete, etwa das Handelsrecht, oder nur für die westliche Oberschicht, etwa im Familien- und Erbrecht. Dennoch prägte das englische Recht im Laufe der Zeit den Rechtsstil dieser Jurisdiktionen. Gegen Entscheidungen ihrer obersten Gerichte bestand der Rechtszug zum ''Privy Council'' in London, der eine weitgehende Einheitlichkeit des ''common law'' im gesamten Commonwealth sicherstellte. Diese anglo-amerikanische Rechtsfamilie wird im englischsprachigen Sprachraum gewöhnlich der kontinentaleuropäischen Rechtstradition des ''civil law'' gegenübergestellt.<br />
<br />
== 2. Europäisches Privatrecht und die Dichotomie von ''common law'' und ''civil law'' ==<br />
Die Existenz zweier Rechtstraditionen in Europa gilt vielen als Haupthindernis für jegliche Rechtsvereinheitlichung oder &#8209;harmonisierung in Europa, auch und gerade im Bereich des Privatrechts. Dabei ist die schlagwortartige Verwendung der Ausdrücke ''common'' und ''civil law'' zumindest ungenau. Erstens verbergen sich hinter dem Sammelbegriff ''civil law'' ganz unterschiedliche Rechtstraditionen, die kontinentale Rechtsvergleicher in der Regel in den romanischen, den germanischen und den nordischen Rechtskreis unterteilen. Auch diese Rechtstraditionen weisen untereinander erhebliche Unterschiede auf, die manchmal größer sind als die jeweiligen Divergenzen zum ''common law''. Darüber hinaus umfasst das ''civil law'' auch außereuropäische Rechtsordnungen, vor allem die lateinamerikanischen Rechte. Zweitens sind die Rechtsordnungen des ''common law'' ebenfalls kein monolithischer Block. Als Faustformel darf gelten, dass die Rechte der ehemaligen Kolonien umso stärker vom englischen Recht abweichen, je länger ihre Unabhängigkeit zurückliegt und je früher sie den Rechtszug zum ''Privy Council'' abgeschafft haben. Das Recht der USA etwa weist heute derart viele, auch tiefliegende strukturelle Unterschiede zum englischen Recht auf, dass es zwar noch möglich scheint, aus historischer Perspektive von einer anglo-amerikanischen Rechtstradition zu sprechen, nicht aber im Hinblick auf die Gegenwart von „anglo-amerikanischem Recht“ zu reden. Ohnehin ist England die einzige nennenswerte Rechtsordnung des ''common law'' in Europa. Selbst das [[schottisches Privatrecht|schottische Privatrecht]], das jahrhundertelang von kontinentalen Rechtsentwicklungen geprägt und erst nach der politischen Vereinigung mit England im Jahre 1707 zunehmend vom englischen Recht beeinflusst wurde, gilt nicht als Rechtsordnung des ''common law'' im eigentlichen Sinne, sondern als [[Mischrechtsordnungen|Mischrechtsordnung]], die zahlreiche Elemente des ''civil law'' aufweist. Im Hinblick auf das europäische Privatrecht sollten daher richtigerweise nicht ''common law'' und ''civil law'', sondern englisches Recht und kontinentale Rechte einander gegenübergestellt werden.<br />
<br />
== 3. Stilprägende Elemente des englischen Rechts ==<br />
Ein unübersehbares Hindernis für die Vereinheitlichung des europäischen Privatrechts sind zunächst die sogenannten „stilprägenden Rechtsinstitute“ des englischen Rechts, etwa der ''trust'' ([[Trust und Treuhand|''Trust'' und Treuhand]]) oder die Lehre von der ''consideration'' ([[Seriositätsindizien]]). Weitaus gewichtiger sind aber die tiefer liegenden, strukturellen Besonderheiten, die sich aus der englischen Rechtsgeschichte erklären lassen. So ist das englische Recht traditionell [[Richterrecht]]. Jahrhundertelang wurden die gesetzgebenden Organe nur sporadisch tätig und überließen die Rechtserzeugung den Gerichten. Bis heute gelten daher auch die Richter, und nicht etwa die Professoren, als die tonangebende und angesehenste Berufsgruppe („Rechtshonorationen“) des englischen Rechts. Das lange Zeit geringe Ansehen der Rechtsgelehrten lässt sich auch darauf zurückführen, dass das englische Recht über Jahrhunderte nicht an den Universitäten gelehrt, sondern in den Londoner Zünften, den ''Inns of Court'', von Richtern und Anwälten an die nachwachsenden Juristengenerationen weitergegeben wurde. Es zeichnet sich daher traditionell durch eine relativ geringere Verwissenschaftlichung und hohe Praxisnähe aus.<br />
<br />
Wenig ausgeprägt ist demgemäß auch der Gedanke, das Recht stelle ein in sich geordnetes, geschlossenes und harmonisches Ganzes, ein „System“ dar. Lange Zeit standen einzelne Rechtsmassen, etwa ''common law'' und ''equity'', unverbunden nebeneinander, und noch heute werden Bezüge zwischen verschiedenen Rechtsgebieten nicht besonders herausgestellt. Der juristische Denkstil besteht eher in einem induktiven Vorantasten von Fall zu Fall als in deduktiver Ableitung aus allgemeinen Prinzipien. Bekanntestes Beispiel im Privatrecht ist das Fehlen eines allgemeinen Grundsatzes von [[Treu und Glauben]], aus dem sich Handlungsanweisungen für den Einzelfall ableiten ließen. An seiner Stelle findet sich eine Vielzahl einzelner Rechtsfiguren, die mit Teilaspekten des Prinzips von Treu und Glauben funktionsäquivalent sind. Übersehen wird freilich häufig, dass auch das englische Recht mit weitgespannten Rechtsprinzipien operiert. So ist etwa das Vertragsrecht ganz vom Grundsatz der Vertragsfreiheit dominiert. Überhaupt betont das englische Privatrecht, insofern noch immer in einer langen liberalen Tradition stehend, ganz überwiegend die individuelle Freiheit der Rechtsunterworfenen und steht sozialstaatlichem Denken eher skeptisch gegenüber. Damit im Zusammenhang steht die starke Betonung der Rechtssicherheit. Sie ist der zentrale Rechtswert des englischen Privatrechts, selbst wenn sich dies im Einzelfall auf Kosten der materiellen Gerechtigkeit auswirken sollte. Hierbei spielt sicherlich eine Rolle, dass sich das englische Privatrecht zunächst hauptsächlich in den besonders rechtssicherheitsorientierten Gebieten des Immobiliarsachenrechts und des Handelsrechts entwickelte.<br />
<br />
== 4. Konvergenz von ''common law'' und ''civil law''? ==<br />
Im Hinblick auf diese und andere stilprägende Elemente des englischen Rechts wird gelegentlich behauptet, die Mentalitätsunterschiede zwischen englischen und kontinentaleuropäischen Juristen seien unüberbrückbar. In der neueren Forschung wird diese Behauptung in zunehmendem Maße in Frage gestellt und die idealtypische Gegenüberstellung von ''common law'' und ''civil law'' als „überholte Unterscheidung“ bezeichnet (''James Gordley''). Dabei lassen sich drei Argumentationsstränge unterscheiden. Erstens hat vor allem ''Reinhard Zimmermann'' darauf hingewiesen, dass sich das englische Recht, anders als lange angenommen, nicht in völliger Isolierung vom kontinentalen [[ius commune (Gemeines Recht)|''ius commune'']] entwickelte. Zwar wurde das [[römisches Recht|römische Recht]] nie umfassend rezipiert. Doch gab es bis weit in das 18.&nbsp;Jahrhundert hinein zahlreiche Einfallstore für kontinentales Rechtsdenken. Zweitens entfaltet heute das Recht der [[Europäische Gemeinschaft|Europäischen Gemeinschaft]] durch Rechtsangleichung weiter Gebiete eine zumindest oberflächlich nivellierende Tendenz. Drittens haben sowohl das englische Recht als auch die kontinentalen Rechtsordnungen im Verlauf des 20. Jahrhunderts verschiedene Rechtsentwicklungen erfahren, durch die eine gewisse Annäherung erfolgt ist. So hat sich etwa das englische Recht durch den starken Aufschwung der [[Rechtswissenschaft]] in den letzten Jahrzehnten zu einem gewissen Grade verwissenschaftlicht. Dagegen sind der Einfluss und die stilbildende Kraft der Rechtswissenschaft auf dem Kontinent stetig zurückgegangen, während die Rechtsprechung einen enormen Bedeutungsgewinn erfahren hat. Ferner kann das ''civil law'' nicht mehr einfach mit Gesetzesrecht und das ''common law'' nicht mehr ohne weiteres mit Richterrecht gleichgesetzt werden. Die Rechtsquellenlage ist auf beiden Seiten des Kanals wesentlich komplexer. Das bedeutet nicht, dass zwischen dem englischen Recht und den kontinentalen Rechtsordnungen keine signifikanten Unterschiede bestehen würden. Gleichzeitig erscheint jedoch die These der Unmöglichkeit eines europäischen Privatrechts aufgrund unüberbrückbarer Mentalitätsunterschiede als unhaltbar.<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Theodore F.T. Plucknett'', A Concise History of the Common Law, 5.&nbsp;Aufl. 1956; ''Reinhard Zimmermann'', Der europäische Charakter des englischen Rechts: Historische Verbindungen zwischen civil law und common law, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 1 (1993) 4 ff.; ''James Gordley'', Common law und Civil law: Eine überholte Unterscheidung, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 1 (1993) 498&nbsp;ff.; ''Konrad'' ''Zweigert'', ''Hein'' ''Kötz'', Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, 3.&nbsp;Aufl. 1996, 177&nbsp;ff.; ''John H. Baker'', An Introduction to English Legal History, 4.&nbsp;Aufl. 2002; ''Roger Cotterrell'', The Politics of Jurisprudence, 2.&nbsp;Aufl. 2003, Kap.&nbsp;2; ''Mathias Reimann'', Die Erosion der klassischen Formen: Rechtskulturelle Wandlungen des Civil Law und Common Law im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte 28 (2006) 209&nbsp;ff.; ''H. Patrick Glenn'', Legal Traditions of the World, 3.&nbsp;Aufl. 2007, 227&nbsp;ff.<br />
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[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Common_Law]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Common_Frame_of_Reference&diff=1685Common Frame of Reference2021-09-08T10:30:51Z<p>Richter: </p>
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<div>von ''[[Reinhard Zimmermann]]''<br />
== 1. Hintergrund ==<br />
Nach allgemeiner Meinung ist das europäische Vertragsrecht in einem unbefriedigenden Zustand. Es besteht im Kern aus einem Flickenteppich untereinander schlecht koordinierter [[Richtlinie]]n, mit einem deutlichen Schwerpunkt im Verbrauchervertragsrecht ([[Verbraucher und Verbraucherschutz]]). Eine isolierte Revision des Verbraucher-''acquis'' böte allenfalls eine halbe Lösung, bliebe doch so das zentrale Problem des Verhältnisses von Verbrauchervertragsrecht und allgemeinem Vertragsrecht ungelöst. Denn dass der Verbraucher-''acquis'' der [[Europäische Union|Europäischen Union]] allein ein System des [[europäisches Privatrecht|europäischen Privatrecht]]s nicht zu tragen vermag, lässt sich nicht zuletzt an dem Versuch eines regelförmigen ''„[[Restatements]]“'' des Verbraucher-''acquis'' durch die ''Research Group on the Existing EC Private Law'' (''Acquis Group'') erkennen (''[[Acquis Principles]]''). Deshalb halten manche eine Kodifikation des gesamten europäischen Vertragsrechts für wünschenswert ([[Europäisches Zivilgesetzbuch]]). Protagonist dieser Ansicht ist seit einer ersten Resolution aus dem Jahre 1989 das [[Europäisches Parlament|Europäische Parlament]]. Doch ist ein derartiges Vorhaben gegenwärtig weder praktisch durchsetzbar, noch besteht dafür nach weit überwiegender Ansicht eine Kompetenzgrundlage. Deshalb wurde der Gedanke eines „optionalen Instruments“ ins Spiel gebracht, also einer weiteren Vertragsrechtsordnung (neben den etwa 30 in Europa bereits bestehenden), auf die die Parteien eines Vertrages sich einigen können. Seit 2003, als er in einer Mitteilung der [[Europäische Kommission|Europäischen Kommission]] an das [[Europäisches Parlament|Europäische Parlament]] und den Rat ([[Rat und Europäischer Rat]]) zum ersten Mal gebraucht wurde (Ein Kohärentes Europäisches Vertragsrecht: Ein Aktionsplan, KOM(2003) 68 endg.), trat demgegenüber der schillernde Begriff eines Gemeinsamen Referenzrahmens (''Common Frame of Reference'', CFR) immer stärker in den Vordergrund, der heute die Diskussion beherrscht. Zur Vorbereitung dieses CFR wurden im Jahre 2005 eine Reihe bereits bestehender internationaler Wissenschaftlergruppen in einem ''Joint Network on European Private Law'' (CoPECL ''network'') zusammengeführt und im Rahmen des sechsten Rahmenprogramms für Forschung der EU finanziert. Unter diesen Wissenschaftlergruppen spielen die ''[[Study Group on a European Civil Code]]'' und die ''Acquis Group'' die führende Rolle. Sie bilden nach eigener Angabe (gemeinsam mit der nur für einen Teilbereich zuständigen ''Insurance Contract Group'') „the so-called ‚drafting teams’ of the CoPECL network“. Resultat dieser Vorarbeiten ist der ''Draft Common Frame of Reference'' (DCFR), der in einer ''Interim Outline Edition'' im Februar 2008 und in einer ''Outline Edition'' im Februar 2009 publiziert worden ist.<br />
<br />
== 2. Inhalt ==<br />
Der DCFR besteht formal aus drei Teilen. Ganz im Zentrum steht, unter dem Titel „Model Rules“, der Entwurf eines Europäischen Zivilgesetzbuches, das weit über das Vertragsrecht hinausgreift und wesentliche Teile des Vermögensrechts umfasst. Er wird ergänzt durch einen Katalog von mehr als 150 Definitionen und einen diskursiven Abschnitt, der den tragenden Grundsätzen des DCFR, der Freiheit, Sicherheit, Gerechtigkeit und Effizienz, gewidmet ist. Im Folgenden wird als DCFR der im Zentrum stehende Kodifikationsentwurf bezeichnet. Dieser besteht aus zehn Büchern.<br />
<br />
Das etwas heterogene Buch&nbsp;I (''General provisions'') enthält nur zehn Regeln. Sie betreffen den Anwendungsbereich und die Auslegung des DCFR sowie die [[Fristberechnung]] und Mitteilungen (''notices''). Außerdem finden sich hier eine Reihe von Begriffsbestimmungen (darunter ''good faith and fair dealing'','' reasonableness'','' consumer'','' business'') und ein Verweis auf den Anhang mit Definitionen (die gelten sollen „unless the context otherwise requires“).<br />
<br />
Die Bücher&nbsp;II und III enthalten, was in Deutschland als Rechtgeschäftslehre ([[Rechtsgeschäft]]) und allgemeines Schuldrecht bezeichnet werden würde. So finden sich in Buch&nbsp;II die Regeln über [[Vertragsschluss]], [[Stellvertretung]], Gültigkeit (insbesondere: Konsensmängel, [[Sitten- und Gesetzwidrigkeit von Verträgen|Sitten- und Gesetzwidrigkeit]]), [[Auslegung von Verträgen|Auslegung sowie Inhalt und Wirkungen von Verträgen]]. Buch&nbsp;III befasst sich demgegenüber mit Erfüllung ([[Erfüllung und ihre Surrogate]]), Rechtsbehelfen bei [[Nichterfüllung]], [[Gläubigermehrheiten|Gläubiger-]] und Schuldnermehrheiten ([[Gesamtschuld]]), Übertragung von Rechten und Verbindlichkeiten ([[Abtretung]], [[Schuldübernahme]], [[Vertragsübernahme]]), [[Aufrechnung]] und [[Verjährung]]. Systematisch hängt diese Aufgliederung des Stoffes an den Begriffen „Vertrag und andere Rechtsgeschäfte“ (''Contracts and other juridical acts'') und „Verbindlichkeiten und korrespondierende Rechte“ (''Obligations and corresponding rights''). Eine Verbindlichkeit wird als Leistungspflicht einer Partei eines Rechtsverhältnisses gegenüber einer anderen definiert; der Begriff bezieht sich damit auf rechtsgeschäftliche und gesetzliche Schuldverhältnisse. Sowohl Buch&nbsp;II als auch Buch&nbsp;III beginnen mit einem [[Allgemeiner Teil|Allgemeinen Teil]], der Definitionen und tragende Grundsätze enthält ([[Vertragsfreiheit]], Formfreiheit &#91;[[Formerfordernisse]]&#93;, [[Treu und Glauben]]), aber auch ein Potpourri von Regelungen zu konkreten Rechtsfragen, die sonst offenbar nicht recht unterzubringen waren.<br />
<br />
Buch&nbsp;IV ist besonderen Vertragstypen gewidmet und erfasst in seinem acht Unterabschnitten [[Kauf]], Miete beweglicher Sachen ([[Miete und Pacht]]), Verträge über Dienstleistungen ([[Dienst(leistungs)vertrag|Dienstleistungsvertrag]]) unter Ausschluss des Arbeitsrechts, Auftrag, [[Handelsvertreter]]-, Franchise- und Vertriebsverträge (''[[Franchising]]''; [[Vertrieb]]), [[Darlehen]], persönliche Kreditsicherheiten ([[Bürgschaft (modernes Recht)|Bürgschaft]]; [[Garantie]]) und [[Schenkung]]. Bei der Vorbereitung des Kaufrechts haben natürlich das UN-Kaufrecht ([[Warenkauf, internationaler (Einheitsrecht)]]) und die Verbrauchsgüterkauf-RL (RL 1999/44) ([[Verbrauchsgüterkauf]]) eine besondere Rolle gespielt; die Verfasser des DCFR konnten insoweit an erprobte Vorbilder und an eine bis auf ''Ernst Rabels'' große Monographie zum internationalen Warenkauf zurückreichende rechtsvergleichende Diskussion anknüpfen. Das gilt nicht, oder doch nur in sehr eingeschränktem Maße, für die anderen erwähnten Vertragstypen. Wie sehr der DCFR hier im Bereich von [[Rechtsvergleichung]] und Rechtsvereinheitlichung Neuland betritt, wird bereits aus einem ersten Überblick über die Struktur des Abschnitts über die Erbringung von Dienstleistungen (''services'') deutlich: Er enthält nach einem Allgemeinen Teil (dem wiederum einige Regeln noch allgemeineren Zuschnitts vorangestellt sind) besondere Unterabschnitte über eine Reihe von „Basisaktivitäten“: Herstellung, Bearbeitung, Verwahrung, Entwürfe (''design''), Rat und Information sowie (medizinische) Behandlung. Für viele dieser besonderen (in der Terminologie des deutschen Rechts:) Dienst- und [[Werkvertrag|Werkverträge]] enthalten die bestehenden europäischen [[Kodifikation]]en keine eigenständigen Regelungen.<br />
<br />
Eingefügt in dieses traditionell-privatrechtliche Regelsystem ist das (bisweilen freilich ins Allgemeine hinein erweiterte) ''ius novum'' des ''acquis communautaire'': Nichtdiskriminierung ([[Diskriminierungsverbot (allgemein)]]), [[Informationspflichten (Verbrauchervertrag)|Informationspflichten]], unbestellte Zusendung von Waren ([[unbestellte Waren]]) oder Dienstleistungen, [[Widerrufsrecht]]e (dies alles in Buch&nbsp;II), die Regeln über Verbrauchsgütergarantien ([[Verbrauchsgüterkauf]]) und eine Vielzahl weiterer verbraucherschützenden Maßnahmen im Kaufrecht (Buch&nbsp;IV&nbsp;A.) sowie ein Unterabschnitt mit Sonderregeln über persönliche Sicherheiten durch Verbraucher (Buch&nbsp;IV&nbsp;G.). Besondere Verbraucherschutzregeln, die freilich nicht in einem eigenständigen Unterabschnitt zusammengefasst sind, enthält auch Buch&nbsp;IV&nbsp;B. über die Miete beweglicher Sachen.<br />
<br />
Die Bücher&nbsp;V, VI und VII des DCFR befassen sich mit den gesetzlichen Schuldverhältnissen: [[Geschäftsführung ohne Auftrag (negotiorum gestio)|Geschäftsführung ohne Auftrag]], außervertragliche Haftung ([[Deliktsrecht: Allgemeines und lex Aquilia|Deliktsrecht]]) und ungerechtfertigte Bereicherung ([[Bereicherungsrecht]]). Buch&nbsp;VIII enthält Regeln über Erwerb und Verlust von Eigentum an beweglichen Sachen ([[Eigentumsübertragung (beweglicher Sachen)|Eigentumsübertragung]]), Buch&nbsp;IX über dingliche Sicherheiten an beweglichen Sachen ([[Mobiliarsicherheiten]]) und Buch&nbsp;X über ''trusts'' ([[Trust und Treuhand|''Trust'' und Treuhand]]). Insgesamt lässt sich die Reichweite des DCFR vielleicht am besten ermessen, wenn man sich vor Augen führt, welche Bereiche ausdrücklich ausgeschlossen sind (Art.&nbsp;I.-1:01(2)): [[Geschäftsfähigkeit]] natürlicher Personen, [[Erbrecht]], Familienrecht, Wertpapierrecht, Arbeitsrecht, Grundstücksrecht, Gesellschaftsrecht sowie Zivilprozess- und Zwangsvollstreckungsrecht.<br />
<br />
== 3. Entstehung ==<br />
=== a) DCFR und PECL ===<br />
Der DCFR enthält Textmassen ganz unterschiedlichen Charakters. Den Büchern II und III liegen die ''[[Principles of European Contract Law]]'' (PECL) der sog. ''Lando''-Kommission zugrunde, die seit ihrer Publikation begonnen haben, eine wichtige Rolle als Referenzpunkt der rechtsvergleichenden Diskussion im Bereich des Vertragsrechts zu spielen. Freilich sind die PECL von der ''Study Group'' im Rahmen der Vorarbeiten zum DCFR überarbeitet worden. Dabei sind manche Abschnitte nur von terminologischen Anpassungen oder marginalen Änderungen betroffen, während andere Bereiche erheblich revidiert worden sind. Hier haben gelegentlich auch von den PECL abweichende Regeln oder Regelungsstrukturen der [[UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts|UNIDROIT PICC]] eine Rolle gespielt. Berücksichtigt man, dass in der rechtsvergleichenden Diskussion der vergangenen Jahrzehnte allgemein und in den internationalen Diskursen über eine Rechvereinheitlichung im Besonderen das allgemeine Vertragsrecht (zusammen mit dem Kaufrecht) eine beherrschende Rolle gespielt hat, dann ist deutlich, dass die in den Büchern&nbsp;II und III des DCFR enthaltenen Texte insgesamt einen vergleichsweise hohen Reifegrad aufweisen: Sie sind Konkretisierungen intensiver wissenschaftlicher Vorarbeiten, die zuvor nicht nur in den PECL und den UNIDROIT PICC ihren Niederschlag gefunden hatten, sondern auch im UN-Kaufrecht, einem Dokument, das seinerseits die PECL und die UNIDROIT PICC stark beeinflusst hat (''Ole Lando'' spricht insoweit von einer „Troika“ des internationalen Vertragsrechts). Andererseits gibt es aber natürlich auch hier Bereiche, die rechtsvergleichend noch stark unterbelichtet sind (etwa: Schuldner- und Gläubigermehrheiten). Hinzu kommt eine stark dogmatisierende Tendenz der Verfasser des DCFR, die sich beispielsweise in der Verwendung des Systembegriffs „juridical act“ zeigt (der in der rechtsvergleichenden Diskussion bislang als viel zu abstrakt beurteilt wurde). Hinzu kommt aber auch, dass das gesamte Buch III sich nicht auf das Vertragsrecht konzentriert, sondern ein allgemeines Schuldrecht zu konzipieren versucht und auch damit über den allgemein akzeptierten Besitzstand rechtsvergleichender Erkenntnis hinausgeht.<br />
<br />
=== b) DCFR und Study Group ===<br />
Vorgenommen wurde die Überarbeitung der PECL von der ''[[Study Group on a European Civil Code|Study Group]]'', die sich bei allen Unterschieden in Struktur, Zielsetzung und Arbeitsweise als Nachfolgerin der ''Lando''-Kommission betrachtet. Ihre Hauptaufgabe sah die ''Study Group'' jedoch darin, auf den PECL aufbauend und an diese anknüpfend, auch für andere Bereiche des Vermögensrechts ähnliche Regelwerke zu erarbeiten. Diese haben für eine Reihe von Bereichen (Kauf, Miete beweglicher Sachen, Verträge über Dienstleistungen, Handelsvertreter-, Franchise- und Vertriebsverträge, Personalsicherheiten und Geschäftsführung ohne Auftrag) zunächst zu isolierten Bänden im Rahmen einer Buchserie ''Principles of European Law'' geführt; deren Struktur entspricht weitgehend derjenigen der PECL. Diese Textmassen sind dann in überarbeiteter Form in die Bücher&nbsp;IV-X des DCFR eingegangen. Für die übrigen von den Büchern&nbsp;IV-X erfassten Bereiche werden die Publikationen im Rahmen der Reihe ''Principles of European Law'' vermutlich noch nachfolgen. Bei aller formalen Nähe zu den PECL darf freilich nicht übersehen werden, dass die von den verschiedenen Untergruppen der ''Study Group'' erarbeiteten und – auch untereinander heterogenen – Texte sich in ihrem Gesamtcharakter deutlich von diesen unterscheiden. Denn während die PECL in weiten Bereichen mit einiger Plausibilität den Anspruch erheben können, ein latent bereits vorhandenes europäisches Vertragsrecht in der Art eines „Restatements“ bloß abzubilden, hat sich die ''Study Group'' auf ein Terrain begeben, auf dem grundlegende Wertungen, Strukturen und Begriffe, die den europäischen Rechtsordnungen gemeinsam und gleichzeitig teleologisch befriedigend sind, entweder gänzlich fehlen oder sich jedenfalls noch nicht herauskristallisiert haben. Der Akzeptanz der Texte der ''Study Group'' stehen deshalb von vornherein sehr viel größere Hindernisse im Weg als denen der ''Lando''-Kommission, und sie können somit nur als erste Anstöße auf dem Weg zur Herausbildung genuin europäischer Regelungsstrukturen gelten. Ihr Pioniercharakter wird auch daran deutlich, dass es nur für zwei Teilbereiche (Deliktsrecht und ''trusts'') vergleichbare Regelwerke gibt, die kurz zuvor und ganz unabhängig von der ''Study Group'' erarbeitet worden sind: die ''[[Principles of European Tort Law]]'' und die ''Principles of European Trust Law'' ([[Trust und Treuhand|''Trust'' und Treuhand]]).<br />
<br />
=== c) DCFR und Acquis Group ===<br />
Der Hauptbeitrag der ''Acquis Group'' zur Erstellung des DCFR bestand in der Erarbeitung eines Regelwerkes auf der Grundlage des bereits bestehenden ''acquis communautaire''. Konzeptionell bilden die ''[[Acquis Principles]]'' damit ein Gegenmodell zu den PECL, in denen der ''acquis'' weitgehend unberücksichtigt geblieben ist. Es sind diese ''Acquis Principles'', die teils unverändert, überwiegend aber in überarbeiteter Form, Eingang in den DCFR gefunden haben. Damit hat das aus ''Study Group'' und ''Acquis Group'' Anfang 2006 gebildete ''Compilation and Redaction Team'' zwar einerseits eine Jahrhundertaufgabe im Bereich des Privatrechts angepackt: die Zusammenführung des in einer langen, gemeineuropäischen Tradition gewachsenen ''acquis commun'' im Bereich des allgemeinen Vertragsrechts und des (vor allem verbrauchervertragsrechtlichen) ''acquis communautaire''. Andererseits hätte eine derartige, nicht bloß äußerliche Zusammenführung jedoch eine Rekonzeptualisierung des Verbraucherschutzrechts vorausgesetzt, die bislang jedenfalls auf europäischer Ebene nicht geleistet worden ist.<br />
<br />
=== d) DCFR und Frankreich ===<br />
Dem erwähnten, zwecks Erarbeitung des DCFR zusammengestellten CoPECL ''network'' gehörten weiterhin die ''Association Henri Capitant des Amis de la Culture Juridique Française'' und die ''Société de Législation Comparée'' an. Eine gemeinsame Arbeitsgruppe beider Organisationen hat in einem 2008 publizierten Band drei Leitprinzipien (''principes directeurs'') des europäischen Vertragsrechts (''liberté contractuelle'', ''sincerité contractuelle'' und ''loyauté contractuelle'') ermittelt und kommentiert. In Auseinandersetzung mit diesem Dokument ist der oben erwähnte, diskursive Abschnitt über die den DCFR insgesamt tragenden Grundsätze entstanden, der den ''model rules'' des DCFR in der ''Outline Edition'' vorangestellt worden ist; in der ''Interim Outline Edition'' war er noch nicht enthalten gewesen. Die französische Arbeitsgruppe hat darüber hinaus ihrerseits eine revidierte Fassung der PECL vorgelegt; ferner hat sie eine rechtsvergleichende Studie zur Terminologie des europäischen Vertragsrechts publiziert. Diese beiden Dokumente haben offenbar keinen Niederschlag im DCFR gefunden.<br />
<br />
== 4. Kritik ==<br />
Das Projekt eines CFR und der von den erwähnten Wissenschaftlergruppen vorgelegte DCFR sind seit etwa 2006 Gegenstand einer intensiven wissenschaftlichen Diskussion geworden. Dabei ist der DCFR zum Teil sehr kritisch beurteilt worden. Bemängelt worden ist insbesondere, dass der DCFR einem Abbau der Privatautonomie Vorschub leistet, die über die bisherigen Tendenzen zur „Materialisierung“ des Vertragsrechts deutlich hinausgeht; dass er mit einer Fülle von Generalklauseln und unbegrenzten Rechtsbegriffen auf eine massive Ausweitung ungesteuerter Richtermacht hinausläuft; dass die verschiedenen, in ihm zusammengefügten Textmassen untereinander unzureichend abgestimmt sind und dass insbesondere die blockweise, gedanklich nicht abgestimmte Integration des Verbraucher-''acquis'' in den Gesamttext nicht geglückt ist; dass eine grundlegende Revision des Verbraucher-''acquis'' bislang nicht stattgefunden hat; und dass der DCFR die Grenzlinien zwischen Lehrbuch und Gesetzestext verwischt. Auch wenn diese Kritik sich naturgemäß auf die ''Interim Outline Edition'' bezieht und die Verfasser des DCFR bei der Erstellung der ''Outline Edition'' in einzelnen Punkten darauf reagiert haben, bleibt sie in ihren Grundlinien bei der Einschätzung des DCFR doch weiterhin von Bedeutung. Was die in der ''Interim Outline Edition'' gegenüber der ''Outline Edition'' noch nicht enthaltenen Teile des DCFR betrifft (Bücher&nbsp;IV F. und H. sowie VIII-X), muss eine kritische Würdigung überhaupt erst noch beginnen.<br />
<br />
== 5. Wie geht es weiter? ==<br />
Wie es weitergehen wird, ist momentan nicht absehbar. Von erheblicher Bedeutung dürfte insoweit die Tatsache sein, dass die Kommission der Europäischen Gemeinschaften ihr Augenmerk seit etwa 2005 ganz vorrangig auf eine Überarbeitung des ''acquis communautaire'' im Bereich des Verbrauchervertragsrechts gerichtet zu haben scheint. Sie hat deshalb im Oktober 2008 den Vorschlag für eine Richtlinie über Verbraucherrechte (KOM(2008) 614/4) vorgelegt, durch die vier der bestehenden Richtlinien in einem einzigen Rechtsinstrument zusammengeführt werden sollen. Bemerkenswert an diesem Dokument ist, dass es offenbar unabhängig von, und unkoordiniert mit, dem DCFR entstanden ist. Richtlinien-Vorschlag und DCFR enthalten unterschiedliche Regelungen und verwenden eine unterschiedliche Terminologie. Im Grunde entsteht damit der Eindruck, dass der DCFR durch die geplante Richtlinie desavouiert wird. Jedenfalls ist fraglich geworden, ob aus dem DCFR kurz- oder mittelfristig ein in irgendeiner Weise politisch legitimierter CFR wird; denn das würde voraussetzen, dass die Europäische Kommission sich den DCFR, oder doch Teile davon, in irgendeiner Form zu eigen macht. Wie dieses „zu eigen machen“ aussehen könnte (d.h., welchen rechtlichen Status der CFR haben könnte), ist bislang unklar. Unklar ist aber auch, welche Ziele die Kommission letztlich mit einem solchen Dokument verfolgen könnte. Die Idee einer Kodifikation zentraler Teile des allgemeinen Zivilrechts auf europäischer Ebene hat sie inzwischen wiederholt zurückgewiesen. Vielmehr sieht sie in einem CFR eine Art „Werkzeugkasten“ (''tool box'') für künftige Gesetzgebung im Bereich des Vertragsrechts. Damit stellt sich aber die Frage, welche Bereiche des Vertragsrechts die Kommission in Zukunft zu regeln gedenkt. Verbreitet (und insbesondere auch auf dem Europäischen Juristentag in Wien artikuliert worden) ist in diesem Zusammenhang die Befürchtung, dass der CFR ein Einfallstor für eine immer weiterreichende europäische Regulierung des Vertragsrechts sein könnte. Dass der harmlos erscheinende Begriff des CFR im Grunde eine Camouflage ist, wird jedenfalls nicht nur von Kritikern des DCFR befürchtet, sondern auch von einigen seiner Verfasser offen ausgesprochen. Zur Debatte steht im Übrigen nach wie vor die Idee eines „optionalen Instruments“.<br />
<br />
Erwähnenswert ist schließlich ein Zielkonflikt zwischen der Kommission und der ''Acquis Group'' einerseits sowie der ''Study Group'', die ihre Vorstellungen bei der Vorbereitung des DCFR insoweit offenbar auch gegenüber der ''Acquis Group'' durchsetzen konnte, andererseits: Während die Kommission für den CFR von Anfang an das allgemeine Vertragsrecht (einschließlich des Verbrauchervertragsrechts), das Kaufrecht und das Versicherungsrecht im Auge hatte, reicht der vorgelegte DCFR darüber einerseits weit hinaus und bietet – etwa in seinem eben nicht nur auf das Vertragsrecht bezogenen Buch III – keine Grundlage für ein europäisches ''Vertrags''recht. Andererseits sind nun aber im DCFR die Versicherungsverträge gerade nicht enthalten. Hierzu hat eine ''Project Group Restatement of European Insurance Contract Law'' (''[[Principles of European Insurance Contract Law]]''<nowiki>) Modellregelungen erarbeitet, die im Laufe des Jahres 2009 separat veröffentlicht werden sollen. Der Grund für dieses separate Vorgehen liegt darin, dass das Versicherungsvertragsrecht ganz überwiegend auf zwingende Regeln setzt, die aber in einem unverbindlichen Regelwerk „ohnehin nicht mehr [wären] als ein Pfiff in den Wind“ (</nowiki>''Jürgen Basedow'').<br />
<br />
Insgesamt ist die Erstellung des DCFR eine eindrucksvolle Leistung der beteiligten Wissenschaftlergruppen. Als akademisches Dokument wird er im künftigen Diskurs über europäisches Privatrecht eine wichtige Rolle einnehmen, ohne dabei freilich die Texte, auf denen er in der einen oder anderen Form beruht, zu verdrängen. Sehr zu bedauern ist der enorme zeitliche Druck, der aus politischen Gründen die Erstellung des DCFR geprägt hat. Gleichwohl ist gerade sein politisches Schicksal – ob und inwieweit er also zu einem offiziellen CFR wird – heute ungewisser denn je.<br />
<br />
==Literatur==<br />
Die Beiträge zum ZEuP-Symposium in Graz, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 15 (2007) 109&nbsp;ff.; die Beiträge von ''Thomas Pfeiffer'' und ''Wolfgang Ernst'' zur Potsdamer Zivilrechtslehrertagung, Archiv für die civilistische Praxis 207 (2007) 227&nbsp;ff.; die Beiträge zum 4.&nbsp;Europäischen Juristentag, Abteilung 1, Europäisches Vertragsrecht, 2008, 1&nbsp;ff. (Generalbericht 185&nbsp;ff.); die Beiträge in European Review of Contract Law 3 (2007) 239&nbsp;ff. und 4 (2008) 223&nbsp;ff.; die Beiträge zum Schwerpunktheft (Heft 4) Draft Common Frame of Reference der Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 16 (2008) 673&nbsp;ff.; ''Horst Eidenmüller'','' Florian Faust'','' Hans Christoph Grigoleit'','' Nils Jansen'','' Gerhard Wagner'','' Reinhard Zimmermann'', Der Gemeinsame Referenzrahmen für das Europäische Privatrecht: Wertungsfragen und Kodifikationsprobleme, Juristenzeitung 2008, 529&nbsp;ff.; ''Reiner Schulze'', ''Christian von Bar'', ''Hans Schulte-Nölke'' (Hg.), Der akademische Entwurf für einen Gemeinsamen Referenzrahmen: Kontroversen und Perspektiven, 2008; ''Martin Schmidt-Kessel'' (Hg.), Der gemeinsame Referenzrahmen: Entstehung, Inhalte, Anwendung, 2009; ''Reinhard Zimmermann'', Textstufen in der modernen Entwicklung des europäischen Privatrechts, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2009, 319&nbsp;ff.<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Common_Frame_of_Reference_(CFR)]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Gesch%C3%A4ftspraktiken,_irref%C3%BChrende&diff=1683Geschäftspraktiken, irreführende2021-09-08T10:30:23Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Olaf Sosnitza]]''<br />
== 1. Begriffsbestimmung ==<br />
<br />
Bei irreführenden Geschäftspraktiken bzw. bei der irreführenden Werbung handelt es sich um ein Element [[Unlauterer Wettbewerb (Grundlagen)|unlauteren Wettbewerbs]]. Eine Definition des Begriffes der irreführenden Werbung findet sich in Art.&nbsp;2(b) der Irreführungs-RL (RL&nbsp;2006/114). Um eine irreführende Werbung handelt es sich danach bei jeder Werbung, „die in irgendeiner Weise – einschließlich ihrer Aufmachung – die Personen, an die sie sich richtet oder die von ihr erreicht werden, täuscht oder zu täuschen geeignet ist und die infolge der ihr innewohnenden Täuschung ihr wirtschaftliches Verhalten beeinflussen kann oder aus diesen Gründen einen Mitbewerber schädigt oder zu schädigen geeignet ist“. „Werbung“ ist gemäß Art&nbsp;2(a) der Irreführungs-RL „jede Äußerung bei der Ausübung eines Handels, Gewerbes, Handwerks oder freien Berufs mit dem Ziel, den Absatz von Waren oder die Erbringung von Dienstleistungen, einschließlich unbeweglicher Sachen, Rechte und Verpflichtungen, zu fördern“.<br />
<br />
In der Unlautere Geschäftspraktiken-RL (RL 2005/29, UGP-RL) wird der allgemeine Begriff der „irreführenden Geschäftspraxis“ verwendet, wobei dieser nach Art.&nbsp;2(d) UGP-RL auch die Werbung einschließt. Gemäß Art.&nbsp;6(1) UGP-RL gilt eine Geschäftspraxis als irreführend, wenn sie falsche Angaben enthält und somit unwahr ist oder wenn sie in irgendeiner Weise, einschließlich sämtlicher Umstände ihrer Präsentation, selbst mit sachlich richtigen Angaben den Durchschnittsverbraucher in Bezug auf bestimmte Punkte, welche in der [[Richtlinie]] abschließend aufgezählt werden, täuscht oder zu täuschen geeignet ist und ihn in jedem Fall tatsächlich oder voraussichtlich zu einer geschäftlichen Entscheidung veranlasst, die er ansonsten nicht getroffen hätte.<br />
<br />
== 2. Rechtsentwicklung ==<br />
<br />
Auf der Revisionskonferenz in Lissabon im Jahr 1958 wurde in Art.&nbsp;10<sup>bis</sup> der PVÜ, der die Verbandsländer zum wirksamen Schutz gegen [[Unlauterer Wettbewerb (Grundlagen)|unlauteren Wettbewerb]] verpflichtet, in Abs.&nbsp;3 Nr.&nbsp;3 die Irreführung als Beispieltatbestand unlauteren Wettbewerbs eingefügt. Zu untersagen sind demnach „Angaben oder Behauptungen, deren Verwendung im geschäftlichen Verkehr geeignet ist, das Publikum über die Beschaffenheit, die Art der Herstellung, die wesentlichen Eigenschaften, die Brauchbarkeit oder die Menge der Waren irrezuführen“. Art.&nbsp;10<sup>bis</sup> PVÜ bildete auch die Grundlage für die Modellvorschriften der ''[[World Intellectual Property Organization]]'' zum Schutz gegen unlauteren Wettbewerb aus dem Jahr 1996, welche in Art.&nbsp;4 ebenfalls die Unlauterkeit der Irreführung regeln.<br />
<br />
Die Harmonisierungsbestrebungen innerhalb der Europäischen Union führten zum Erlass der ursprünglichen Irreführungs-RL (RL&nbsp;84/450). Die ursprüngliche Irreführungsrichtlinie wurde später durch Einbeziehung der vergleichenden Werbung durch die RL&nbsp;97/55 modifiziert und schließlich in der RL&nbsp;2006/114 neu kodifiziert. Ursprünglich galt die Irreführungsrichtlinie sowohl für die Irreführung von Gewerbetreibenden als auch von Verbrauchern ([[Verbraucher und Verbraucherschutz]]). Nunmehr gilt für irreführende Geschäftspraktiken im Verhältnis von Unternehmen zu Verbrauchern (b2c) ausschließlich die UGP-RL (vgl. Art.&nbsp;3(1) UGP-RL).<br />
<br />
Das Verbot der irreführenden Werbung dient sowohl dem Schutz der Verbraucher als auch der Gewerbetreibenden, wobei letztere nicht nur im Vertikalverhältnis als angesprochener Verkehrskreis der Marktgegenseite, sondern auch im Horizontalverhältnis als Mitbewerber vor den wettbewerbsverzerrenden Auswirkungen irreführender Werbung geschützt werden sollen. Zugleich dient das Irreführungsverbot damit auch dem Interesse der Allgemeinheit an einem unverfälschten Wettbewerb. Die ''verschiedenen Schutzzwecke'' sind insbesondere im sekundären Gemeinschaftsrecht vor dem Hintergrund des Anwendungsbereichs der einschlägigen Richtlinien von Bedeutung, da durch die Irreführungs-RL nur noch Gewerbetreibende vor Irreführung geschützt werden (b2b), während der Verbraucherschutz durch die UGP-RL geregelt wird.<br />
<br />
Neben den allgemeinen Irreführungstatbeständen existieren im sekundären Gemeinschaftsrecht zahlreiche Spezialvorschriften zur Irreführung, z.B. die Kosmetik-RL (RL&nbsp;76/768) oder die Etikettierungs-RL (RL&nbsp;2000/13). Diese sektoral begrenzten Regelungen schließen eine Anwendung der allgemeinen Irreführungsbestimmungen jedoch nicht aus.<br />
<br />
== 3. Einzelausgestaltung ==<br />
<br />
Die UGP-RL enthält in Art.&nbsp;6(1) und (2) UGP-RL einen umfassenden Katalog von Verhaltensweisen, die irreführende Geschäftspraktiken darstellen. Hierzu gehören gemäß Art.&nbsp;6(1) UGP-RL Täuschungen über (a) das Vorhandensein oder die Art des Produkts, (b) seine wesentlichen Merkmale, (c) Vertriebspraktiken, (d) den Preis und Preisberechnung, (e) Leistungen und Zusatzleistungen, (f) die Person, die Eigenschaften oder die Rechte des Gewerbetreibenden oder seines Vertreters und (g) die Rechte des Verbrauchers oder die Risiken, denen er sich möglicherweise aussetzt. Zudem gelten gemäß Art.&nbsp;6(2) UGP-RL im Einzelfall Geschäftspraktiken als irreführend, wenn sie einen Durchschnittsverbraucher zu einer geschäftlichen Entscheidung veranlassen oder zu veranlassen geeignet sind, die er ansonsten nicht getroffen hätte, und entweder eine Verwechslungsgefahr mit einem Konkurrenzprodukt, &#8209;warenzeichen, &#8209;namen oder anderem Kennzeichen begründen oder der Gewerbetreibende Verpflichtungen eines von ihm eingegangenen Verhaltenskodexes nicht einhält.<br />
<br />
In den Mitgliedstaaten der [[Europäische Union|Europäischen Union]] ist die irreführende Werbung in unterschiedlicher Form geregelt. Sowohl die Irreführungs-RL als auch die UGP-RL gewähren den Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Sanktionierung der irreführenden Werbung einen Umsetzungsspielraum. Die Mitgliedstaaten sind gehalten, „geeignete und wirksame Mittel zur Bekämpfung“ der irreführenden Werbung bzw. Geschäftspraktiken bereitzustellen (Art.&nbsp;5(1) Irreführungs-RL, Art.&nbsp;11(1) UGP-RL). Dabei steht es ihnen frei, Gerichte oder Verwaltungsbehörden mit der Rechtsdurchsetzung zu betrauen. Vielfach unterliegt die Sanktionierung irreführender Werbung den Zivil- und Strafgerichten der Mitgliedstaaten. In Deutschland beispielsweise enthalten die §§&nbsp;12&nbsp;ff. UWG Verfahrensvorschriften für die zivilgerichtliche Anspruchsdurchsetzung. §&nbsp;16 Abs.&nbsp;1 UWG regelt daneben die strafbare Irreführung, wobei die Strafverfolgungsbehörden auf Grundlage der Strafprozessordnung von Amts wegen tätig werden. In Großbritannien können Verbraucher aufgrund der in Umsetzung der UGP-RL erlassenen ''Consumer Protection from Unfair Trading Regulations 2008'' die Sanktionierung von irreführender Werbung auf strafrechtlicher Ebene durch das ''Office of Fair Trading'' veranlassen. Mitbewerber können sowohl die strafrechtliche Verfolgung (aufgrund der ''Business Protection from Misleading Marketing Regulations 2008'') durch das ''Office of Fair Trading'' herbeiführen als auch zivilrechtlich gegen irreführende Werbung vorgehen. Zudem wurde durch den ''British Code of Advertising'','' Sales Promotion and Direct Marketing'' ein leistungsfähiges System der Selbstkontrolle installiert. In Italien obliegt der Schutz vor irreführender Werbung einer staatlichen Verwaltungsbehörde (Wettbewerbsbehörde), der ''Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato''. In Finnland werden Wettbewerbsverstöße gegenüber Verbrauchern vom ''Konsumentenombudsmann ''verfolgt; Gewerbetreibende sind auf Privatklagen vor dem ''Marktordnungsgericht'' angewiesen.<br />
<br />
Irreführende Werbung setzt das tatsächliche Eintreten einer Täuschung des Verkehrs nicht voraus. Es genügt vielmehr, dass eine Angabe geeignet ist, die angesprochenen Verkehrskreise irrezuführen. Voraussetzung der ''Täuschungseignung'' ist, dass die zu beurteilende Werbeangabe einem Wahrheitsbeweis zugänglich ist. Reine Werturteile und bloße Werbeappelle können nicht auf ihre Richtigkeit überprüft werden und fallen somit nicht unter das Irreführungsverbot.<br />
<br />
Bei der Frage, ob eine Werbung zur Täuschung geeignet und damit irreführend ist, kommt der Person des Umworbenen entscheidende Bedeutung zu. Der [[Europäischer Gerichtshof|Europäische Gerichtshof]] hat den Irreführungsbegriff durch Herausbildung eines ''normativen Verbraucherleitbildes'' – Rs.&nbsp;C-210/96 – ''Gut Springenheide'', Slg.&nbsp;1998, I-4681 und Rs.&nbsp;C-220/98 – ''Lifting-Creme'', Slg. 2000, I-117 – geprägt. Dieses Verbraucherleitbild wurde aus einer rechtsvergleichenden Betrachtung gewonnen, insbesondere unter Heranziehung der französischen und britischen Auslegung der Irreführungstatbestände. Der Bundesgerichtshof ging demgegenüber früher vom Leitbild des flüchtigen, unkritischen und oberflächlichen Verbrauchers aus; diese Auffassung hat die deutsche Rechtsprechung jedoch mittlerweile aufgegeben und sich dem vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Verbraucherleitbild angeschlossen.<br />
<br />
Maßgeblich für die Beurteilung der Täuschungseignung einer Werbung ist die Sichtweise eines durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen'' Durchschnittsverbrauchers''. Gegenstand der Beurteilung ist das Verständnis eines fiktiven, typischen Verbrauchers von der Werbeangabe (vgl. Erwägungsgrund&nbsp;18 UGP-RL). Dabei handelt es sich um ein normatives Leitbild, denn entscheidend ist nicht das tatsächliche Verständnis des angesprochenen Verkehrs, sondern das von einer fiktiven Referenzperson zu erwartende Verständnis. Eine Werbung ist erst dann irreführend, wenn sie unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände des Einzelfalles (EuGH Rs.&nbsp;C-220/98 – ''Lifting-Creme'', Slg. 2000, I-117) zur Täuschung des Durchschnittsverbrauchers geeignet ist. Empirische Verbraucherbefragungen und daraus ermittelte Irreführungsquoten können auf Basis des normativen Verbraucherleitbildes nur eines von mehreren Kriterien sein, anhand derer die Täuschungseignung zu beurteilen ist. Tatsächliche Irreführungen oder Täuschungen (z.B. einzelner Minderheiten oder flüchtiger, uninteressierter Verbraucher) sind hinzunehmen, soweit ihnen die jeweilige Referenzperson nach Ansicht der zuständigen Gerichte oder Behörden nicht unterliegen würde. In diesem Bereich tritt der Irreführungsschutz im Rahmen einer ''Interessenabwägung'' hinter die [[Warenverkehrsfreiheit]] bzw. die [[Dienstleistungsfreiheit]] und das durch Art.&nbsp;10 EMRK gewährleistete Recht zur freien Meinungsäußerung der Werbenden zurück.<br />
<br />
Bei der Prüfung der Irreführungsgefahr ist zunächst der ''angesprochene Verkehrskreis'' zu bestimmen. Dabei handelt es sich um die Personengruppe, an die sich die Werbung richtet und deren Verhalten sie beeinflussen soll. In einem zweiten Schritt ist nach der Vorstellung zu fragen, welche die Werbung bei einer Durchschnittsperson dieses Personenkreises hervorruft. Verfügt der angesprochene Verkehrskreis über spezielle Fähigkeiten oder Kenntnisse, so sind diese auch für das Verständnis des Durchschnittsverbrauchers zu berücksichtigen. Gleiches gilt für etwaige soziale, sprachliche, kulturelle oder nationale Besonderheiten des Verkehrskreises. Zu beachten ist auch, dass die Aufmerksamkeit des Referenzverbrauchers in Abhängigkeit von den betroffenen Waren und Dienstleistungen variiert (EuGH Rs.&nbsp;C-342/97 – ''Lloyd'', Slg. 1999, I-3819). Einer Werbung für geringwertige Bedarfsgegenstände wird regelmäßig geringere Aufmerksamkeit zuteil als dies bei höherwertigen und teureren Waren bzw. Dienstleistungen der Fall ist. In einem weiteren Schritt muss die ''Übereinstimmung des ermittelten Verständnisses mit der Wirklichkeit'' überprüft werden. Sofern die Auffassung der Durchschnittsperson von der Realität abweicht, ist schließlich zu fragen, ob diese Irreführung ''relevant'' ist. Dies ist der Fall, wenn sich die Fehlvorstellung auf Faktoren bezieht, die geeignet sind, das wirtschaftliche Verhalten der Empfänger der Werbebotschaft tatsächlich zu beeinflussen. Die Irreführung über Umstände, die für die Entscheidung der Abnehmer gänzlich irrelevant sind, ist daher unbeachtlich.<br />
<br />
Das Referenzverbraucherleitbild des EuGH wird in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union in unterschiedlicher Ausprägung umgesetzt. Teilweise wird von einem generell flüchtigen, unterdurchschnittlichen Verbraucher ausgegangen, der der Werbung nahezu ohne eigene Sachkunde entgegentritt. Auf der anderen Seite wird in manchen Ländern auch auf das Verständnis eines höchst kritischen und skeptischen Verbrauchers mit umfassender eigener Sachkunde abgestellt. Zwischen diesen beiden Extrempositionen existieren weitere Verbraucherleitbilder, mit jeweils abgestuften Anforderungen an die Möglichkeiten und Fähigkeiten des Durchschnittsverbrauchers.<br />
<br />
Richtet sich die Werbung nicht an Verbraucher, sondern an Gewerbetreibende, so ist auf deren Sichtweise als angesprochener Verkehrskreis abzustellen, wobei auch hier ein dem Verbraucherleitbild entsprechendes normatives Unternehmerleitbild gilt. Allerdings kann bei Fachkreisen im Allgemeinen ein höherer Grad an Informiertheit, Aufmerksamkeit und Verständigkeit zu Grunde gelegt werden als beim Verbraucher, weil Vorbildung, Erfahrung und Kenntnis der Verhältnisse auf dem konkreten Markt den Gewerbetreibenden eine genauere Prüfung der an sie gerichteten Informationen ermöglichen und erleichtern.<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Tobias Lettl'', Der lauterkeitsrechtliche Schutz vor irreführender Werbung in Europa, 2004; ''Christian'' ''Twigg-Flesner'', ''Deborah Parry'', ''Geraint Howells'', ''Annette Nordhausen'', An Analysis of the Application and Scope of the Unfair Commercial Practices Directive: A Report for the Department of Trade and Industry, 18 May 2005, veröffentlicht unter http://www.berr.gov.uk/files/file32095.pdf (zuletzt abgerufen am 7.7.2009); ''Giuseppe Abbamonte'','' ''The Unfair Commercial Practices Directive, Columbia Journal of European Law 2006, 695&nbsp;ff; ''Frauke Henning-Bodewig'', Unfair Competition Law. European Union and Member States, 2006;'' Geraint Howells'', ''Hans-Wolfgang Micklitz'', ''Thomas Wilhelmsson'', European Fair Trading Law: The Unfair Commercial Practices Directive, 2006; ''Hans-Wolfgang Micklitz'', in: Peter Heermann, Günter Hirsch (Hg.), Münchener Kommentar zum Lauterkeitsrecht, Bd.&nbsp;1, 2006, EG F; ''Jules Stuyck'', ''Evelyne Terryn'', ''Tom van Dyck'', Confidence through Fairness?, Common Market Law Review 43 (2006) 107&nbsp;ff.; ''Roger W. de Vrey'', Towards a European Unfair Competition Law. A Clash Between Legal Families, 2006; ''Reto M. Hilty'','' Frauke Henning-Bodewig'' (Hg.), Law Against Unfair Competition: Towards a New Paradigm in Europe?, 2007; ''Henrik Saugmandsgaard'','' ''The EU Consumer Policy Framework: Mission Nearly Accomplished?, in: Liber amicorum en l’honneur de Bo Vesterdorf, 2007; ''Helmut Köhler'', Einl. UWG, Kap.&nbsp;4 und §§&nbsp;8&nbsp;ff. UWG, in: Wolfgang Hefermehl, idem, Joachim Bornkamm (Hg.), Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, 27.&nbsp;Aufl. 2009.<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Commercial_Practices,_Misleading]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Gesch%C3%A4ftspraktiken,_aggressive&diff=1681Geschäftspraktiken, aggressive2021-09-08T10:28:43Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Ansgar Ohly]]''<br />
== 1. Gegenstand, Begriff und Regelungszweck ==<br />
<br />
Der Verbraucher kann seine Schiedsrichterfunktion im Wettbewerb nur dann sinnvoll wahrnehmen, wenn er auf der Grundlage zutreffender Information frei entscheiden kann. Ein Lauterkeitsrecht, das die Funktionsbedingungen der Marktwirtschaft sichert, ist damit aufgerufen, die Grundlagen und die Freiheit der rationalen Verbraucherentscheidung zu schützen. Dem Schutz der Entscheidungsgrundlage dient das Verbot irreführender Geschäftspraktiken, dem Schutz der Entscheidungsfreiheit dient das Verbot aggressiver Geschäftspraktiken. Letzteres bildet zugleich den Flankenschutz für diejenigen Bestimmungen des Vertragsrechts, die einem Vertragspartner die Lösung vom Vertrag im Fall der Drohung oder der unzulässigen Beeinflussung (''undue influence'') erlauben oder ihm für bestimmte Geschäftssituationen wie Haustürgeschäfte oder Fernabsatzverträge ein [[Widerrufsrecht]] zubilligen.<br />
<br />
<nowiki>Eine Geschäftspraxis gilt als aggressiv, wenn sie die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers durch Belästigung, Nötigung oder unzulässige Beeinflussung tatsächlich oder voraussichtlich beeinträchtigt und den Verbraucher dadurch zu einer Entscheidung veranlasst, die er andernfalls nicht getroffen hätte (Art.&nbsp;8 der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken [UGP-RL, RL&nbsp;2005/ 29]). Die aggressive Werbung wirkt also gerade auf die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers ein und unterscheidet sich so von der bloß belästigenden Werbung, etwa der unerwünschten Telefon- oder E-Mail-Werbung.</nowiki><br />
<br />
== 2. Rechtsentwicklung ==<br />
<br />
Vor Erlass der UGP-RL unterschied sich der Schutz gegen aggressive Werbung in den Mitgliedstaaten so deutlich wie das Lauterkeitsrecht insgesamt ([[Unlauterer Wettbewerb (Grundlagen)]]; [[Unlauterer Wettbewerb (Rechtsfolgen)]]). Das frühere deutsche Recht verbot die Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit unter §&nbsp;1 UWG a.F. recht weitgehend durch die Fallgruppe des „Kundenfangs“, teils auch durch diejenige der belästigenden Werbung. Für das französische Recht war ein derartiges allgemeines Verbot nicht ersichtlich, doch waren potentiell die Entscheidungsfreiheit beeinträchtigende Geschäftspraktiken wie Zugaben, Kopplungsangebote und Gewinnspiele restriktiven Regelungen unterworfen. Das englische Recht ermöglicht zwar einer Vertragspartei im Fall der ''[[undue influence]]'' die Lösung vom Vertrag, schützte Verbraucher hingegen nicht im Vorfeld des Vertragsschlusses gegen unangemessene Beeinflussung. Lediglich die Kodices der freiwilligen Selbstkontrolle enthielten entsprechende Verbote.<br />
<br />
Die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken zielt nunmehr auf eine vollständige Harmonisierung des Lauterkeitsrechts im Verhältnis zwischen Unternehmern und Verbrauchern (unlauterer Wettbewerb). Die Richtlinie führt im Rahmen der Generalklausel des Art.&nbsp;5 aggressive Geschäftspraktiken als Beispiel unlauterer Geschäftspraktiken auf (Art.&nbsp;5(4) UGP-RL). Der Begriff der aggressiven Geschäftspraxis wird in Art.&nbsp;8, 9 UGP-RL definiert. Diese ihrerseits noch generalklauselartige Definition wird durch acht Beispielsfälle der „schwarzen Liste“ konkretisiert.<br />
<br />
Damit gilt für das Verbot aggressiver Geschäftspraktiken nunmehr ein gemeinschaftsrechtlicher Standard, den die Mitgliedstaaten vorbehaltlich der Übergangsvorschrift des Art.&nbsp;3(5) UGP-RL weder über- noch unterschreiten dürfen. Allerdings ist die Harmonisierungswirkung der Richtlinie in dreifacher Hinsicht eingeschränkt. Erstens sind die normativen Vorgaben für aggressive Werbung wegen der generalklauselartigen Formulierung des Art.&nbsp;8 UGP-RL und wegen der begrenzten praktischen Relevanz einiger Tatbestände der „schwarzen Liste“ noch sehr unbestimmt. Erst die künftige Rechtsprechung des [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] wird den Begriff der „aggressiven“ <nowiki>Praxis konkretisieren. Zweitens bleiben die Mitgliedstaaten befugt, über die Richtlinie hinaus Geschäftspraktiken aus Gründen der „guten Sitten und des Anstandes“ zu verbieten (Erwägungsgrund&nbsp;7). Damit behalten die Mitgliedstaaten insbesondere die Möglichkeit, belästigende Praktiken wie das Ansprechen von Verbrauchern auf der Straße (ausdrücklich in Erwägungsgrund&nbsp;7 genannt), die Telefonwerbung (Regelung freigestellt durch Art.&nbsp;13 der E-Datenschutz-RL [RL&nbsp;2002/58]) oder Hausbesuche von Vertretern auch dann zu verbieten, wenn die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers nicht beeinträchtigt wird (so etwa §&nbsp;7 des dt. UWG). Drittens überlässt die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken den Mitgliedstaaten die Wahl des Instrumentariums zur Durchsetzung der Bestimmungen über unlautere Geschäftspraktiken.</nowiki><br />
<br />
Dementsprechend unterschiedlich fällt die Umsetzung der Richtlinie in den Mitgliedstaaten aus ([[Unlauterer Wettbewerb (Grundlagen)]]; [[Unlauterer Wettbewerb (Rechtsfolgen)]]). Im deutschen Recht bestand mit §&nbsp;4 Nr.&nbsp;1 UWG bereits seit 2004 eine dem Art.&nbsp;8 UGP-RL vergleichbare Vorschrift, zusätzlich verbietet §&nbsp;4 Nr.&nbsp;2 UWG die Ausnutzung von Unerfahrenheit, Angst oder einer Zwangslage. Diese Bestimmungen werden weitgehend beibehalten. Damit besteht in Deutschland ein rein zivilrechtliches Umsetzungsmodell: Die aggressive Werbung kann von Mitbewerbern und Verbänden mit Abwehransprüchen bekämpft werden (§&nbsp;8 UWG), Mitbewerbern steht zudem ein Schadensersatzanspruch zu (§&nbsp;9 UWG) und Verbraucherverbände können Gewinnabschöpfung zugunsten der Staatskasse verlangen (§&nbsp;10 UWG). In Frankreich wurde Art.&nbsp;8 im ''Code de la consommation'' umgesetzt, ein Verstoß löst in erster Linie strafrechtliche Rechtfolgen aus. In mehreren Mitgliedstaaten, etwa in Italien, erhalten Wettbewerbsbehörden die Zuständigkeit, gegen aggressive Geschäftspraktiken vorzugehen. Ähnliches gilt für das britische Recht, wo aber zusätzlich der freiwilligen Werbeselbstkontrolle erhebliche Bedeutung zukommt.<br />
<br />
== 3. Regelungsgehalt und &#8209;struktur ==<br />
<br />
Der Schutz gegen aggressive Geschäftspraktiken in der UGP-RL ist dreistufig aufgebaut. Die Prüfung vollzieht sich in umgekehrter Reihenfolge, also vom Konkreten zum Allgemeinen.<br />
<br />
Auf der ersten Stufe verbietet die Generalklausel des Art.&nbsp;5(1) UGP-RL unlautere Geschäftspraktiken im Allgemeinen und nennt aggressive Geschäftspraktiken als Beispiel (Art.&nbsp;5(4) UGP-RL).<br />
<br />
Die zweite Stufe bildet das generalklauselartig formulierte Verbot aggressiver Geschäftspraktiken in Art.&nbsp;8 UGP-RL, der drei Voraussetzungen enthält. (i) Es muss eine Geschäftspraxis im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmern und Verbrauchern im Sinne des Art.&nbsp;2 (d)UGP-RL, also eine Handlung vorliegen, die unmittelbar mit der Absatzförderung, dem Verkauf oder der Lieferung eines Produkts zusammenhängt. Aggressive Praktiken gegenüber Unternehmen werden durch die Richtlinie nicht erfasst, insoweit verbleibt den Mitgliedstaaten bisher eigener Regelungsspielraum. (ii) Als Mittel der Einwirkung nennt Art.&nbsp;8 UGP-RL die Belästigung, die Nötigung und die unzulässige Beeinflussung. Letztere wird in Art.&nbsp;2(j) UGP-RL definiert als „Ausnutzung einer Machtposition gegenüber dem Verbraucher zur Ausübung von Druck, auch ohne die Anwendung körperlicher Gewalt, in einer Weise, die die Fähigkeit des Verbrauchers zu einer informierten Entscheidung wesentlich einschränkt“. Der Unternehmer muss also aufgrund seiner Überlegenheit beim Verbraucher den Eindruck erwecken, dieser erleide einen empfindlichen Nachteil, wenn er sich auf den Willen des Unternehmers nicht einlässt. ''Helmut Köhler'' und ''Tobias Lettl'' unterscheiden zwischen einer strukturbedingten Machtposition, die sich aus einer familiären, sozialen, wirtschaftlichen, verbandsmäßigen oder intellektuellen Überlegenheit des Unternehmers gegenüber dem Verbraucher ergibt, und einer situationsbedingten Machtposition, bei der sich der Unternehmer Besonderheiten der Situation (etwa die faktische Schwierigkeit, einen Vertreter aus der Wohnung zu weisen oder ein Ladengeschäft zu verlassen) zunutze macht. (iii) Die Belästigung oder Beeinflussung muss sich tatsächlich oder voraussichtlich auf die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers auswirken. Dabei ist das Verhalten eines Durchschnittsverbrauchers maßgeblich, sofern sich die Geschäftspraxis nicht an besonders schutzwürdige Personenkreise richtet (Art.&nbsp;5(2), (3) UGP-RL).<br />
<br />
Auf der dritten Stufe konkretisiert die „schwarze Liste“ das Verbot aggressiver Praktiken und benennt Verhaltensweisen, die unter allen Umständen als unlauter gelten. Hierzu zählen das Erwecken des Eindrucks, der Verbraucher könne die Räumlichkeiten des Unternehmers ohne Vertragsschluss nicht verlassen (Nr&nbsp;24), die Weigerung eines Vertreters, die Wohnung des Verbrauchers zu verlassen (Nr.&nbsp;25), die hartnäckige und unerwünschte Telefon-, Fax- oder E-Mail-Werbung (Nr.&nbsp;26, schon die einmalige unerwünschte Werbung per Fax oder E-Mail ist nach Art.&nbsp;13 der E-Datenschutzrichtlinie verboten, zu den weitergehenden Möglichkeiten des nationalen Rechts s.o.), die Aufforderung des Verbrauchers zur Bezahlung unbestellt zugesandter Waren (Nr.&nbsp;29) und die falsche Gewinnmitteilung (Nr.&nbsp;31, die allerdings eher dem Irreführungsverbot zuzuordnen ist). Probleme bereitet die Auslegung der Nr.&nbsp;28, der zufolge direkte Aufforderungen an Kinder in der Werbung, die Produkte zu kaufen oder ihre Eltern zum Kauf zu überreden, als unlauter gelten. Umstritten ist vor allem, ob der Begriff „Kind“ auch Jugendliche ab dem 14.&nbsp;Lebensjahr umfasst und wann von einer „Aufforderung“ die Rede sein kann.<br />
<br />
Nicht ausdrücklich geregelt werden in der Richtlinie Maßnahmen der Verkaufsförderung wie Zugaben, Rabatte, Kopplungsangebote oder Gewinnspiele. Diese Praktiken waren früher in einigen europäischen Rechtsordnungen strikten Beschränkungen unterworfen und sind nach wie vor nicht uneingeschränkt erlaubt. Der Versuch der Kommission, diese Sachverhalte im Verordnungswege zu regeln, scheiterte; der Vorschlag für eine Verordnung über Verkaufsförderung'' ''im'' ''Binnenmarkt von 2001 wurde zurückgezogen. In der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken fehlen weitgehend spezielle Bestimmungen, so dass in erster Linie die allgemeinen Verbote irreführender und aggressiver Praktiken greifen. Irreführend ist etwa die fälschliche Bezeichnung eines Angebots als „gratis“ (Nr.&nbsp;20 der „schwarzen Liste“), das Angebot von Wettbewerben oder Preisausschreiben, ohne dass die Preise vergeben werden (dort Nr.&nbsp;19) oder die falsche Gewinnmitteilung (dort Nr.&nbsp;31). Nicht geklärt ist auf Gemeinschaftsebene aber die Reichweite des Transparenzgebots, also die Frage, welche Informationen der Anbieter von Rabatten, Kopplungsangeboten und ähnlichen Gelegenheiten dem Verbraucher zur Verfügung stellen muss ([[Geschäftspraktiken, irreführende]]). Das Verbot der aggressiven Werbung spielt in diesem Zusammenhang nur noch eine sekundäre Rolle, weil vom Durchschnittsverbraucher regelmäßig erwartet werden kann, dass er in der Lage ist, die Vorteile einer Zugabe, eines Rabatts oder einer ähnlichen Maßnahme rational zu beurteilen. Etwas anderes kann für besonders schutzbedürftige Verbraucherkreise wie Jugendliche gelten (vgl. Art.&nbsp;5(3) UGP-RL und §&nbsp;4 Nr.&nbsp;2 des dt. UWG). Bestimmungen der Mitgliedstaaten, die bestimmte Maßnahmen der Verkaufsförderung generell, also unabhängig von ihrer Irreführungseignung oder ihrem Einfluss auf die Entscheidungsfreiheit verbieten, sind mit der UGP-RL nur dann vereinbar, wenn die Verbote ausdrücklich in der „schwarzen Liste“ genannt werden. Das belgische generelle Verbot von Kopplungsgeschäften hat der EuGH daher als mit der Richtlinie unvereinbar erklärt (EuGH verb. Rs. C-261/07 und C-299/07 – ''VTB-VAB/Total'', Medien und Recht 2009, 103). Der BGH hat dem EuGH die Frage vorgelegt, ob §&nbsp;4 Nr.&nbsp;6 UWG, der eine Kopplung der Teilnahme an Preisausschreiben und Gewinnspielen an den Erwerb der Ware verbietet, mit Art.&nbsp;5(2) UGP-RL vereinbar ist (BGH 5.6.2008, GRUR 2008, 807). Es steht zu erwarten, dass der EuGH diese Frage verneinen wird.<br />
<br />
== 4. Bewertung und Ausblick ==<br />
<br />
Der Schutz der Verbraucher vor einer Beeinträchtigung ihrer Entscheidungsfreiheit gehört zum Kernbestand des Lauterkeitsrechts. Während sich in der Vergangenheit in Europa liberale Rechtsordnungen wie das englische Recht und hochregulierte Rechtsordnungen wie das deutsche Recht diametral entgegengesetzt gegenüberstanden, stellt die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken ein bedeutendes Zwischenergebnis in einem Konvergenzprozess dar, der schon in den späten 1990er Jahren begann. Allerdings ist auch in Zukunft damit zu rechnen, dass nationale Gerichte unterschiedlich darüber urteilen, wie aggressiv der Verbraucher umworben werden darf. Der Rechtsprechung des EuGH wird daher eine wesentliche Bedeutung bei der Konkretisierung des Begriffs „aggressive Geschäftspraxis“ zukommen. Außerdem werden sich die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten wegen der divergierenden Durchsetzungs- und Sanktionssysteme auf absehbare Zeit unterscheiden.<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Helmut'' ''Köhler'', ''Tobias'' ''Lettl'', Das geltende europäische Lauterkeitsrecht, der Vorschlag für eine EG-Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken und die UWG-Reform, Wettbewerb in Recht und Praxis 2003, 1019; ''Winfried Veelken'', Kundenfang gegenüber dem Verbraucher, Wettbewerb in Recht und Praxis 2004, 1; ''Manfred Hecker'', Die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken, Wettbewerb in Recht und Praxis 2006, 640; ''Peter Mankowski'', Wer ist ein „Kind“? Zum Begriff des Kindes in der deutschen und der europäischen black list, Wettbewerb in Recht und Praxis 2007, 1398; ''Anja Steinbeck'', Die Zukunft der aggressiven Geschäftspraktiken, Wettbewerb in Recht und Praxis 2008, 865; ''Sonja Fischer'', Schutz der Entscheidungsfreiheit im Rahmen der Verkaufsförderung, 2008; ''Helmut Köhler'', Werbung gegenüber Kindern: Welche Grenzen zieht die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken?, Wettbewerb in Recht und Praxis 2008, 700; ''idem'', Beispiele unlauterer geschäftlicher Handlungen, §&nbsp;4 Nr.&nbsp;1, 2 UWG, in: Wolfgang Hefermehl, idem, Joachim Bornkamm, Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, 27.&nbsp;Aufl. 2009.<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Commercial_Practices,_Aggressive]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Handelsrecht&diff=1679Handelsrecht2021-09-08T10:28:17Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Klaus J. Hopt]]''<br />
== 1. Begriff und Rechtsquellen des Handelsrechts ==<br />
<br />
Einen festen, europäisch einheitlichen Begriff des Handelsrechts gibt es nicht. Allenfalls national kann zur Abgrenzung beitragen, ob das Handelsrecht in einem eigenen Gesetz wie in Frankreich dem ''[[Code de Commerce]]'' von 1807 oder in Deutschland dem HGB von 1897 (ähnlich Belgien, Luxemburg, Spanien, Portugal, Griechenland; als Mustergesetz auch in den USA der ''Uniform Commercial Code'' seit 1954) kodifiziert oder Teil des allgemeinen bürgerlichen Rechts ist wie in der Schweiz ([[Schweizerisches Obligationenrecht]] 1881 und [[Schweizerisches Zivilgesetzbuch|Schweizerisches ZGB]] 1907) und, von einem eigenen Handelsgesetzbuch abgehend, Italien (''[[Codice civile]]'' 1942) und in jüngerer Zeit den Niederlanden das ''[[Burgerlijk Wetboek]]'') oder ob es überhaupt nur in Einzelgesetzen wie in Skandinavien oder vor allem auch im [[Richterrecht]] wie in Großbritannien und Irland enthalten ist. National unterschiedlich ist demnach auch, wie weit Handelsrecht verstanden wird, also ob es auch Bilanzrecht, Transportrecht ([[Transportvertrag]]), [[Gesellschaftsrecht]], Bank- und Börsenrecht ([[Bankrecht]]; [[Bankrecht, internationales]]; [[Börsen]]), Versicherungsrecht ([[Versicherungsvertrag]]; [[Versicherungsvertragsrecht, internationales]]) und Teile des Arbeitsrechts umfasst.<br />
<br />
Am ehesten lässt sich Handelsrecht als Sonderrecht für bestimmte am Geschäftsverkehr teilnehmende Personen oder für bestimmte wirtschaftliche Geschäfte und Tätigkeiten verstehen. Das Handelsrecht kann zu seiner Abgrenzung je nachdem auf die Geschäfte abstellen (Handelsgeschäfte, objektives System) oder wie das deutsche oder österreichische HGB entscheidend auf die Person (Kaufmann bzw. Unternehmer, subjektives System, meistens gemischtes System). Letzterenfalls ist Handelsrecht das Recht des Handelsstandes, also der Kaufleute, und das Handelsrecht regelt die Handelsgeschäfte derselben. Handelsrecht ist trotz einzelner öffentlich-rechtlicher Vorschriften, z.B. betreffend Handelsregister, Handelsfirma und Buchführung, Teil des Privatrechts. <br />
<br />
Rechtsquellen des Handelsrechts sind in Kontinentaleuropa vor allem das Gesetzesrecht, daneben und in ''[[common law]]''-Ländern vor allem das Richterrecht. Wichtiger als im allgemeinen Privatrecht sind Handelsbräuche und Verkehrssitte, was an den Besonderheiten des Handelsrechts liegt. Besonders wichtig sind Handelsbräuche im internationalen Handelsverkehr. In weiten Bereichen des Handelsrechts dominieren [[Allgemeine Geschäftsbedingungen]] (AGB), mit besonderen Problemen im internationalen Verkehr. Wichtig sind außerdem die Empfehlungen der [[Internationale Handelskammer|Internationalen Handelskammer]] und anderer, auch nationaler Gremien.<br />
<br />
== 2. Besonderheiten des Handelsrechts gegenüber dem Bürgerlichen Recht ==<br />
<br />
Als Unternehmer, der sich im Wettbewerb behaupten muss oder aus dem Markt ausscheidet, muss der Kaufmann seine Geschäfte frei gestalten können. Privatautonom gesetztes Recht (vor allem Vertragsrecht einschließlich AGB) spielt deshalb im Handelsrecht eine große Rolle. Außer für das kaufmännische Personal und die [[Handelsvertreter]] tritt [[Zwingendes Recht (Grundlagen)|zwingendes Recht]] zurück; der Kaufmann muss die Risiken und Chancen im Handelsverkehr selbst abschätzen.<br />
<br />
Für den Handelsverkehr sind Einfachheit und Schnelligkeit entscheidend. Das Handelsrecht verzichtet deshalb auf unnötige Formalitäten und zwingt den Kaufmann zur raschen Äußerung und Disposition. Handelsrechtsnormen, international einheitliche Vertragsklauseln wie die [[Incoterms]] und Handelsbräuche typisieren die Erklärungen und Vertragsschlüsse im Handelsverkehr. Das Handelsrecht fördert Typisierung und (vereinfachende) Formalisierung, z.B. Unbeschränkbarkeit bestimmter handelsrechtlicher [[Vertretungsmacht]]en.<br />
<br />
Selbstverantwortliche Entscheidung, Einfachheit und Schnelligkeit setzen voraus, dass sich der Kaufmann zuverlässig über seine Vertragspartner informieren und sich auf ihr (äußeres) Verhalten im Handelsverkehr verlassen kann. Die handelsregisterrechtliche [[Publizität]] und die Rechtsscheinhaftung spielen deshalb im Handelsrecht eine zentrale Rolle.<br />
<br />
Handelsrecht ist weitgehend aus der Praxis heraus gewachsen. Das spiegelt sich in den Rechtsquellen und der großen Bedeutung der Schiedsgerichtsbarkeit ([[Schiedsverfahren, internationales]]) wider. Handelsrecht ist, auch wenn seiner Rechtsnatur nach nationales Recht, immer auch auf den internationalen Verkehr ausgerichtet. Handelsinteressen machen an Grenzen nicht Halt. Das Handelsrecht ist nicht nur offen für Einflüsse von außen, sondern besonders auch für eine pragmatische internationale Rechtsvereinheitlichung. Das allgemeine deutsche Handelsrecht ([[Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch||ADHGB]] von 1861) ging der staatlichen Einheit um ein Jahrzehnt und dem einheitlichen [[Bürgerliches Gesetzbuch|BGB]] um nahezu ein halbes Jahrhundert voraus.<br />
<br />
== 3. Internationale Rechtsvereinheitlichung auf dem Gebiet des Handelsrechts ==<br />
<br />
Das Streben nach Rechtsangleichung im Interesse des Handelsverkehrs ist alt, wie beispielsweise das [[Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch||ADHGB]] zeigt. Rechtsvergleichung und Rechtsvereinheitlichung hat bereits das [[Reichsoberhandelsgericht (mit Reichsgericht)|Reichsoberhandelsgericht]] betrieben. Vorstufen der Rechtsangleichung durch Angleichung der Handelspraxis sind z.B. die [[Incoterms]] oder einheitlichen Richtlinien und Gebräuche für Dokumentenakkreditive ([[Akkreditiv]]e) der [[Internationale Handelskammer|Internationalen Handelskammer]]. Seit der Jahrhundertwende finden sich Anfänge eines Welthandelsrechts in großen Übereinkommen besonders auf dem Gebiet des Verkehrs, z.B. Internationales Übereinkommen über den Eisenbahn-Frachtverkehr (CIM) 1890/1961 und über den Eisenbahn-Personen- und Gepäckverkehr (CIV) ([[Eisenbahnverkehr]]), über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßen- und Güterverkehr (CMR) ([[Straßengüterverkehr]]) und über die Beförderung im internationalen [[Luftverkehr]] (Warschauer Abkommen). 1930/1931 kam es zur Genfer Wechsel- und Scheckrechtsvereinheitlichung. Weitere internationale Rechtsvereinheitlichungsmaßnahmen betreffen das UN-Kaufrecht ([[Warenkauf, internationaler (Einheitsrecht)]]), das Finanzierungsleasing und das ''[[Factoring]]'' (UNIDROIT-Konventionen), die Garantieverträge (UN-Konvention; [[Garantie]]), das Lager- und Umschlaggeschäft (UN-Konvention) und weitere Gebiete des Transportrechts – von der ''[[Lex Mercatoria|lex mercatoria]]'', ''model laws'', ''principles'' und Klauselrecht ganz zu schweigen.<br />
<br />
== 4. Europäische Rechtsangleichung auf dem Gebiet des Handelsrechts ==<br />
<br />
Heute gewinnt die Rechtsangleichung in der [[Europäische Union|Europäischen Union]] eine rasch zunehmende Bedeutung. Zahlreiche [[Richtlinie]]n zur Koordinierung des Handelsrechts im weiteren Sinn sind bereits verbindlich. Man kann insoweit von einem Kernbestand des europäischen Handelsrechts sprechen, was zu der Forderung eines europäischen Handelsgesetzbuches beigetragen hat. Bei Nichtumsetzung von EG-Richtlinien droht Haftung des Mitgliedstaates gegenüber seinen Bürgern auf Schadensersatz. Europarechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts nach Umsetzung kann schwierige Probleme aufwerfen, etwa wenn wie in der Handelsvertreterrichtlinie die Interessenwahrungspflicht vorgegeben ist, diese dann aber im nationalen Recht in vielen Details ausgestaltet wird. Praktisch und prozessual wichtig ist, dass für Zweifelsfragen bei der Auslegung der Richtlinien der [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] im Vorlageverfahren nach Art.&nbsp;234 EG/267 AEUV zuständig ist. Eine Verkennung der Vorlagepflicht ist eine Vorenthaltung des „gesetzlichen Richters“.<br />
<br />
Für das Handelsrecht im hier verstandenen, engeren Sinn, für das eine in aller Regel nur Teilregelungen enthaltende europäische Rechtsangleichung vorgenommen wurde, sind unter anderem relevant: die Publizität des Handelsregisters (1.&nbsp;Gesellschaftsrechtliche Richtlinie vom 9.3.1968, Publizitäts-RL, RL&nbsp;68/151) und allgemeiner das Handelsregisterrecht mit dem elektronischen Handelsregister (Publizitäts-Änderungs-RL vom 15.7.2003, RL&nbsp;2003/58), der Jahresabschluss und der Konzernabschluss jeweils einschließlich Lagebericht von Kapitalgesellschaften (4. und 7.&nbsp;Gesellschaftsrechtliche Richtlinie, Jahresabschluss-RL, RL&nbsp;78/660 vom 25.7. 1978, sowie Konzernabschluss-RL, RL 83/349 vom 13.6.1983), die klarstellende Einbeziehung der GmbH & Co. in diese Rechnungslegungspublizität (RL&nbsp;90/605 vom 8.11.1990, GmbH & Co.-RL), Abschlussprüfer (8.&nbsp;Gesellschaftsrechtliche Richtlinie vom 10.4.1984, Abschlussprüfer-RL, RL&nbsp;84/253, aufgehoben durch die Richtlinie vom 17.5.2006 über Abschlussprüfungen ([[Abschlussprüfer]]), RL&nbsp;2006/43; Empfehlung der Kommission vom 16.5.2002 zur Unabhängigkeit des Abschlussprüfers; Empfehlung der Kommission vom 5.6.2008 zur Beschränkung der zivilrechtlichen Haftung von Abschlussprüfern und Prüfungsgesellschaften), das Handelsvertreterrecht (Richtlinie vom 18.12.1986, Handelsvertreter-RL, RL&nbsp;86/653) und das Zweigniederlassungsrecht (11.&nbsp;Gesellschaftsrechtliche Richtlinie vom 22.12.1989, Zweigniederlassungs-RL, RL&nbsp;89/ 666).<br />
<br />
Wenn man diesen Bestand an europarechtlichen Rechtsangleichungsmaßnahmen auf dem Gebiet des Handelsrechts im engeren Sinn Revue passieren lässt, wird leicht erkenntlich, dass das Hauptaugenmerk des europäischen Gesetzgebers auf drei Gebieten liegt: der handels- und gesellschaftsrechtlichen Publizität, dem [[Handelsvertreter]]recht und dem Recht der Zweigniederlassungen. Die Gründe dafür sind leicht nachvollziehbar. [[Publizität]] ist im Handels- und Wirtschaftsrecht eines der wichtigsten Regelungsinstrumente, weil sie die Unternehmen zwingt, sich am Markt der Kontrolle und dem Wettbewerb zu stellen. Für den europäischen Gesetzgeber ist die Publizität auch deswegen besonders wichtig, weil sie eine weniger einschneidende Alternative zu eigentlichen Sachregelungen enthält, der zuzustimmen die Mitgliedstaaten sich eher bereit finden. Das Handelsvertreterrecht ist ein zentraler Bereich des Vertriebs, der im europäischen Binnenmarkt ohne Hindernisse grenzüberschreitend möglich sein muß ([[Handelsvertreter]]). Zugleich enthält das Handelsvertreterrecht Schutznormen, denen der europäische Gesetzgeber auch in anderen Bereichen, etwa Aktionärs-, Verbraucher- und Arbeitnehmerschutz, zunehmend Aufmerksamkeit widmet. Das Recht der Zweigniederlassungen schließlich ist im [[Europäischer Binnenmarkt|europäischen Binnenmarkt]] zentral.<br />
<br />
== 5. Europäische Rechtsangleichung auf handelsrechtsnahen Gebieten ==<br />
<br />
Wenn man einen weiten Begriff des Handelsrechts (s.o. 1.) zugrundelegt oder auf die europäische Rechtsangleichung auf handelsrechtsnahen Gebieten wie dem Gesellschaftsrecht, Bank- und Börsenrecht, Versicherungsrecht und in Teilen des Arbeitsrechts abhebt, nimmt die Zahl der europarechtlichen Rechtsangleichungsmaßnahmen drastisch zu, so dass es keinen Sinn macht, diese hier näher anzusprechen; vielmehr muss auf einzelne andere Stichwörter verwiesen werden. So zählt eine Textsammlung von 2007 zum europäischen Gesellschafts- und Finanzrecht 32 Einträge, zum Bankrecht 42, zum Recht des Verbraucherschutzes bei Finanztransaktionen 24, zum Börsen- und Kapitalmarktrecht 34, zum Versicherungsrecht 40 und zum Unternehmensrecht 13.<br />
<br />
== 6. Ein europäisches Handelsgesetzbuch? ==<br />
<br />
Verschiedentlich ist die Forderung nach einem europäischen Handelsgesetzbuch erhoben worden (z.B. von ''Ulrich'' ''Magnus''). Zur Begründung wird vorgebracht, dass abgesehen vom [[Vertragsschluss]] und vom allgemeinen Vertragsrecht bereits eine Reihe von besonderen Verträgen des Handelsrechts ganz oder teilweise international einheitlich geregelt seien (Handelskauf, Finanzierungsleasing &#91;''[[Leasing]]''&#93;, ''[[Factoring]]'', Garantieverträge &#91;[[Garantie]]&#93;, [[Transportvertrag|Transportverträge]], [[Handelsvertreter]]verträge, Lagerverträge, Dokumentenakkreditive &#91;[[Akkreditiv]]e&#93; und Überweisungen &#91;[[Überweisungsverkehr (grenzüberschreitender)]]&#93;). Es fehlten jedoch so wichtige Handelsverträge wie Vertriebsverträge ([[Vertrieb]]) und ''[[Franchising]]'', [[Lizenzverträge]], Know-how- und Technologietransferverträge. Diese Bausteine bedürften nur der Zusammenfügung zu einem stimmigen Gebäude. <br />
<br />
Daran ist sicher richtig, dass die Auswahl und Reichweite dieser Rechtsvereinheitlichungen vielfach nur politisch oder interessengetrieben zu verstehen ist. So ist beispielsweise nicht recht verständlich, warum aus dem gesamten Vertriebsrecht, bei dem der Unternehmer doch die Wahl zwischen Direktvertrieb, Handelsvertretervertrieb oder Vertriebe über Vertragshändler hat, nur das Handelsvertreterrecht erfasst ist und auch dieses nur in Einzelheiten, z.B. hinsichtlich der Vergütung der Handelsvertreter und der Vertragsbeendigung mit Ausgleichsansprüchen, nicht aber das Recht der Vertragshändler (von dem öffentlich-rechtlichen Wettbewerbsrecht abgesehen). Indessen ist eingangs darauf hingewiesen worden, dass eine eigene [[Kodifikation]] des Handelsrechts in den Mitgliedstaaten keineswegs allgemeine Zustimmung findet, sondern eher im Gegenteil eine Bewegung dahin festzustellen ist, das Handelsrecht in das bürgerliche Recht zurückzuholen. Auch bestehen zu Begriff und Reichweite des Handelsrechts in den Mitgliedstaaten ganz erhebliche Unterscheide und Meinungsverschiedenheiten. Schließlich hat die europäische Bewegung wenn nicht hin zu einem europäischen Zivilgesetzbuch, so doch zu einer allgemeineren Vertragsrechtsvereinheitlichung durch ''principles'', ''model laws'' und ''tools'' in den letzten Jahren ganz erheblich an Bedeutung gewonnen. Dort wird man eher weiterschreiten.<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Peter Raisch'','' ''Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 1965; ''Wolfgang Zöllner'', Wovon handelt das Handelsrecht? Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht 1983, 82ff.; ''Franz Bydlinski'', Handels- oder Unternehmensrecht als Sonderprivatrecht, 1990; ''Uwe Blaurock'','' ''Übernationales Recht des Internationalen Handels, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 1 (1993) 247&nbsp;ff.; ''Herbert Kronke'', Rechtsvergleichung und Rechtsvereinheitlichung des Reichsoberhandelsgerichts, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 5 (1997) 735&nbsp;ff.; ''Ulrich Magnus'', Die Gestalt eines Europäischen Handelsgesetzbuches, in: Festschrift für Ulrich Drobnig, 1998, 57&nbsp;ff.; ''Karsten Schmidt'', Handelsrecht, 5.&nbsp;Aufl. 1999; ''Klaus J. Hopt'' (Hg.), Vertrags- und Formularbuch zum Handels-, Gesellschafts- und Bankrecht, 3.&nbsp;Aufl. 2007; ''Klaus J. Hopt'', ''Eddy Wymeersch'' (Hg.), European Company and Financial Law, 4.&nbsp;Aufl. 2007; ''Adolf Baumbach'', ''Klaus J. Hopt'', ''Hanno Merkt'','' ''Handelsgesetzbuch mit GmbH & Co, Handelsklauseln, Bank- und Börsenrecht, Transportrecht (ohne Seerecht), 34.&nbsp;Aufl. 2009.<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Commercial_Law]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Handelsvertreter&diff=1677Handelsvertreter2021-09-08T10:27:54Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Knut B. Pißler]]''<br />
== 1. Gegenstand und Zweck ==<br />
<br />
Der Handelsvertreter ist gemäß der Definition in Art.&nbsp;1(2) der Handelsvertreter-RL vom 18.12.1986 (RL&nbsp;86/653), mit der das Handelsvertreterrecht in den Mitgliedstaaten harmonisiert wurde, als selbständiger Gewerbetreibender ständig damit betraut, für eine andere Person den Verkauf oder den Ankauf von Waren zu vermitteln oder diese Geschäfte im Namen und für Rechnung des Unternehmers abzuschließen. Betriebswirtschaftlich ist der Handelsvertreter einer von drei Grundtypen von Absatzkanälen vom Hersteller zum Endkäufer: Üblich ist der Weg über den Groß- und Einzelhandel, wichtig und häufig ist auch der Weg über Handelsvertreter oder Vertragshändler, seltener geworden ist der Direktabsatz über eigene Filialen oder Verkaufsangestellte (Reisende). Rechtlich ist der Handelsvertreter also anders als Groß- und Einzelhändler in den Absatz und [[Vertrieb]] eines anderen Unternehmens eingegliedert, und zwar im Gegensatz zum Makler ständig. Der Handelsvertreter behält dabei aber anders als der Arbeitnehmer seine rechtliche Selbstständigkeit; die Abgrenzung des Handelsvertreters vom Arbeitnehmer ist indes eines der schwierigsten Probleme des materiellen Handelsvertreterrechts überhaupt. Dem Mehr an unternehmerischer Freiheit des Handelsvertreter entspricht ein Weniger an rechtlichem Schutz. Das Erscheinungsbild des Handelsvertreters in der Praxis ist allerdings sehr vielgestaltig. Es reicht vom großen Vertriebsunternehmer mit Marktmacht, auf den der Hersteller angewiesen ist, beispielsweise bestimmte Importeure, über den nur rechtlich selbstständigen, aber wirtschaftlich abhängigen Handelsvertreter bis zum Handelsvertreter im Nebenberuf und zum Einfirmenvertreter mit arbeitnehmerähnlicher Stellung und Schutzbedürftigkeit. Der Vertrieb über Handelsvertreter ist heute nur eine Erscheinungsform in einer Vielfalt von Absatzmittlungs- und Vertriebssystemen; das Handelsvertreterrecht ist dementsprechend Teil des Rechts des Vertriebsmittler bzw. Vertriebssysteme, wie beispielsweise Vertragshändler und ''[[Franchising]]''. Der Handelsvertreter und das zu seinem Schutz normierte Recht geben aber für ähnliche Absatzmittler und Vertriebssysteme eine Leitbildfunktion ab.<br />
<br />
Das Gewerbe des Handelsvertreters ist eine relativ junge Erscheinung, die eng mit der wirtschaftlichen Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19.&nbsp;Jahrhunderts verbunden ist. Zu dieser Zeit bewirkte die starke Zunahme der Industrialisierung und des Außenhandels die Entstehung dieser neuen Vertriebsform. Es kam zu einer zunehmenden Arbeitsteilung zwischen der Herstellung und dem Vertrieb der Waren, so dass eine zusätzliche Handelsstufe zwischen Produzenten und Endkunden entstand. Auch wurden die zu bedienenden Märkte durch den Auf- und Ausbau leistungsfähiger Verkehrsnetze, die das Erschließen neuer, fernerer Absatzregionen ermöglichten, größer. Dies machte den Einsatz von ständig tätigen Vermittlern nötig, um ein größeres Maß an Präsenz und Kundennähe zu zeigen. Anfangs wurde die neue Absatzmittleraufgabe von Angestellten wahrgenommen, was sich aber angesichts der großen Vertriebsgebiete und der breiten Angebotspalette bald als zu kostspielig erwies. Es kam daher zum Einsatz von am produktionsfernen Ort ansässigen Vermittlern, die mehrere Unternehmer vertraten und diesen die von ihnen aufgebaute Infrastruktur zur Verfügung stellten. Der allmähliche Übergang vom Festgehalt zu einer Erfolgsvergütung führte zu einer stetigen Verselbständigung der auswärtigen Vertreter, so dass sie sich mehr und mehr zu auf eigenes Risiko tätigen selbständigen Unternehmern entwickelten. Die Wirtschaftskrise in den 1920er Jahren machte deutlich, dass sich der Handelsvertreter trotz seiner rechtlichen Stellung als selbständiger Unternehmer in einer besonderen wirtschaftlichen Abhängigkeit zu seinem Prinzipal befand. Diese Abhängigkeit zeigte sich verstärkt, als Unternehmen dazu übergingen, ihre Vertreter durch das vertragliche Verbot einer Annahme von Mehrfachvertretungen enger an sich zu binden, wobei die damals geltenden handelsrechtlichen Vorschriften dem Vertreter keinen dieser wirtschaftlichen Abhängigkeit entsprechenden Schutz boten.<br />
<br />
== 2. Tendenzen der Rechtsentwicklung ==<br />
<br />
In Deutschland und Österreich erkannte man zwar früh die wirtschaftliche Bedeutung des Handelsvertreters und die Notwendigkeit, ihm einen rechtlichen Rahmen zu geben. Dennoch enthielt das [[Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch|Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch (ADHGB)]] von 1891 nur Vorschriften über den Handelsmakler, so dass der Handelsvertretervertrag nach dem Dienst- und Werkvertragsrecht beurteilt wurde. Erst im neuen deutschen Handelsgesetzbuch von 1897 wurde eine eigenständige Regelung des Handelsvertreters für notwendig erachtet, die sich jedoch bereits nach kurzer Zeit als unzureichend erwies, um die Stellung des Handelsvertreters gegenüber dem Unternehmer zu verbessern. Schrittmacher für die Forderung nach einem Eingreifen des Gesetzgebers war die Rechtsentwicklung in Österreich, die 1921 zum Erlass eines Handelsagentengesetzes (später Handelsvertretergesetz) mit einer Reihe zwingender Schutzvorschriften zugunsten des Handelsvertreters führte. Hierin wurde zum ersten Mal ein Anspruch auf Kundschaftsentschädigung zugebilligt, der später Vorbild für den deutschen Ausgleichsanspruch werden sollte. In Deutschland führten die nach der Gründung der Bundesrepublik wiederaufgenommenen Arbeiten aber erst 1953 zum Erfolg.<br />
<br />
Kernmerkmal des deutschen Handelsvertreterrechts ist seine sozialpolitische Ausrichtung: Die §§&nbsp;84&nbsp;ff. HGB enthalten eine Reihe zwingender Vorschriften zum Schutz des Handelsvertreters als der typischerweise schwächeren Partei (Kündigung des Handelsvertretervertrags, Voraussetzungen für ein nachvertragliches Wettbewerbsverbot und für einen nachvertraglichen Ausgleichanspruch für den Verlust des vom Vertreter aufgebauten Kundenstamms bei Beendigung des Vertretungsverhältnisses). Dabei ist dieser spezielle Schutz nicht auf die besonders von ihrem Unternehmer abhängigen Einfirmenvertreter beschränkt. Bei der Abgrenzung zum Arbeitsrecht geht das deutsche Recht von einer eindeutigen Unterscheidung dieser beiden Schutzrechtsordnungen aus.<br />
<br />
In Frankreich und Belgien war das Recht des Handelsvertreters lange Zeit nicht gesetzlich geregelt. In beiden Ländern hatte der ''[[Code civil]]'' von 1804 eine entscheidende Rolle bei der Behandlung der rechtlichen Probleme im Zusammenhang mit Handelsvertretern (''commis voyageur'','' ''später:'' représentant de commerce''), da der ''[[Code de Commerce]]'' keine entsprechenden Regelungen enthielt. Der Handelsvertretervertrag wurde dabei unter das Dienstvertragsrecht (''contrat de louage de service'') oder den Auftrag (''mandat'') eingeordnet, wobei sich ersteres durch das Vorliegen eines Unterordnungsverhältnisses (''lien de subordination'') zwischen dem Dienstverpflichteten und dem Dienstberechtigten definiert. Daher wurde in Frankreich anders als in Deutschland lange Zeit nicht zwischen dem selbständigen Handelsvertreter und dem angestellten Handlungsreisenden unterschieden, wobei diese Einordnung nicht mit den tatsächlichen Gegebenheiten übereinstimmte. Ordnete man den Handelsvertretervertrag als Auftrag (''mandat'') ein, erwies sich als problematisch, dass der ''Code civil ''das ''mandat'' als grundsätzlich unentgeltlich und als durch den Prinzipal frei widerrufbar ansieht. Das französische Recht ging also weder von einer ständigen Vertragsbeziehung zwischen Mandatar und Mandanten noch von einer Tätigkeit des Mandatars zu Erwerbszwecken aus, was wiederum den wirtschaftlichen Gegebenheiten der Handelsvertretung nicht gerecht wurde. 1937 schuf der französische Gesetzgeber mit dem ''Statut professionel des voyageurs'','' représentants et placiers'' eine erste gesetzliche Regelung des Vermittlungsrechts für Personen, die keine eigenwirtschaftliche Tätigkeit ausüben. 1958 regelte er in einem ''décret'' zusätzlich das Rechtsverhältnis des ''agent commercial'', welches zwar das Recht des Prinzipals zum einseitigen Widerruf der Beauftragung aufhob und einen nachvertraglichen Schadensersatzanspruch bei einseitiger Vertragsbeendigung durch den Unternehmer festschrieb, jedoch für seine Anwendung konstitutiv die Registrierung vorsah. Dies führte in der folgenden Zeit zu einer Zersplitterung des französischen Handelsvertreterrechts, da auf den nicht eingetragenen Handelsvertreter (''agent non statutaire''), der auch nicht unter das ''statut professionel'' aus dem Jahr 1937 fiel, wiederum die allgemeinen Regelungen des ''Code civil'' angewandt wurden.<br />
<br />
Im belgischen Handelsvertreterrecht blieb die Schaffung von zwingenden Regeln, welche auch den selbständigen Vertreter in seiner potentiell schwächeren Position gegenüber dem Unternehmer zu schützen geeignet wären, hingegen aus.<br />
<br />
Im englischen Recht existierten ebenfalls keine spezifischen Regelungen hinsichtlich des in den kontinentaleuropäischen Ländern als Handelsvertretung bezeichneten Warenvertriebstypen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass sich im ''[[common law]]'' keine eigenen Regeln für die kaufmännische Stellvertretung, insbesondere hinsichtlich des Innenverhältnisses zwischen Vertreter und Unternehmer, entwickelten. Handelsvertreter unterlagen dort den Regeln des Rechtsinstituts der ''agency'' ([[Stellvertretung]]). Dabei war die traditionelle Position des englischen Rechts hinsichtlich der Behandlung von ''agency''-Verträgen von der Auffassung geprägt, dass Vertreter und Geschäftsherr das Recht haben sollten, ihr Rechtsverhältnis nach eigenem Gutdünken auszugestalten. Folglich gab es keine zwingenden Bestimmungen zum Schutz des in der Eigenschaft als Handelsvertreter tätig werdenden ''agent''. Dieser wurde nicht als schutzbedürftig angesehen. Vielmehr bestand die Auffassung, dass es sich bei diesem Handelsvertreter-Agent um einen selbständigen Unternehmer handelt, dem folglich zuzutrauen war, seine Rechte in ausreichendem Maße eigenständig vertraglich gegenüber dem Geschäftsherrn durchzusetzen. Als potentiell gefährdete und somit schutzwürdige Partei wird im englischen ''agency''-Recht daher auch nicht der Stellvertreter, sondern vielmehr der Geschäftsherr angesehen. Es besteht die Sorge, der ''agent'' könnte die ihm gewährten Rechte zum Schaden des ''principal'' nutzen, so dass das ''common law of agency'' gewisse fiduziarische Pflichten des Stellvertreters gegenüber seinem Geschäftsherrn vorsieht. Hingegen fehlen dem englischen ''agency''-Recht im Hinblick auf die Tätigkeit eines Handelsvertreters jegliche Regeln zum Schutze des Vertriebsmittlers (kein Anspruch auf Provision, Möglichkeit der fristlosen Kündigung des ''agency''-Vertrags, keine nachvertragliche Kundschaftsentschädigung).<br />
<br />
== 3. Regelungsstrukturen im Einheitsrecht ==<br />
<br />
Da in einigen europäischen Ländern zwingende Vorschriften zum Schutz des Handelsvertreters (insbesondere nachvertragliche Entschädigungs- bzw. Ausgleichsansprüche) normiert waren, während in anderen Mitgliedstaaten die Vertragsfreiheit der Parteien und vor allem die des Unternehmers in der Ausgestaltung der Vertretungsverträge nicht eingeschränkt waren, kam es zu einer entsprechenden Kostendifferenz für die Unternehmer, je nachdem, welchem Recht ihre Handelsvertreterverträge unterlagen. Wettbewerbsverzerrungen entstanden in Fällen von grenzüberschreitenden Sachverhalten, bei denen der für denselben Unternehmer tätige Handelsvertreter in verschiedenen Mitgliedstaaten auftrat. Wenn beispielsweise ein deutscher Unternehmer einen deutschen Handelsvertreter auch auf dem belgischen Markt einsetzte, konkurrierte dieser Unternehmer mit belgischen Unternehmen, deren Vertragsverhältnisse mit Handelsvertretern belgischem Recht unterliegen. Da das belgische Handelsvertreterrecht lange keinen Ausgleichsanspruch bei Beendigung des Vertrags kannte, bestand für den deutschen Unternehmer durch die Anwendbarkeit des „teureren“ deutschen Handelsvertreterrechts ein Wettbewerbsnachteil. Außerdem war die Ungleichheit der Wettbewerbsbedingungen auf Bestimmungen des Kollisionsrechts, nämlich die Reichweite der Rechtswahlfreiheit, zurückzuführen. Denn der ausländische Unternehmer konnte über eine Rechtswahlklausel die unter Umständen im Lande des Vertriebs bestehenden national zwingenden Bestimmungen im Handelsvertreterrecht abbedingen, an die der inländische Unternehmer hingegen gebunden war.<br />
<br />
Vor diesem Hintergrund wurde eine Harmonisierung des Rechts des Handelsvertreters in der am 18.12.1986 verabschiedeten Handelsvertreter-RL (RL&nbsp;86/653) angestrebt, um das durch die kostenträchtigen zwingenden Vorschriften verursachte Belastungsniveau der in den Mitgliedstaaten tätigen Unternehmen anzugleichen und das Schutzniveau für die von diesen Vorschriften begünstigten Handelsvertreter zu vereinheitlichen.<br />
<br />
Der Verabschiedung der Handelsvertreter-RL im Jahr 1986 ging nicht zuletzt wegen scharfer Kritik aus England eine 25-jährige Vorbereitungsphase voraus. Während ein Vorentwurf aus dem Jahr 1976 deutlich vom deutschen Handelsvertreterrecht geprägt war, enthält die verabschiedete Fassung Umsetzungsalternativen, die es den Mitgliedstaaten ermöglichen sollten, ungeachtet der angestrebten Harmonisierung an ihren eigenen Rechtskonzepten festzuhalten. Dies gilt für die in der Vertriebspraxis sehr relevante Frage, welche zusätzlichen Rechte ein Vertreter haben sollte, dem vom Unternehmen ein bestimmtes Gebiet für seine Vermittlungstätigkeit zugewiesen worden ist, und die Regelungen über die Beendigung des Handelsvertretervertrages. Während sich der Richtlinienentwurf für eine Anlehnung an das deutsche Konzept des Bezirksvertreters entschied, lässt die Handelsvertreter-RL den Mitgliedstaaten die Wahl, stattdessen vom Konzept des Alleinvertreters auszugehen, wie es der Rechtslage in den meisten anderen Mitgliedstaaten entsprach (Art.&nbsp;7(2) Handelsvertreter-RL).<br />
<br />
Zur Beendigung des Handelsvertretervertrages enthält die Richtlinie ebenfalls zwei Umsetzungsalternativen: Den dem deutschen Recht entnommenen Ausgleichsanspruch des Vertreters für nachvertragliche Vorteile des Unternehmers aus der Übernahme des Kundenstammes (Art.&nbsp;17(2) Handelsvertreter-RL) und einen Schadensersatzanspruch des Handelsvertreters im Falle der Vertragsbeendigung (Art.&nbsp;17(3) Handelsvertreter-RL). Im Jahr 1996 legte die Kommission in Übereinstimmung mit Art.&nbsp;17(6) der Handelsvertreter-RL einen Bericht über die Umsetzung der Regeln zur Beendigung des Handelsvertretervertrags in den Mitgliedstaaten vor (KOM(96) 364 endg.). Die [[Europäische Kommission]] stellte fest, dass man sich nur in Frankreich, im Vereinigten Königreich und in Irland für das Schadensersatzmodell entschieden hat, während die anderen Mitgliedstaaten die Ausgleichsvariante gewählt haben. Im Vereinigten Königreich gilt der Schadensersatzanspruch jedoch nur, wenn sich die Parteien nicht für einen Ausgleichsanspruch des Vermittlers entschieden haben, was in der Praxis jedoch selten vorkommt. Dort führte die Umsetzung der Richtlinie in Einzelfällen auch dazu, dass keine neuen Handelsvertreterverträge abgeschlossen wurden oder die Handelsvertreter als Beschäftigte übernommen wurden.<br />
<br />
Auf Vorlage des englische ''Court of Appeal'' hat der [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] in einem viel beachteten Urteil entschieden, dass der Ausgleichsanspruch des Handelsvertreters zwingenden Charakter im Sinne des [[internationales Privatrecht|internationalen Privatrechts]] hat (EuGH Rs.&nbsp;C-381/98 – ''Ingmar'', Slg. 2000, I-9305). Er kommt daher auch gegenüber einem von den Parteien vereinbarten Recht eines Drittstaates (etwa dem Recht am Sitz des Unternehmers in Kalifornien wie in dem der Entscheidung des EuGH zugrunde liegenden Fall) zur Geltung, wenn der Handelsvertreter in einem Mitgliedstaat tätig ist. Dies folgt nach dem EuGH aus der Zielsetzung der Handelsvertreter-RL, gleiche Wettbewerbsbedingungen für die aus dem Binnenmarkt tätigen Unternehmer zu schaffen und einen Mindeststandard des Schutzes für die in den Mitgliedstaaten tätigen Handelsvertreter zu schaffen. Für die gemeinschaftliche Rechtsordnung sei von grundlegender Bedeutung, dass ein Unternehmer mit Sitz in einem Drittland, dessen Handelsvertreter seine Tätigkeit innerhalb der Gemeinschaft ausübt, die Bestimmungen der Handelsvertreter-RL nicht schlicht durch eine Rechtswahlklausel umgehen kann.<br />
<br />
Zur Kündigung des Handelsvertretervertrags und zu den Voraussetzungen für ein nachvertragliches Wettbewerbsverbot stellt die Handelsvertreter-RL einen Mindestschutz des Vertreters auf, stellt es jedoch den Mitgliedstaaten frei, einen darüber hinausgehenden Schutz zu normieren (Art.&nbsp;15, 16 sowie Art.&nbsp;20 Handelsvertreter-RL).<br />
<br />
== 4. Vereinheitlichungsprojekte ==<br />
<br />
Im Draft [[Common Frame of Reference|DCFR]] vorgeschlagen, das Handelsvertreterrecht als Teil des Vertriebsrechts zu vereinheitlichen. Bestimmte Regelungen, die in allen Formen des [[Vertrieb]]s anzutreffen sind (Informationspflichten, Kündigungsfristen, Kundschaftsentschädigung) werden vor die Klammer gezogen in einem allgemeinen Teil geregelt, wobei der Einfluss der Handelsvertreter-RL und insbesondere bei der Beendigung des Handelsvertretervertrages der Einfluss des deutschen Rechts bemerkenswert ist: Der DCFR sieht nur einen Ausgleichsanspruch, grundsätzlich aber keinen Schadensersatzanspruch vor.<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Ole'' ''Lando'', The EEC draft directive relating to self-employed commercial agents, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 44 (1980) 1&nbsp;ff.; ''Jürgen Basedow'', Das Vertretungsrecht im Spiegel konkurrierender Harmonisierungsentwürfe, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 45 (1981) 196&nbsp;ff.; ''Kommission der Europäischen Gemeinschaften'', Bericht über die Anwendung von Artikel 17 der Richtlinie des Rates zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter (86/653/EWG), 1996 (KOM(96) 364 endg.); ''Till'' ''Fock'', Die europäische Handelsvertreter-Richtlinie, 2001; ''Roland Hagemeister'', Der Handelsvertreter im englischen Recht und seine Ansprüche bei Beendigung des Vertretervertrags, 2003; ''Klaus J.'' ''Hopt'', Handelsvertreterrecht, 3.&nbsp;Aufl. 2003; ''Michael Martinek'', ''Franz-Jörg Semler'', ''Stefan Habermeier'', Handbuch des Vertriebsrechts, 2.&nbsp;Aufl. 2003.<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Commercial_Agents]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Schiffskollision&diff=1675Schiffskollision2021-09-08T10:27:29Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Tjard-Niklas Trümper]]''<br />
== 1. Regelungsgegenstand ==<br />
Unter einer Schiffskollision (auch Schiffszusammenstoß, vgl. §§&nbsp;734&nbsp;ff. HGB, ''collision at sea'', ''abordage'', ''urto di navi'', ''abordaje'', ''aanvaring'', ''fartyg sammanstötning'') versteht man gemeinhin einen Schadensfall, der durch das körperliche Aneinandergeraten von mindestens zwei Schiffen verursacht wurde; im allgemeinen Sprachgebrauch auch häufig als ''Havarie ''bezeichnet. Im Falle einer Schiffskollision entstehen typischerweise vielfältige Interessen, die sich auf mehrere Parteien verteilen. Nach einer Schiffskollision geht es primär um die Zuweisung von Schadensersatzpflichten unter den unmittelbar verantwortlichen bzw. geschädigten Personen (und deren Begrenzung, vgl. hierzu [[Seeverkehr (globale Haftungsbegrenzung)|Seeverkehr]]). Auf einer sekundären Ebene werden für gewöhnlich Interessen Dritter berührt, insbesondere die von Versicherern, im Falle einer anschließenden [[Bergung]] aber auch die Interessen der an einer solchen Maßnahme beteiligten Parteien. Im Zusammenhang mit einer Schiffskollision kann es schließlich zu Schäden kommen, die sich als Große Haverei (auch Havariegrosse, ''general average'', ''avarie commune'', ''avaria comune'', ''avería gruesa'', ''avarij-grosse'', ''gemensamt haveri'') darstellen.<br />
<br />
Im Folgenden konzentriert sich die Darstellung auf die primäre Ebene, also auf die Frage nach der Schadensersatzpflicht im Falle einer Schiffskollision. Für diesen Bereich wurde bereits im Jahre 1910 nach Vorarbeiten durch das ''Comité Maritime International'' (CMI) im Rahmen der Brüsseler Seerechtskonferenzen das Brüsseler Übereinkommen zur einheitlichen Feststellung von Regeln über den Zusammenstoß von Schiffen (IÜZ&nbsp;1910) verabschiedet. Die in Europa führenden Flaggenstaaten haben das IÜZ&nbsp;1910 sämtlich ratifiziert, so dass dessen Bestimmungen das europäische Privatrecht hinsichtlich der Schadensersatzpflichten bei Schiffskollisionen maßgeblich prägen. Unter den weltweit führenden Flaggenstaaten – zu gut 75&nbsp;% nicht-europäische Staaten – haben jedoch mit Panama, Liberia und den Marshall-Inseln drei der führenden Flaggenstaaten (zusammen knapp 40&nbsp;%) den Beitritt zum IÜZ&nbsp;1910 verweigert. Seit 1952 wird das IÜZ&nbsp;1910 in prozessrechtlicher Hinsicht durch das Brüsseler Übereinkommen zur Vereinheitlichung von Regeln über die zivilgerichtliche Zuständigkeit bei Schiffszusammenstößen (IÜZS&nbsp;1952) flankiert. Dieses Übereinkommen wurde ebenfalls nach Vorarbeiten durch das CMI auf einer der Brüsseler Seerechtskonferenzen verabschiedet. Das IÜZS&nbsp;1952 ist allerdings selbst in Europa nicht von allen führenden Flaggenstaaten ratifiziert worden – es fehlen Norwegen und Malta – und weltweit auch weniger erfolgreich als das IÜZ&nbsp;1910. Dabei stellt das IÜZ&nbsp;1910 jedoch keine abschließende Regelung des Schadensersatzrechts im Falle von Schiffskollisionen dar. Im IÜZ&nbsp;1910 werden vielmehr nur einige grundlegende Prinzipien niedergelegt, während die detaillierte Ausgestaltung den Konventionsstaaten überlassen bleibt.<br />
<br />
== 2. Anwendungsbereich des Brüsseler Übereinkommens von 1910 ==<br />
Die Bestimmungen nach dem IÜZ&nbsp;1910 gelangen unabhängig vom Schadensort immer dann zur Anwendung, wenn ein Zusammenstoß zwischen Seeschiffen oder zwischen Seeschiffen und Binnenschiffen stattgefunden hat (sachlicher Anwendungsbereich, vgl. Art.&nbsp;1 IÜZ&nbsp;1910) und alle beteiligten Schiffe die Flagge eines Vertragsstaates führen (räumlich-persönlicher Anwendungsbereich, vgl. Art.&nbsp;12 IÜZ&nbsp;1910 auch zu Ausnahmen). Dabei löst sich der Anwendungsbereich des IÜZ&nbsp;1910 aber vom oben dargestellten Begriff der Schiffskollision, indem Art.&nbsp;13 IÜZ&nbsp;1910 die Bestimmungen des IÜZ&nbsp;1910 auch dann für anwendbar erklärt, wenn ein Schiff einem anderen Schiff oder den an Bord des Schiffes befindlichen Personen oder Sachen einen Schaden zugefügt hat, ohne das es zu einer körperlichen Berührung gekommen ist (sog. Fernschädigung).<br />
<br />
Ausgangspunkt der Anwendbarkeit und damit einer jeden Schadensersatzpflicht nach dem IÜZ&nbsp;1910 ist die Beteiligung von mindestens zwei voneinander unabhängigen Schiffen; ein Zusammenstoß innerhalb eines Schleppverbandes reicht nicht aus.<br />
<br />
Unter einem Schiff im Sinne des IÜZ&nbsp;1910 wird gemeinhin jeder schwimmfähige Hohlkörper von nicht ganz unbedeutender Größe verstanden, der geeignet und bestimmt ist, auf oder unter dem Wasser fortbewegt zu werden und dabei Personen oder Sachen zu tragen (vgl. im Allgemeinen für Deutschland: BGH 14.12.1951, NJW 1952, 1135; für England: sec. 313 Abs. 1 ''Merchant Shipping Act&nbsp;1995'', ''Marine Craft Constructors Ltd. v. Erland Blomquist (Engineers) Ltd. ''<nowiki>[1953] 1 Lloyd’s Rep. 514). Für die Anwendung des IÜZ&nbsp;1910 kommt es entscheidend auf die Fortbewegungsfähigkeit an. Damit kommt eine Anwendung des IÜZ&nbsp;1910 nicht in Betracht, wenn ein Schiff lediglich mit unbeweglichen Sachen, wie etwa Uferbauten oder Hafenanlagen, kollidiert. Grenzfälle stellen Schwimmkörper dar, die zum Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses jeder Bewegungsfähigkeit entbehren.</nowiki><br />
<br />
Ausgenommen von den Regelungen des IÜZ&nbsp;1910 bleiben Kriegsschiffe sowie Staatsschiffe, die ausschließlich der Erfüllung öffentlicher Aufgaben dienen (vgl. Art.&nbsp;11 IÜZ&nbsp;1910).<br />
<br />
Schließlich findet das IÜZ&nbsp;1910 gemäß Art.&nbsp;10 nur auf den Bereich der außervertraglichen Haftung ([[Außervertragliche Schuldverhältnisse (IPR)]]) Anwendung und lässt das gesamte Vertragsrecht unberührt.<br />
<br />
== 3. Regelungsstrukturen des Brüsseler Übereinkommens von 1910 ==<br />
Ist der Anwendungsbereich des IÜZ&nbsp;1910 eröffnet, so schreibt das IÜZ&nbsp;1910 einige der Bedingungen vor, unter denen das an der Kollision oder Fernschädigung beteiligte Schiff eine außervertragliche Schadensersatzpflicht trifft, und überlässt es im Übrigen den Konventionsstaaten, die weiteren Einzelheiten zu regeln.<br />
<br />
Als grundlegende Prinzipien einer außervertraglichen Schadensersatzhaftung im Falle einer Schiffskollision setzt Art.&nbsp;4 IÜZ&nbsp;1910 Kausalität und Verschulden voraus. Soweit keine Partei ein Verschulden trifft oder der entsprechende Nachweis nicht erbracht werden kann, entfällt damit eine außervertragliche Haftung (vgl. Art.&nbsp;2 IÜZ 1910); für eine [[Gefährdungshaftung]] verbleibt daneben kein Raum. Den Verschuldensmaßstab lässt das IÜZ&nbsp;1910 dabei weitestgehend unbestimmt, verweist aber im Zusammenhang mit der Regelung der Fernschädigung auf Nichtbeachtung der Verordnungen. Hinter diesen in der Konvention nicht weiter bezeichneten Verordnungen verbirgt sich eine schon im 19.&nbsp;Jahrhundert weltweit anerkannte Schifffahrtsordnung zur Verhütung von Schiffskollisionen, die sich seit 1972 in den (mehrfach aktualisierten) Internationalen Regeln der [[International Maritime Organization|IMO]] zur Verhütung von Schiffszusammenstößen (Kollisionsverhütungsregeln) auf See wieder findet. Ein Verstoß gegen diese Kollisionsverhütungsregeln löst anerkanntermaßen die Verschuldensvermutung im Sinne des Art.&nbsp;3 IÜZ&nbsp;1910 aus. Ein Verschulden kann sich daneben jedoch auch aus einem Verstoß gegen eine nationale Schifffahrtsstraßenordnung ergeben, soweit eine solche Regelung neben den Kollisionsverhütungsregeln Bestand hat.<br />
<br />
Hinsichtlich der Zurechnung des Verschuldens legt Art.&nbsp;5 IÜZ&nbsp;1910 nur ausdrücklich fest, dass die Haftung nach dem Übereinkommen auch dann eintritt, wenn der Verschuldensvorwurf lediglich einen Lotsen trifft, sei es auch ein Zwangslotse. Im Übrigen spricht das IÜZ&nbsp;1910 immer nur vom Verschulden des „Schiffes“ und verhält sich damit zur Frage der Verschuldenszurechnung recht vage. Teilweise wird davon ausgegangen, dass mit dem Begriff „Schiff“ nicht die Personen gemeint sein können, die über ein Schiff Verfügungsgewalt ausüben (z.B. ''ship manager'', Vertragsreeder oder Charterer, [[Chartervertrag]]), sondern naturgemäß nur dessen Eigner, weshalb sich dieser jedwedes Verschulden an Bord seines Schiffes zurechnen lassen müsse. Vorzugswürdig erscheint dagegen die Ansicht, dass die Frage der Zurechnung im IÜZ&nbsp;1910 offen gelassen wurde. Zwar scheint das IÜZ&nbsp;1910 grundsätzlich von der Verantwortlichkeit der Eigner auszugehen (vgl. Art.&nbsp;10 IÜZ 1910), die Frage der Verschuldenszurechnung ist jedoch zu komplex und hätte einer eingehenden Regelung bedurft, die im IÜZ&nbsp;1910 fehlt.<br />
<br />
Für den Fall des gemeinsamen Verschuldens mehrerer Schiffe sieht Art.&nbsp;4(1) IÜZ&nbsp;1910 grundsätzlich keine gesamtschuldnerische Haftung, sondern eine ''pro rata ''Haftung entsprechend der Schwere des Verschuldens vor. Eine Ausnahme und damit eine gesamtschuldnerische Haftung gilt nur dann, wenn es um Schadensersatz für Tötung oder Körperverletzung geht (vgl. Art.&nbsp;4(3) IÜZ&nbsp;1910). Für den Fall, dass eine Verschuldensquote zwischen den Schiffen, die grundsätzlich ein Verschulden trifft, nicht ermittelbar ist, so haften sie nach Art.&nbsp;4(1)(1) IÜZ&nbsp;1910 zu gleichen Teilen.<br />
<br />
In prozessualer Hinsicht legt Art.&nbsp;6 S.&nbsp;2 IÜZ&nbsp;1910 den Grundsatz nieder, dass die allgemeine Beweislastverteilung gilt, wonach es dem Geschädigten obliegt, das Vorliegen von Kausalität und Verschulden nachzuweisen. Unberührt von dieser Vorschrift bleibt allerdings die Möglichkeit eines Anscheinsbeweises.<br />
<br />
Als Rechtsfolge legt das IÜZ&nbsp;1910 Schadensersatz fest. In welchem Umfang Schadensersatz verlangt werden kann, lässt das IÜZ&nbsp;1910 jedoch offen und überlässt die Regelungen den Konventionsstaaten. Dementsprechend richtet sich der Umfang des Schadensersatzes prinzipiell nach dem allgemeinen Schadensersatzrecht ([[Schadensersatz]]). Eine unverbindliche Empfehlung zur Bemessung des Schadensersatzes bei Schiffskollisionen hat das CMI in Form der Lissabonner Regeln von 1987 verabschiedet.<br />
<br />
Als Obergrenze der Haftung sind in jedem Fall die im Bereich des Seerechts besonders bedeutsamen Möglichkeiten der Haftungsbegrenzung zu berücksichtigen. Hierauf nimmt das IÜZ&nbsp;1910 in der Weise Rücksicht, dass die Beschränkung der Haftung der Schiffseigentümer ([[Seeverkehr (globale Haftungsbegrenzung)]]) von den Vorschriften des Übereinkommens unberührt bleibt (vgl. Art.&nbsp;10 IÜZ).<br />
<br />
Schließlich sieht Art.&nbsp;7(1) IÜZ&nbsp;1910 eine Verjährungsfrist von zwei Jahren beginnend mit dem Tag des Zusammenstoßes für Ansprüche nach dem Übereinkommen vor. Es bleibt den Konventionsstaaten jedoch frei, die Hemmung oder Unterbrechung des Fristablaufs eigenständig zu regeln.<br />
<br />
== 4. Internationale Zuständigkeit nach dem Brüsseler Übereinkommens von 1952 ==<br />
Das Brüsseler Übereinkommen zur Vereinheitlichung von Regeln über die zivilgerichtliche Zuständigkeit bei Schiffszusammenstößen (IÜZS 1952) stellt einen Annex zum IÜZ&nbsp;1910 dar; es gilt nur für Ansprüche nach dem IÜZ&nbsp;1910. Erreicht wird dieser Gleichlauf durch einen identischen Anwendungsbereich der beiden Konventionen, insbesondere gilt das IÜZS&nbsp;1952 gemäß Art.&nbsp;6 nur für außervertragliche Ansprüche.<br />
<br />
Für Ansprüche nach dem IÜZ&nbsp;1910 gilt nach IÜZS&nbsp;1952 alternativ der Gerichtsstand des Aufenthaltsortes (Art.&nbsp;1(1)(a)), der gewerblichen Niederlassung (Art.&nbsp;1(1)(a)), des Kollisionsortes (Art.&nbsp;1(1)(c)), des Sachzusammenhangs (Art.&nbsp;3 (2)) oder der Arrestgerichtsstand (Art.&nbsp;1(1)(b)). Es bleibt den Parteien jedoch unbenommen, eine Gerichtsstandsvereinbarung zu treffen (vgl. Art.&nbsp;2 IÜZS&nbsp;1952).<br />
<br />
Soweit das IÜZS&nbsp;1952 sowohl räumlich-persönlich als auch sachlich anwendbar ist (s.o. unter 2.) geht es gemäß den Bestimmungen der Brüssel&nbsp;I-VO (VO&nbsp;44/2001) nach dessen Art.&nbsp;71 vor.<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Jürgen Basedow'', Der internationale Schadensprozess nach Seeschiffskollisionen, Versicherungsrecht 1978, 495&nbsp;ff.<nowiki>; </nowiki>''Georg Schaps'', ''Hans Jürgen Abraham'', ''Klaus H''. ''Abraham'', Das Seerecht in der Bundesrepublik Deutschland, 4.&nbsp;Aufl. 1978, Zweiter Teil, Vor&nbsp;§&nbsp;734&nbsp;ff.; ''Hans-Jürgen Puttfarken'', Seehandelsrecht, 1997, 299&nbsp;ff.; ''Rolf Herber'', Seehandelsrecht, 1999, 383&nbsp;ff.; ''Dieter Rabe'', Seehandelsrecht, 4.&nbsp;Aufl. 2000, Vor §&nbsp;734&nbsp;ff.; ''Simon Gault'', ''Steven J. Hazelwood'', ''Andrew Tettenborn'', Marsden on Collisions at Sea, 13.&nbsp;Aufl. 2003; ''Thor Falkanger'', ''Hans Jacob Bull'', ''Lasse Brautaset'', Scandinavian maritime law, 2.&nbsp;Aufl. 2004, 212&nbsp;ff.; ''Sergio M. Carbone'', ''Pierangelo Celle'', ''Marco Lopez de Gonzalo'', Il Diritto Marittimo, 3.&nbsp;Aufl. 2006, 353&nbsp;ff.; ''José Luis Gabaldón García'', ''José María Ruiz Soroa'', Manual de Derecho de la Navegación Marítima, 3.&nbsp;Aufl. 2006, 691&nbsp;ff.; ''Aleka Mandaraka-Sheppard'', Modern Maritime Law and Risk Management, 2.&nbsp;Aufl. 2007, 533&nbsp;ff.<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Collision_at_Sea]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Massenentlassung_von_Arbeitnehmern&diff=1673Massenentlassung von Arbeitnehmern2021-09-08T10:27:00Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Gregor Thüsing]]/[[Gerrit Forst]]''<br />
== 1. Wirtschaftsrealität und Normativgefüge ==<br />
Die Entlassung, d.h. die arbeitgeberseitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses, stellt für den Arbeitnehmer einen schwerwiegenden Eingriff in seine Lebensführung dar. Seine langfristige Finanz- und Lebensplanung wird in Frage gestellt und nicht selten ist er gezwungen, seine Wurzeln aufzugeben, um an anderem Ort neue Arbeit zu finden. Ein Hauptanliegen des Arbeitsrechts war es daher seit jeher, den Arbeitnehmer gegen willkürliche oder ungerechtfertigte Kündigungen zu schützen (§&nbsp;1 KSchG, sec. 94, 98 ''Employment Rights Act 1996''). Dies gilt umso mehr, wenn es infolge von wirtschaftlichen Umstrukturierungen zur simultanen Beendigung einer Vielzahl von Arbeitsverhältnissen kommt. Auch, aber nicht nur in regional begrenzten Märkten hat die Freisetzung einer Vielzahl von Arbeitnehmern einen verstärkten Angebotsüberhang an Arbeitskraft zur Folge. Dies macht es für die Entlassenen umso schwieriger, in Lohn und Brot zurückzukehren.<br />
<br />
<nowiki>Die Europäische Gemeinschaft steht hier insoweit in besonderem Maße in der Verantwortung, als sie mit der Verwirklichung des Binnenmarktes die Voraussetzungen für die schnelle, unkomplizierte Verlagerung von Produktionsstätten geschaffen hat, welche regelmäßig zur Entlassung der Arbeitnehmer an den ursprünglichen Standorten führt. Da das Preis- und insbesondere Lohnniveau in den neuen osteuropäischen Mitgliedstaaten – vergleichbar der Situation bei früheren Erweiterungsrunden – weit unter dem der Gründungsmitglieder liegt, wird dieses Problem auch in Zukunft die Arbeitmärkte in den alten Mitgliedstaaten belasten. Die Gemeinschaft hat vor dem Hintergrund einer sich globalisierenden Wirtschaftsordnung geholfen, wirtschaftliche Kräfte freizusetzen, welche das Wohlstandsniveau insgesamt steigern. Die Konstante Standort jedoch wandelt sich zur Variablen in der Kosten-Nutzen-Rechnung. Mit der Richtlinie zur Massenentlassung RL&nbsp;75/129, ergänzt durch RL&nbsp;92/56 und RL&nbsp;98/59, versucht die Gemeinschaft, die schädlichen Auswirkungen der Kräfte, die sie rief, wieder zu bändigen. Die Rechtsakte sind getragen von dem Bewusstsein, dass es „unter Berücksichtigung der Notwendigkeit einer ausgewogenen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in der Gemeinschaft [wichtig ist], den Schutz der Arbeitnehmer bei Massenentlassungen zu verstärken“ (Erwägungsgrund&nbsp;2 RL&nbsp;98/59). Die Richtlinien verpflichten die Arbeitgeberseite, bei Massenentlassungen die Personalvertreter zu konsultieren.</nowiki><br />
<br />
Weitaus älter als die Kodifikationen der Gemeinschaft ist das Recht der Massenentlassung in Deutschland. Hier erkannte man schon infolge der Verheerungen von Erstem Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise die schädlichen Auswirkungen von Betriebsschließungen und Massenentlassungen auf den Arbeitsmarkt und die Gesamtwirtschaft. Die früheste deutsche Regelung zur Massenentlassung war die Stilllegungsverordnung in der Fassung vom 15.10. 1923. Die Stilllegungsverordnung, erlassen 1920, wollte ursprünglich einen volkswirtschaftlich unerwünschten Abbruch von Betriebsanlagen oder deren Stilllegung nach dem Ersten Weltkrieg verhindern, verfolgte damit also ein wirtschaftspolitisches, kein arbeitsmarktpolitisches Ziel. Anders die Demobilmachungsverordnungen, welche ab 1923 aufgehoben wurden. Danach griff eine Entlassungssperre ein, wenn es zum Abbruch oder zur Stilllegung von Betriebsanlagen kam, was schon damals als unbefriedigend empfunden wurde. Erst §&nbsp;20 des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit von 1934 hob diese Verbindung auf und machte den Kündigungsschutz einzig von der Entlassung einer bestimmten, nach der Größe der Betriebe abgestuften Mindestzahl von Arbeitnehmern abhängig. Dabei ist es bis heute geblieben. Seit 1969 regeln die §§&nbsp;17–22 KSchG die Pflichten des Arbeitgebers bei der Massenentlassung. Das rein nationale Recht machte also eine Entwicklung durch von einem wirtschaftspolitischen hin zu einem arbeitsmarktbezogenen Schutzzweck.<br />
<br />
Mit der zunehmenden Prägung dieser Regelungen zur Massenentlassung durch Sekundärrecht änderte sich die Perspektive beim Schutzzweck der Normierungen erneut. Von den wirtschafts- und arbeitsmarktpolitisch orientierten Anfängen aus ging man auch im deutschen Recht dazu über, den Erwägungsgründen der Richtlinie entsprechend den Schutz des einzelnen entlassenen Arbeitnehmers durch die Reglementierung der Massenentlassungen als primäres Gesetzesanliegen zu werten. Hinsichtlich der arbeitsmarktpolitischen Effektivität der Regelung werden allerdings verbreitet Zweifel geäußert. In Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten und damit einhergehender hoher Arbeitslosigkeit griffen sie kaum, zudem seien die in Aussicht gestellten vorbeugenden oder kompensatorischen Maßnahmen der Behörden wirkungslos.<br />
<br />
== 2. Umsetzung in den Mitgliedstaaten ==<br />
Aufgrund des gewachsenen Normbestandes konnte Deutschland sich bei der Umsetzung der Richtlinien auf eine Neufassung des Kündigungsschutzgesetzes beschränken. Die Neufassung des §&nbsp;17 KSchG wurde ab 1975 maßgeblich durch die europäische Normsetzung vorangetrieben. Nach der Richtlinie von 1975 folgte ein Anpassungsgesetz von 1978. Die Neufassung des §&nbsp;17 KSchG 1978 beschränkte sich auf eine Abänderung der Messzahl der entlassenen Arbeitnehmer sowie eine ausführlichere Regelung über Form und Inhalt der Anzeige sowie die Beteiligung des Betriebsrats. Daneben wurde der Zeitraum für die Ermittlung der Entlassungen auf dreißig Kalendertage erhöht. Der Richtlinie von 1992 folgte die Umsetzung durch ein Anpassungsgesetz von 1995. Entsprechend den Vorgaben in Art.&nbsp;1(1) RL&nbsp;91/533 wurde §&nbsp;17 Abs.&nbsp;1 KSchG dahingehend ergänzt, dass die Regelungen zur Massenentlassung neben der Kündigung durch den Arbeitgeber auch „andere vom Arbeitgeber veranlasste Beendigungen des Arbeitsverhältnisses“ erfassen. Ebenfalls neu gefasst wurde §&nbsp;17 Abs.&nbsp;2 S.&nbsp;1 KSchG. Die Unterrichtungspflicht des Arbeitgebers gegenüber dem Betriebsrat wurde erweitert. Ebenfalls neu eingefügt wurde §&nbsp;17 Abs.&nbsp;3 lit.&nbsp;a KSchG, wonach die Auskunfts-, Beratungs- und Anzeigepflichten auch dann gelten, wenn die Entscheidung über die Entlassung von einem den Arbeitgeber beherrschenden Unternehmen getroffen wurde. Dadurch wurde die Vorgabe des Art.&nbsp;2(4) RL&nbsp;92/56 umgesetzt und klargestellt, dass die Verpflichtung des Arbeitgebers, den Betriebsrat zu informieren und mit ihm die vorgesehenen Beratungen durchzuführen sowie Entlassungen anzuzeigen, nicht dadurch entfällt oder eingeschränkt wird, dass der Arbeitgeber in einem Konzernverbund steht und die Entscheidung über die Entlassung von dem herrschenden Unternehmen getroffen wird. Obwohl auch die RL&nbsp;98/59 den Begriff des beherrschenden Unternehmens nicht definiert, besteht im Schrifttum weitgehende Einigkeit, dass hiermit im Anschluss an die Definition der RL&nbsp;94/95 zu den Europäischen Betriebsräten ein Konzernverhältnis nicht erforderlich ist, sondern allein schon die Möglichkeit zur Beherrschung genügt.<br />
<br />
In Frankreich finden sich dem deutschen KSchG entsprechende Regelungen in den Art.&nbsp;L-1233-8&nbsp;ff. ''Code du travail''. Großbritannien entschied sich für eine Umsetzung der Richtlinie in den sec. 188&nbsp;ff. ''Trade Union and Labour Relations (Consolidation) Act 1992''. Der ''Code du travail''<nowiki> und das britische Umsetzungsgesetz halten sich eng an die Vorgaben der Richtlinie. Die Umsetzungsakte sämtlicher Mitgliedstaaten finden sich auf der Internetseite von Eur-Lex, abrufbar unter <http://eur-lex.europa.eu>.</nowiki><br />
<br />
== 3. Schutz bei Massenentlassungen ==<br />
Nach Art.&nbsp;1(1) RL&nbsp;98/59 sind Massenentlassungen Entlassungen, die ein Arbeitgeber aus Gründen, die nicht in der Person des Arbeitnehmers liegen, vornimmt und bei denen die Zahl der Entlassungen entweder innerhalb eines Zeitraums von 30 Tagen mindestens 10 in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 100 Arbeitnehmern; mindestens 10&nbsp;% der Arbeitnehmer in Betrieben mit in der Regel mindestens 100 und weniger als 300 Arbeitnehmern; mindestens 30 in Betrieben mit in der Regel mindestens 300 Arbeitnehmern oder innerhalb eines Zeitraums von 90 Tagen mindestens 20, und zwar unabhängig davon, wie viele Arbeitnehmer in der Regel in dem betreffenden Betrieb beschäftigt sind, beträgt. Die Richtlinie gilt nicht für Entlassungen in Einrichtungen des öffentlichen Rechts, die Besatzung von Seeschiffen und für Arbeitsverträge, die für eine bestimmte Zeit oder Tätigkeit geschlossen werden. Deutschland hat diese Vorgaben in den §§&nbsp;17 Abs.&nbsp;1, 22, 23 Abs.&nbsp;2 KSchG umgesetzt, geht dabei aber über das Schutzniveau der Richtlinie teilweise hinaus. Auf eine Umsetzung „eins zu eins“ beschränkt sich dagegen sec. 188 ''Trade Union and Labour Relations (Consolidation) Act 1992''.<br />
<br />
Werden die Schwellenwerte nach Art.&nbsp;1(1) RL&nbsp;98/59 erreicht, muss der Arbeitgeber nach den Art.&nbsp;2, 3 RL&nbsp;98/59 die Arbeitnehmervertreter rechtzeitig unterrichten und sie anhören, sowie der zuständigen Behörde Anzeige von der geplanten Entlassung machen. Die Konsultation der Arbeitnehmervertreter erstreckt sich inhaltlich auf die Möglichkeit, Massenentlassungen zu vermeiden oder zu beschränken, sowie auf die Möglichkeit, ihre Folgen durch Begleitmaßnahmen, insbesondere Hilfen für eine Umschulung der entlassenen Arbeitnehmer, zu mildern. Für den Inhalt der Unterrichtung der Arbeitnehmervertreter stellt Art.&nbsp;2(3) RL&nbsp;98/59 einen Katalog auf. Dieser wurde in §&nbsp;17 Abs.&nbsp;2 KSchG; Art.&nbsp;L-1233-10 ''Code du travail''<nowiki>; sec. 188 Abs. 4 </nowiki>''Trade Union and Labour Relations (Consolidation) Act 1992 ''übernommen. Die Anzeige bei der Behörde muss nach Art.&nbsp;3(1) RL&nbsp;98/59 die Stellungnahme der Arbeitnehmervertreter enthalten.<br />
<br />
Arbeitnehmervertreter sind nach Art.&nbsp;1(1)(b) RL&nbsp;98/59 die Arbeitnehmervertreter nach den Rechtsvorschriften oder der Praxis der Mitgliedstaaten. In Deutschland ist nach §&nbsp;17 Abs.&nbsp;2 KSchG der Betriebsrat zu konsultieren, zuständige Behörde ist die Bundesagentur für Arbeit. Das überrascht nicht, gab es die Betriebsräte als Arbeitnehmervertreter in Deutschland doch schon vor Erlass der RL&nbsp;98/59. In anderen Mitgliedstaaten war dies aber nicht der Fall. Erst mit der RL&nbsp;2002/14 wurden die Mitgliedstaaten verpflichtet, ein Verfahren zur Unterrichtung der Arbeitnehmer auf nationaler Ebene zu schaffen. Insofern stellt die RL&nbsp;2002/14 eine institutionelle Flankierung der RL&nbsp;98/59 dar. Nach sec. 188 ''Trade Union and Labour Relations (Consolidation) Act 1992'' sind Gewerkschaftsvertreter zu konsultieren. Art.&nbsp;L-1233-8 ''Code du travail ''verpflichtet zu einer Information des ''comité d'entreprise'' bzw. der ''délégués du personnel''.<br />
<br />
Folge des Vorliegens einer Massenentlassung ist nach Art.&nbsp;4 RL&nbsp;98/59 neben den beschriebenen Informationspflichten, dass Entlassungen frühestens 30 Tage nach Eingang der Anzeige bei der Behörde wirksam werden. Die Behörde kann diesen Zeitraum unter bestimmten Voraussetzungen auf 60 Tage verlängern. Die Mitgliedstaaten können nach Art.&nbsp;5 RL&nbsp;98/59 für die Arbeitnehmer günstigere Maßnahmen vorsehen. Dazu zählt in Deutschland etwa die Möglichkeit, Kurzarbeit einzuführen (§&nbsp;19 KSchG). Nach Art.&nbsp;6 RL 98/59 muss der Arbeitnehmerseite ein Rechtsschutzverfahren zur Seite stehen.<br />
<br />
Die Auslegung der in der Richtlinie verwendeten Termini bereitete wie so oft gewisse Schwierigkeiten, wichtige Begriffe der RL&nbsp;98/59 wurden inzwischen aber höchstrichterlich geklärt. Das gilt zunächst für den Begriff des Betriebes. In der Rechtssache'' Athinaïki Chartopoiía'' (Rs.&nbsp;C-270/05, Slg. 2007, I-1499) entschied der EuGH, dass eine Produktionseinheit ohne eigene verwaltungsmäßige Einrichtung unter den Begriff „Betrieb“ im Sinne der RL&nbsp;98/59 fällt. „Betrieb“ ist danach die Einheit, der die von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer zur Erfüllung ihrer Aufgabe angehören. Maßgeblich ist damit nicht, ob die fragliche Einheit rechtliche, wirtschaftliche, finanzielle, verwaltungsmäßige oder technologische Autonomie besitzt. Bedeutsamer vor allem für das deutsche Recht war die Entscheidung in der Rechtssache ''Junk'' (Rs.&nbsp;C-188/03, Slg. 2005, I-885) zu dem Begriff der Entlassung. Meint sie den tatsächlichen Beendigungszeitpunkt des Arbeitsverhältnisses oder aber den Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung? Der EuGH entschied, dass die Kündigungserklärung gemeint sei, welche erst nach Abschuss des Konsultations- und Anzeigeverfahrens erfolgen dürfe. Zur Begründung verweist er auf den Sinn und Zweck der RL&nbsp;98/59. Aus Art.&nbsp;3(2) RL&nbsp;98/59 folge, dass Kündigungen zu vermeiden oder zahlenmäßig zu beschränken seien. Dieses Ziel lasse sich nicht erreichen, wenn die Konsultation mit der Arbeitnehmervertretung erst nach der Entscheidung des Arbeitgebers stattfinde. Deshalb dürfe die Kündigung des Arbeitsvertrages erst nach dem Ende des Konsultationsverfahrens ausgesprochen werden, d.h., nachdem der Arbeitgeber seine Verpflichtungen aus Art.&nbsp;2 RL&nbsp;98/59 erfüllt habe. Entsprechendes ergebe sich für das Anzeigeverfahren daraus, dass nach Art.&nbsp;3(1) RL&nbsp;98/59 die „beabsichtigte“ Entlassung anzuzeigen sei.<br />
<br />
== 4. Umsetzungsdefizite in Deutschland ==<br />
Obwohl die RL&nbsp;98/59 in Deutschland auf einen sehr weitreichenden Kündigungsschutz des einzelnen Arbeitnehmers traf, welcher durch das Regime der Massenentlassung überlagert und damit noch verstärkt wird, bestehen noch immer mancherlei Defizite bei der Umsetzung der europäischen Vorgaben.<br />
<br />
=== a) Personeller und sachlicher Anwendungsbereich ===<br />
Gemäß §&nbsp;17 Abs.&nbsp;5 Nr. 3 KSchG sind keine Arbeitnehmer im Sinne der Regelungen zur Massenentlassung Geschäftsführer, Betriebsleiter und ähnliche leitenden Personen, soweit diese zur selbständigen Einstellung oder Entlassung von Arbeitnehmern berechtigt sind. Im deutschen Schrifttum besteht Einigkeit darüber, dass hier ein Widerspruch zu den europarechtlichen Vorgaben besteht. Selbst wenn der europäische Gesetzgeber mit der RL&nbsp;98/59 wie bei der Richtlinie zu den Betriebsübergängen den Arbeitnehmerbegriff des nationalen Arbeitsrechts gelten lassen wollte, würde dies nicht für die Umsetzung der RL&nbsp;98/59 genügen, denn auch der leitende Angestellte ist Arbeitnehmer im Sinne des deutschen Arbeitsrechts ([[Betriebsübergang]]). Zudem hat der EuGH in verschiedenen Entscheidungen klargestellt, dass es eine allgemeine Regel, wonach im Zweifel das nationale Recht für die Bestimmung des Arbeitnehmerbegriffs maßgeblich ist, nicht gibt.<br />
<br />
Weiter besteht in Bezug auf Arbeitnehmer im kirchlichen oder diakonisch/karitativen Dienst ein Umsetzungsdefizit. In Deutschland wie in anderen europäischen Ländern nimmt das kirchliche Arbeitsrecht eine Sonderstellung ein (s. etwa Art.&nbsp;140 GG i.V.m. Art.&nbsp;137 WRV oder die erleichterte Kündigung kirchlicher Mitarbeiter bei Verstößen gegen die kirchliche Lehre in Frankreich, Irland und Italien). Weil es im kirchlichen Dienst gemäß §&nbsp;118 Abs.&nbsp;2 BetrVG keine Betriebsräte gibt, greift auch nicht §&nbsp;17 Abs.&nbsp;2 KSchG, der nur ein Anhörungsrecht für Betriebsräte kennt. Die Richtlinie spricht jedoch allgemein von „Arbeitnehmervertretern nach den Rechtsvorschriften oder der Praxis der Mitgliedstaaten“. Solche Arbeitnehmervertreter sind aber auch die Mitarbeitervertretungen in kirchlichen Einrichtungen, die funktional einem Betriebsrat vergleichbar sind. Gemäß Art.&nbsp;1(2)(b) RL&nbsp;98/59 ist diese zwar nicht auf Arbeitnehmer öffentlicher Verwaltungen oder von Einrichtungen des öffentlichen Rechts anwendbar und in Deutschland sind die evangelische und die katholische Kirche Körperschaften des öffentlichen Rechts, Art.&nbsp;140 GG i.V.m. Art.&nbsp;137 Abs.&nbsp;5 WRV. Die Besonderheiten des kirchlichen Dienstrechts bestehen jedoch auch für privatrechtlich organisierte Arbeitgeber, soweit sie der Kirche zugeordnet sind und sie einen Teil des Sendungsauftrags der Kirchen erfüllen, also nicht allein erwerbswirtschaftlichen Zwecken dienen. Für diese Fälle verbleibt die Umsetzungslücke des §&nbsp;17 KSchG. Eine europarechtskonforme Auslegung im Hinblick auf Mitarbeitervertretungen scheint deshalb zukünftig geboten, wie das deutsche Schrifttum sie für Sprecherausschüsse bereits jetzt befürwortet.<br />
<br />
Schließlich könnte sich ein Umsetzungsdefizit in §&nbsp;22 KSchG über Saison- und Kampagnenbetriebe auftun. Danach greift der Schutz vor Massenentlassung nicht bei Saison- und Kampagnenbetrieben ein, soweit die Entlassungen durch die Eigenart des Betriebs bedingt sind. Saisonbetriebe sind Betriebe, die ganzjährig arbeiten, bei denen aber die Tätigkeit in einer bestimmten Jahreszeit verstärkt ist, z.B. Skilifte oder Seilbahnen zu Aussichtspunkten. Kampagnebetriebe sind Betriebe, die nur einige Monate im Jahr arbeiten, z.B. Vergnügungsparks oder Freibäder. Es ist fraglich, ob diese Ausnahme von Art.&nbsp;1(2)(a) RL&nbsp;98/59 gedeckt ist. Danach findet die Richtlinie keine Anwendung auf „Massenentlassungen im Rahmen von Arbeitsverträgen, die für eine bestimmte Zeit oder Tätigkeit (''limited periods of time or for specific tasks''<nowiki>; </nowiki>''pour une durée ou une tâche déterminées'') geschlossen wurden, es sei denn, dass diese Entlassungen vor Ablauf oder Erfüllung dieser Verträge erfolgen“. Der Wortlaut des Art.&nbsp;1(2)(a) RL&nbsp;98/59 ist hier unergiebig, ausgeschlossen erscheint ein Übersetzungsfehler. Für die Zulässigkeit des Ausschlusses von Saison- und Kampagnenbetrieben lässt sich aus systematischer Sicht anführen, dass in demselben Absatz Besatzungen von Seeschiffen und Bedienstete öffentlicher Einrichtungen ausgeschlossen werden, so dass auf die Eigenart des Arbeitsumfeldes und nicht auf die Vertragsgestaltung abgestellt wird. Zudem wäre die Alternative „Tätigkeit“ sinnentleert, wenn man allein befristete Arbeitsverträge als erfasst ansehen würde, so dass §&nbsp;22 KSchG europarechtskonform zu sein scheint.<br />
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=== b) Sanktionen bei Verstößen gegen die Unterrichtungspflicht ===<br />
<nowiki>Gemäß Art.&nbsp;6 RL&nbsp;98/59 sorgen die Mitgliedstaaten dafür, „dass den Arbeitnehmervertretern und/oder den Arbeitnehmern administrative und/oder gerichtliche Verfahren zur Durchsetzung der Verpflichtungen gemäß [der] Richtlinie zur Verfügung stehen.“ Hier wird den Mitgliedstaaten ausdrücklich anheim gestellt, entweder der Arbeitnehmervertretung oder dem einzelnen Arbeitnehmer oder aber beiden Rechtsschutz zur Durchsetzung der Unterrichtungs- (§&nbsp;17 Abs.&nbsp;2 S. 1 KSchG) und Beratungspflicht (§&nbsp;17 Abs.&nbsp;2 S.&nbsp;2 KSchG) zu gewähren. Nach der Rechtsprechung des EuGH müssen Sanktionen zur Durchsetzung einer Richtlinie wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. Ob der deutsche Gesetzgeber dem gerecht wird, erscheint zweifelhaft. Das KSchG enthält keine ausdrücklichen Regelungen zu der Frage, welche Sanktionen eine Verletzung der Unterrichtungs- und Beratungspflicht hat.</nowiki><br />
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Relativ unproblematisch ist gleichwohl eine Verletzung der Unterrichtungspflicht. Nach §&nbsp;17 Abs.&nbsp;3 KSchG ist die Stellungnahme des Betriebsrates der Anzeige an die Bundesagentur für Arbeit beizufügen, so dass bei fehlender Unterrichtung und damit Stellungnahme keine wirksame Anzeige vorliegt, wodurch die Kündigung gemäß §&nbsp;18 Abs.&nbsp;1 KSchG unwirksam wird. Der einzelne Arbeitnehmer kann dies gemäß §&nbsp;2 Abs.&nbsp;1 Nr.&nbsp;3 lit.&nbsp;b ArbGG gerichtlich geltend machen. Mehr verlangt Art.&nbsp;6 RL&nbsp;98/59 nicht, denn es genügt, dass die Arbeitnehmer die Rechte geltend machen können. Anders als in Deutschland kann nach sec. 189 ''Trade Union and Labour Relations (Consolidation) Act 1992'' hingegen nur die Gewerkschaft das Arbeitsgericht anrufen.<br />
<br />
Problematisch ist die Rechtslage, soweit sie die Verletzung der Beratungspflicht betrifft. Man kann erstens die Kündigung gemäß §&nbsp;18 KSchG für unwirksam erachten, weil die Anzeige ohne vorherige Beratung unwirksam ist. Indes ergibt sich ''e contrario'' §&nbsp;17 Abs.&nbsp;3 S.&nbsp;3 KSchG, dass die bloße Unterrichtung für eine wirksame Anzeige genügt, so dass sich diese Rechtsfolge mit der geltenden Rechtslage nicht vereinbaren lässt. Zweitens kann man die Massenentlassung den §§&nbsp;111&nbsp;ff. BetrVG unterwerfen, wenn hierin immer eine Betriebsänderung zu sehen ist. Jedoch erfasst die Ausgleichspflicht nach §&nbsp;113 BetrVG nicht die Beratung über soziale Begleitmaßnahmen i.S.d. Art.&nbsp;2(2) RL&nbsp;98/59, zum anderen ist wegen abweichender Schwellenwerte nicht jede Massenentlassung zugleich eine Betriebsänderung. Drittens kann man dem Betriebsrat einen Unterlassungsanspruch gegen den Arbeitgeber gewähren und so die Entlassung unterbinden. Dies wäre wirksam, verhältnismäßig und abschreckend. Indes kann ein Unterlassungsanspruch, etwa analog §&nbsp;1004 BGB, nicht gewährt werden, weil die Sondervorschrift in §&nbsp;23 Abs.&nbsp;3 BetrVG als abschließend anzusehen ist. Damit ermöglicht das deutsche Recht Massenentlassungen, die ohne vorherige Beratung wirksam sind.<br />
<br />
Das deutsche Recht ist damit lückenhaft und mit den Vorgaben von Art.&nbsp;6 RL&nbsp;98/59 nicht zu vereinbaren. Der deutsche Gesetzgeber hat die Wahl, er kann entweder die Kündigung für unwirksam erklären und so Individualrechtsschutz gewähren, was wegen der Alternativformel in Art.&nbsp;6 RL&nbsp;98/59 ausreichend wäre, oder er gewährt dem Betriebsrat ein Recht auf Durchsetzung der Beratungspflicht, welches dieser gerichtlich geltend machen kann. Europarechtlich zulässig wäre auch eine Kumulation beider Rechtsschutzinstrumente.<br />
<br />
== 5. Kündigungsschutz in anderen Mitgliedstaaten ==<br />
Neben dem Schutz des Arbeitnehmers bei Massenentlassungen kennen die meisten Mitgliedstaaten einen individuellen Kündigungsschutz recht unterschiedlicher Qualität. In Frankreich gibt es die Kündigung aus personenbezogen Gründen (licenciement pour motif personnel) bei Vorliegen eines wichtigen Grundes (''cause réelle et sérieuse'') sowie die Kündigung aus wirtschaftlichen Gründen (licenciement pour motif économique), Art.&nbsp;L-1231-1&nbsp;ff. Code du travail. Im Vereinigten Königreich gewährt sec. 94 Employment Rights Act 1996 jedem Arbeitnehmer Schutz vor ungerechtfertigter Kündigung. Sec. 98 Employment Rights Act 1996 enthält eine Reihe von Gründen, aus denen eine Kündigung gerechtfertigt werden kann, darunter auch eine Generalklausel.<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Martina Ahrendt'', Der Kündigungsschutz bei Arbeitsverhältnissen in Frankreich, 1995; ''Rüdiger Lotz'', Arbeitsrechtlicher Kündigungsschutz in Spanien, 1997; ''Hellmut'' ''Wißmann'', Probleme bei der Umsetzung der EG-Richtlinie über Massenentlassungen in deutsches Recht, Recht der Arbeit 1998, 221; ''Bernhard'' ''Opolony'', Die anzeigepflichtige Entlassung nach §&nbsp;17 KSchG, Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht 1999, 791&nbsp;ff.;'' Steven D''.'' Anderman'', The Law of Unfair Dismissal, 3.&nbsp;Aufl. 2001; ''Antje Marieke'' ''Bovenberg'', Kündigung und Kündigungsschutz im Italienischen Arbeitsrecht, 2003; ''Mark'' ''Lembke'','' Jens-Wilhelm Oberwinter'', Massenentlassungen zwei Jahre nach Junk – Eine Bestandsaufnahme, Neue Juristische Wochenschrift 2007, 721&nbsp;ff.;'' Jean Pélissier'','' Alain Supiot'','' Antoine Jeammaud'','' Gilles Auzero'', Droit du travail, 24.&nbsp;Aufl. 2008;'' Norman Selwyn'', Law of Employment, 15.&nbsp;Aufl. 2008; ''Gregor Thüsing'', Europäisches Arbeitsrecht, 2008, §&nbsp;6; ''Gerrit Forst'', Die ad-hoc-pflichtige Massenentlassung, Der Betrieb 2009, 607&nbsp;ff.<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Collective_Redundancy]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Verbandsklage&diff=1671Verbandsklage2021-09-08T10:26:29Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Dietmar Baetge]]''<br />
== 1. Gegenstand und Zweck ==<br />
Der Zweiparteienprozess klassischer Prägung basiert auf dem Modell des mündigen, um seine Rechte kämpfenden Bürgers. Der an den Interessen des Einzelnen ausgerichtete, individualrechtsschützende Ansatz versagt, wenn es an der notwendigen Eigeninitiative fehlt. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn dem Einzelnen nur geringer Schaden entstanden ist. Ein gerichtliches Vorgehen für den einzelnen Geschädigten lohnt sich oftmals nicht, da die mit einem Prozess verbundenen finanziellen und persönlichen Nachteile einen möglichen Vorteil überwiegen. Aus gesellschaftlicher Sicht kann das Ergebnis nicht befriedigen, wenn der Schädiger mit seinem Verhalten, das in der Summe aller Betroffenen einen erheblichen Schaden angerichtet haben kann, ungeschoren davonkommt. In dieser Situation kommen die Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes zum Einsatz. Ziel des kollektiven Rechtsschutzes ist die effiziente Durchsetzung überindividueller, sog. „diffuser“ Interessen. Kollektiver Rechtsschutz hat also, auch wenn der Ausdruck den Anschein erwecken mag, nichts mit Sozialismus oder gar Kommunismus zu tun. Vielmehr geht es darum, das rationale Desinteresse des Einzelnen oder der vielen Einzelnen an der Rechtsverfolgung durch alternative Mechanismen zu überwinden.<br />
<br />
Die Verbandsklage stellt in vielen europäischen Ländern die wichtigste kollektive Rechtsschutzform dar. Historisch lässt sie sich auf die erste lauterkeitsrechtliche Kodifikation im deutschen UWG von 1896 zurückführen, nach dessen Bestimmungen neben einzelnen Konkurrenten auch Verbände zur Förderung gewerblicher Interessen Wettbewerbsverletzungen geltend machen konnten. Das Lauterkeitsrecht bildet auch heute eines der wichtigsten Anwendungsfelder der Verbandsklage. Ein weiteres ist der Verbraucherschutz ([[Verbraucher und Verbraucherschutz]]), wo die Unterlassungsklagen-RL (RL&nbsp;1998/27) für eine europaweite Ausdehnung der Verbandsklagebefugnisse gesorgt hat.<br />
<br />
Neben der Verbandsklage gibt es weitere Formen des kollektiven Rechtsschutzes. Eine davon ist die Gruppenklage, deren bekannteste Ausprägung die ''class action'' des US-amerikanischen Rechts bildet. Während bei der Verbandsklage nicht die subjektiven Interessen der Verbandsmitglieder, sondern das öffentliche Interesse an der Durchsetzung des objektiven Rechts im Vordergrund steht, geht es bei der Gruppenklage zuvörderst um die Verwirklichung des Interesses der Gruppenmitglieder. Einen typischen Anwendungsfall der Gruppenklage bildet die Abwicklung von Großschäden infolge eines Unfalls oder einer technischen Katastrophe mit einer Vielzahl von Geschädigten, die aber eindeutig bestimmbar sind. In dieser Situation spricht weniger das rationale Desinteresse der einzelnen Betroffenen als vielmehr der Gedanke der Verfahrensökonomie (Entlastung der Gerichte) für die Bündelung der Einzelansprüche in einer gemeinsamen Gruppenklage. Die Grenze zwischen Gruppen- und Allgemeininteresse verwischt sich jedoch mit zunehmender Größe der Gruppe. Je weiter die Gruppe (z.B. „alle Raucher“), desto weniger lässt sich ein spezifisches Gruppeninteresse in Abgrenzung vom öffentlichen Interesse an der Rechtsbewehrung erkennen.<br />
<br />
== 2. Tendenzen der Rechtsentwicklung ==<br />
Der kollektive Rechtsschutz, einschließlich der Verbandsklage, ist in Europa wie weltweit in lebhafter Entwicklung begriffen. Die Tendenz geht eindeutig in Richtung auf eine Ausdehnung kollektiver Rechtsschutzformen, wobei sowohl bestehende Instrumente ausgebaut als auch neue geschaffen werden. In Deutschland sind die Möglichkeiten zur Verbandsklage, die neben dem Lauterkeitsrecht traditionell bei der Kontrolle [[Allgemeine Geschäftsbedingungen|Allgemeiner Geschäftsbedingungen]] am stärksten ausgeprägt sind, in den vergangenen Jahren auf weitere Bereiche ausgedehnt worden, so u.a. auf das Kartell-, Telekommunikations-, Arbeits- und Naturschutzrecht. Hinzu kommen neue Rechtsschutzziele, so der Anspruch auf Gewinnabschöpfung, den der klagende Verband, vorerst auf das Lauterkeits- und Kartellrecht begrenzt, geltend machen kann, um die unrechtmäßig erlangten Gewinne des Zuwiderhandelnden abzuschöpfen. Eine neue kollektive Rechtsschutzvariante bildet das Musterverfahren nach dem Kapitalanlegermusterverfahrensgesetz (KapMuG), bei dem das Prozessgericht auf Antrag der Kläger (mindestens zehn) die individuellen Streitfälle aussetzen kann, um in einem als Zwischenverfahren ausgestalteten Musterrechtsstreit die allen Klagen gemeinsamen Fragen von der übergeordneten Gerichtsinstanz mit Hilfe eines Musterentscheids verbindlich klären zu lassen. Dieses rechtliche Experiment – das KapMuG gilt vorerst bis November 2010 – wird in den anderen europäischen Ländern mit großem Interesse verfolgt.<br />
<br />
Eine andere Form der Verbandsklage existiert in Frankreich, wo auf Grundlage besonderer gesetzlicher Ermächtigungen eine Vielfalt von Verbänden (''associations'') aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen klagebefugt ist. Dabei muss der Verband ein häufig nur schwer bestimmbares „kollektives Interesse“ vertreten, das sowohl vom Individual- als auch vom Allgemeininteresse abzugrenzen ist. In der Praxis dominiert die Verbandsklage in Gestalt der ''action'' ''civile'', die auf Ersatz des aus einer Straftat resultierenden Schadens gerichtet ist. Der Verband tritt in diesen Fällen als Privatkläger im Strafverfahren auf. Die klassische Schadensersatzfunktion in Form der Reparation von Einbußen tritt freilich bei Verletzung von sehr weitgefassten Kollektivinteressen, wie etwa dem Verbraucherinteresse, zugunsten der Bestrafung des Täters und seines Verhaltens in den Hintergrund.<br />
<br />
Zunehmend stößt man in Europa auch auf Gruppenklagen. So gibt es in Schweden seit 2003 Gruppenklageverfahren. Grundlage der gesetzlichen Regelung sind Vorarbeiten von ''Per Henrik Lindblom'', dessen Entwurf allerdings stärker vom Vorbild der US-amerikanischen ''class action'' geprägt ist als der endgültige Gesetzestext. Die schwedische Gruppenklage kann auf dreierlei Art geführt werden: als sowohl natürlichen wie juristischen Personen zustehende „private“ Gruppenklage; als „Verbandsgruppenklage“, bei der ideelle Zwecke verfolgende Vereinigungen klageberechtigt sind; sowie als „öffentliche“ Gruppenklage, die von einer Behörde zu erheben ist. Anders als bei der privaten Gruppenklage, bei der nur Gruppenkläger sein kann, wer auch einen materiellen Anspruch hat, besteht die Klagebefugnis bei Verbands- und öffentlicher Gruppenklage unabhängig von der materiellen Anspruchsberechtigung. In der Rechtswirklichkeit überwiegen bislang vom Konsumentenombudsmann erhobene öffentliche Gruppenklagen. Mit Schweden vergleichbare Gruppenklagemodelle sind kürzlich auch in Dänemark und Norwegen Gesetz geworden. Dagegen hat man sich in England im Jahr&nbsp;2000 in Umsetzung der Vorschläge des ''Woolf''- Reports für die Einführung der sog. ''multi-party action'' entschieden. Die ''multi-party action'' tritt neben die schon zuvor bestehende ''representative action''. Anders als diese bietet sie die Möglichkeit, Schadensersatzansprüche im Kollektivwege einzuklagen. Das Gericht kann auf Antrag oder eigene Initiative eine ''Group Litigation Order'' erlassen, wenn mehrere Ansprüche gemeinsame oder verwandte rechtliche oder tatsächliche Fragen aufwerfen. Es kann zudem den Anwalt einer oder mehrerer Parteien zum ''lead solicitor'' bestellen oder einzelne Ansprüche im Wege von Musterverfahren (''test cases'') auswählen. Von der Gruppenklage im eigentlichen Sinne unterscheidet sich die ''multi-party action'' dadurch, dass jeder Beteiligte zugleich Partei ist.<br />
<br />
== 3. Regelungsstrukturen im Einheitsrecht ==<br />
Die Vereinheitlichung des kollektiven Rechtsschutzes wirft diverse, zum Teil sehr schwierige Fragen auf. Da es sich um ein politisch sensibles Gebiet handelt, wird die Diskussion kontrovers geführt. Die Kontroverse beginnt bereits mit der Frage, wie viel kollektiver Rechtsschutz notwendig und sinnvoll ist. So bestehen in vielen Ländern Widerstände gegen einen Ausbau kollektiver Rechtsschutzinstrumente. Insbesondere weite Teile der Wirtschaft befürchten den Einzug „amerikanischer Verhältnisse“ in Europa, wenn umfassende Verbands- und Gruppenklagemöglichkeiten gewährt würden. Dahinter steht die Sorge, dass Kollektivklagen, ähnlich der ''class action'' in den USA, dazu benutzt werden könnten, Unternehmen mit überhöhten, in der Sache unbegründeten Schadensersatzforderungen zu überziehen. Statt sich auf ein langwieriges Verfahren mit ungewissem Ausgang einzulassen, schließen viele Unternehmen lieber einen Vergleich, was zur Folge hat, dass ''class actions'' in der Praxis nur selten mit einem gerichtlichen Urteil enden. Inwieweit die amerikanischen Erfahrungen auf Europa übertragbar sind, ist aber fraglich. So lässt sich mit guten Gründen die Auffassung vertreten, dass das erpresserische Potenzial weniger in dem Instrument der ''class action'' als solchem, als vielmehr in anderen Besonderheiten des US-amerikanischen Rechts, wie Strafschadensersatz (''punitive'' ''damages''), Jury-Verfahren oder den weitreichenden Möglichkeiten des Ausforschungsbeweises (''pre trial discovery'') wurzelt. Das meist als negativ empfundene Beispiel der USA führt dazu, dass das Vermeiden von Missbräuchen die rechtliche und politische Debatte über den kollektiven Rechtsschutz in Europa prägt. Auf der anderen Seite zeigt der Ausbau kollektiver Rechtsschutzmöglichkeiten in den letzten Jahren, dass man auch in den europäischen Staaten deren praktischen Nutzwert zunehmend erkennt.<br />
<br />
Eine Frage, die sich mit Blick auf die Schaffung von Einheitsrecht stellt, betrifft den Anwendungsbereich. Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten. Zum einen kann kollektiver Rechtsschutz allgemein gewährt werden, zum anderen kann er nur für bestimmte Rechtsgebiete zur Verfügung gestellt werden. Während die ''class action'' in den USA umfassend ausgestaltet ist, überwiegt in den nationalen Rechtsordnungen Europas bislang die zuletzt genannte Lösung. Sie hat den Nachteil, dass die Auswahl der Bereiche, in denen Verbands- und Gruppenklage zum Einsatz kommen, oftmals eher zufällig erscheint. Auch entsteht auf diese Weise leicht ein rechtlicher Flickenteppich, der, wie die Beispiele Deutschlands und Frankreichs mit ihren verstreuten Verbandsklagebefugnissen zeigen, nur schwer überschaubar ist. Auf der anderen Seite ermöglicht diese Vorgehensweise, Besonderheiten des jeweiligen Rechtsgebiets bei der Ausgestaltung des kollektiven Rechtsschutzes gezielt zu berücksichtigen. Damit eng verknüpft ist die Frage nach dem am besten geeigneten kollektiven Rechtsschutzinstrument. In der europäischen Rechtswirklichkeit steht noch die Verbandsklage im Vordergrund. Allerdings haben mittlerweile einige Staaten auch Gruppenklagen eingeführt. Ebenso existieren Mischformen, wie die schwedische Verbandsgruppenklage zeigt. Eine mögliche Alternative bilden Musterverfahren, wie sie in Deutschland für den Bereich des Kapitalmarktrechts im KapMuG verwirklicht sind. Darüber hinaus bestehen die traditionellen Formen der Interessenbündelung, wie Streitgenossenschaft und Verfahrensverbindung, fort. Letztere bieten allerdings bei einer Vielzahl von Geschädigten, die sich nur schwer identifizieren lassen, keinen ausreichend wirksamen Schutz.<br />
<br />
Eine einheitsrechtliche Regelung hat ferner zu klären, wer bei einer Kollektivklage als Kläger vor Gericht auftreten darf. Um das Missbrauchsrisiko zu verringern, stellen manche Staaten bei der Verbandsklage bestimmte Seriositätserfordernisse an die klagebefugten Verbände auf. Angesichts der Tatsache, dass den meisten Verbänden ohnehin die finanziellen und organisatorischen Mittel zur Entfaltung einer umfangreichen Klagetätigkeit fehlen, erscheinen diese Maßnahmen eher überflüssig. Bei der Gruppenklage bildet die Bestimmung des oder der geeigneten Gruppenrepräsentanten ein Problem, das sich kaum im Vorwege abschließend gesetzlich regeln lässt. Ähnliches gilt für die Auswahl eines Musterklägers im Musterverfahren. Der Gesetzgeber kann nur einzelne Kriterien formulieren, wie etwa die Höhe der geltend gemachten Ansprüche. Die eigentliche Auswahlentscheidung liegt aber notwendig beim Gericht, das dementsprechend über einen weiten Ermessensspielraum verfügt. Ein weiteres, vor allem im Zusammenhang mit der Gruppenklage umstrittenes Problem ist die Bindungswirkung des Urteils, das im kollektiven Rechtsstreit ergeht. Nach dem sog. ''opt in''-Verfahren ist nur gebunden, wer sich mit der Kollektivklage einverstanden erklärt hat. Nach dem ''opt out''-Modell erstreckt sich die Bindungswirkung dagegen automatisch auf alle Betroffenen, sofern der Einzelne seine Beteiligung an dem Verfahren nicht ausdrücklich ausgeschlossen hat. Bislang überwiegen in Europa die Bedenken gegenüber der ''opt out''-Lösung, die zum Teil auf verfassungsrechtlichen Erwägungen (Gebot rechtlichen Gehörs) fußen. Allerdings gibt es inzwischen auch in Europa Ansätze zu einer ''opt out''-Gruppenklage, so namentlich in Dänemark und Norwegen, wo es den Gerichten unter gewissen Voraussetzungen gestattet ist, bei kleineren Beträgen (''small claims'') von der ausdrücklichen Zustimmung aller Gruppenmitglieder abzusehen. Unter dem menschen- und verfassungsrechtlichen Postulat effektiven Rechtsschutzes erscheint dieser Ansatz bedenkenswert. Freilich entsteht zugleich das Problem, wie ein etwaiger Erlös mit vertretbarem Kostenaufwand auf die im Zeitpunkt der Klage nicht namentlich bekannten Gruppenmitglieder verteilt werden kann. Die in den genannten Rechtsordnungen geltenden Gesetze geben hierauf keine Antwort. Generell sind aber, wie das Beispiel der USA zeigt, in dieser Frage flexible Lösungen erforderlich, die notfalls auch alternative Verwendungsweisen (Errichtung einer Stiftung, Überweisung der Gelder an den Staat mit der Maßgabe, diese im Sinne des Klagezwecks zu verwenden) einschließen. <br />
<br />
Eine Schwierigkeit der Verbandsklage liegt in der Finanzierung. Woher soll das Geld kommen, das die Verbände zur Prozessführung benötigen? Neben Mitgliedsbeiträgen und Spenden stammen die notwendigen Mittel, besonders bei Verbraucherorganisationen, meist aus den öffentlichen Kassen. Es handelt sich also mit anderen Worten um eine staatlich subventionierte Klagetätigkeit. Die Abhängigkeit von staatlichen Zuwendungen hat zur Folge, dass die Verbände riskante Prozesse oftmals scheuen und lieber die sicheren, aber rechtlich und politisch weniger wegweisenden Verfahren auswählen. Eine zumindest partielle Finanzierung aus der eigenen Klagetätigkeit kommt nur in Betracht, wenn der Verband mit seiner Klage Schadensersatz verlangen kann und im Falle des Obsiegens den ausgekehrten Betrag behalten darf. In der Mehrzahl der europäischen Staaten kann eine Verbandsklage jedoch nur als Unterlassungsklage erhoben werden. Sofern auch Schadensersatz oder, wie in Deutschland, Auskehrung des unrechtmäßig erlangten Gewinns verlangt werden kann, muss der obsiegende Verband das Erlangte nicht selten an den Staatshaushalt abführen. Dadurch will man einem Missbrauch der Verbandsklage entgegenwirken, nimmt den Verbänden aber zugleich einen potenziellen Anreiz zur Führung schwieriger Verfahren.<br />
<br />
== 4. Vereinheitlichungsprojekte ==<br />
Ein die Verbandsklage betreffendes Vereinheitlichungsprojekt ist die Unterlassungsklagen-RL der EG von 1998. Politisch ist sie Ausfluss der Bemühungen auf Gemeinschaftsebene um einen verbesserten Zugang der Verbraucher zum Recht. Inhaltlich geht es der Richtlinie um die Durchsetzung der kollektiven Verbraucherinteressen bei Verletzung bestimmter, einzeln genannter Verbraucherschutzrichtlinien bzw. der zu ihrer Umsetzung ergangenen innerstaatlichen Ausführungsgesetzgebung. Was genau unter den kollektiven Verbraucherinteressen zu verstehen ist, bleibt offen. Die Unterlassungklagen-RL bemerkt nur, dass es sich nicht um die „Kumulierung von Interessen durch einen Verstoß geschädigter Personen“ handelt. Bei der Verwirklichung ihrer Ziele lässt die Unterlassungsklagen-RL den Mitgliedstaaten weite Spielräume. So können die Staaten zwischen zwei unterschiedlichen Rechtsschutzarten wählen, nämlich zwischen Klagen durch Verbraucherverbände und Klagen durch öffentliche Stellen. Beide Organisationsformen werden unter dem Oberbegriff der „qualifizierten Einrichtung“ zusammengefasst. Manche Mitgliedsländer haben Klagemöglichkeiten sowohl für Behörden als auch für Verbände geschaffen, andere, wie Deutschland und Österreich, nur für Verbände. Eine Minderheit sieht ein Klagerecht ausschließlich für öffentliche Einrichtungen vor. Alle Lösungen sind mit der Unterlassungsklagen-RL vereinbar. Nach dem Text der Unterlassungsklagen-RL muss den qualifizierten Einrichtungen lediglich ein Recht zur Erhebung von Unterlassungsklagen eingeräumt werden. Doch bleibt den Mitgliedstaaten unbenommen, auch kollektive Schadensersatzklagen zuzulassen. Bislang sind nur einige Staaten diesen Weg gegangen, in anderen wird darüber nachgedacht. Ein wesentliches Ziel der Unterlassungsklagen-RL liegt darin, die grenzüberschreitende Klagetätigkeit der qualifizierten Einrichtungen zu erleichtern. Zu diesem Zweck schreibt sie die wechselseitige Anerkennung der von den Mitgliedstaaten gewährten Klageberechtigungen sowie die Errichtung einer von der Europäischen Kommission geführten Liste der qualifizierten Einrichtungen vor. Aus dem Prinzip der wechselseitigen Anerkennung folgt, dass die Gerichte eines Mitgliedstaats die Klage der Einrichtung eines anderen Mitgliedstaats nicht mit der Begründung abweisen können, diese erfülle nicht die im Gerichtsstaat für Ausstattung und Organisation geltenden Voraussetzungen. Ein erheblicher Anstieg grenzüberschreitender Verbandsklagen ist seit Erlass der Unterlassungsklagen-RL allerdings nicht zu beobachten. Insgesamt hat die Unterlassungsklagen-RL nur in begrenztem Umfang zur Schaffung von Einheitsrecht beigetragen. Da sie nur eine Mindestharmonisierung anstrebt und den Mitgliedstaaten in zentralen Fragen weitgehende Wahlmöglichkeiten einräumt, hat sie kaum zu einer Angleichung der nationalen Rechte geführt. Stattdessen existiert in Europa auf nationaler Ebene eine große Vielfalt kollektiver Rechtsschutzinstrumente, die in ihren Einzelheiten für den rechtsuchenden Bürger wie für potenziell mit einer Klage konfrontierte Unternehmen nur schwer zu überblicken ist.<br />
<br />
Seit einiger Zeit gibt es Bestrebungen innerhalb der Kommission für einen weiteren Ausbau des Kollektivrechtsschutzes, speziell in den Bereichen des Wettbewerbs- und des Verbraucherrechts. Im Wettbewerbsrecht verspricht man sich davon eine wirksamere Unterstützung der Wettbewerbsbehörden in ihrem Kampf gegen verbotene Kartellpraktiken. Bislang liegt allerdings noch kein konkreter Gesetzesvorschlag, sondern nur ein Weißbuch der Kommission vor. Im Konsumentenrecht hat die Kommission hingegen kürzlich den Vorschlag für eine neue Richtlinie über Rechte der Verbraucher unterbreitet, in der die bisher verstreuten Verbraucherschutzrichtlinien zusammengefasst werden sollen. Um die Anwendung der innerstaatlichen Vorschriften zur Umsetzung der Unterlassungsklagen-RL sicherzustellen, sieht der Entwurf die Gewährung von Klagebefugnissen durch die Mitgliedstaaten an öffentliche Einrichtungen, Verbraucher- und Berufsverbände auf der Grundlage ihres innerstaatlichen Rechts vor. Darüber hinaus prüft die Kommission im Rahmen ihrer aktuellen „Verbraucherpolitischen Strategie 2007-2013“, ob im Interesse eines effektiven Verbraucherschutzes weitergehende kollektive Klagerechte erforderlich sind. Zu diesem Zweck wurden Konsultationen durchgeführt und eine rechtsvergleichende Studie erstellt. Im November 2008 hat die Kommission ein Grünbuch über kollektive Rechtsdurchsetzungsverfahren für Verbraucher vorgelegt, in dem sie verschiedene Optionen zur Diskussion stellt. Ob daraus konkrete Gesetzesvorhaben auf Gemeinschaftsebene erwachsen werden, ist derzeit noch nicht absehbar. <br />
<br />
== Literatur==<br />
''Jürgen Basedow'', ''Klaus J. Hopt'', ''Hein Kötz'', ''Dietmar Baetge'' (Hg.), Die Bündelung gleichgerichteter Interessen im Prozeß, 1999; ''Dietmar Baetge'', Das Recht der Verbandsklage auf neuen Wegen, Zeitschrift für Zivilprozeß 112 (1999) 329&nbsp;ff.; ''Harald Koch'', Die Verbandsklage in Europa, Zeitschrift für Zivilprozeß 113 (2000) 413&nbsp;ff.; ''Harald Koch'', Non-Class Group Litigation under EU and European Law, Duke Journal of Comparative and International Law 11 (2001) 355&nbsp;ff.; ''Hans-W. Micklitz'', ''Astrid Stadler'', Das Verbandsklagerecht in der Informations- und Dienstleistungsgesellschaft, 2005; ''Peter Rott'', ''Ulrike Docekal'', ''Hans-W. Micklitz'', ''Peter Kolba'', Verbraucherschutz durch Unterlassungsklagen, 2007; ''Willem van Boom'', ''Marco Loos'' (Hg.), Collective Enforcement of Consumer Law, 2007; ''Chrisoula Michailidou'', Prozessuale Fragen des Kollektivrechtsschutzes im europäischen Justizraum, 2007; ''The Study Centre for Consumer Law – Centre for European Economic Law Katholieke Universiteit Leuven'', An analysis and evaluation of alternative means of consumer redress other than redress through ordinary judicial proceedings, Final Report, 2007, 260&nbsp;ff.; ''Deborah Hensler'', ''Christopher Hodges'', ''Magdalena Tulibacka'' (Hg.), The Globalization of Class Actions, 2009.<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Collective_Litigation]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Tarifvertr%C3%A4ge&diff=1669Tarifverträge2021-09-08T10:25:58Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Martin Henssler]]''<br />
== 1. Gegenstand und Zweck ==<br />
Der Tarifvertrag (Kollektivvertrag, ''collective agreement'', ''convention collective'') ist ein Vertrag zwischen tariffähigen Parteien zur kollektiven Regelung der Arbeitsbedingungen. Er wird von einer Gewerkschaft entweder mit einem Arbeitgeberverband (Verbandstarifvertrag) oder mit einem einzelnen Arbeitgeber (Firmen- bzw. Unternehmenstarifvertrag) geschlossen.<br />
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In jedem Mitgliedstaat der [[Europäische Union|Europäischen Union]] finden sich Tarif- und damit Kollektivverträge des Arbeitlebens. Die rechtstatsächliche Bedeutung ist dabei immens: In Belgien, Deutschland, Frankreich, Finnland, Schweden und Spanien werden beispielsweise z.T. mehr als 80&nbsp;% aller Arbeitsverhältnisse durch Tarifverträge bestimmt, wobei in den meisten Mitgliedstaaten Verbandstarifverträge gegenüber Firmentarifverträgen die häufigere Erscheinungsform sind. Namentlich in Deutschland gewinnen die Firmentarife aber aufgrund ihrer gegenüber dem Flächentarif höheren Flexibilität an Bedeutung. Die Tarifautonomie ist mit Ausnahme von England in allen Mitgliedstaaten verfassungsrechtlich gewährleistet. Seine einfachgesetzliche Grundlage findet das Tarifvertragsrecht in den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen. Nur in Dänemark, Italien und Irland fehlt es ganz bzw. weitgehend an einer Kodifikation des Tarifrechts.<br />
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Die Geburtsstunde des Tarifvertragswesens in Europa liegt in der sich im Zuge der industriellen Revolution in der zweiten Hälfte des 19.&nbsp;Jahrhunderts stellenden sozialen Frage. Mit dem von England ausgehenden Übergang vom Handwerk zur industriellen Produktion bildete sich eine neue Arbeiterklasse. Das Kapital lag in den Händen der Industriellen, während die Industriearbeiter zur Sicherung ihrer Existenz auf den „Verkauf“ ihrer Arbeitskraft angewiesen waren. Die Verhandlungsmacht des Arbeitnehmers in individualvertraglichen Verhandlungen mit seinem Arbeitgeber war zu gering. Insbesondere bestand für ihn bei Individualverhandlungen die Gefahr eines Unterbietungswettbewerbs. Der eigene Arbeitsplatz wurde durch diejenigen Arbeitnehmer gefährdet, die bereit waren, ihre Arbeitskraft zu einem geringeren Preis anzubieten. Als Reaktion auf dieses Verhandlungsungleichgewicht und die hieraus folgenden katastrophalen Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse waren die abhängig Beschäftigten geradezu gezwungen, sich in Interessenverbänden zu organisieren. Es erfolgte der Zusammenschluss zu Arbeitervereinen und später – mit Aufhebung des Koalitionsverbots – zu Gewerkschaften nach englischem Vorbild. Die Vereinigungsfreiheit in der besonderen Ausprägung der vielfach verfassungsrechtlich verankerten Koalitionsfreiheit ([[Koalitions- und Vereinigungsfreiheit]]) bildet bis heute die Grundlage des Tarifwesens. Von den Gewerkschaften wurden Tarifverträge geschlossen, die zunächst das Ergebnis von Streiks waren und ohne längere Laufzeit und Friedenspflicht vereinbart wurden. In der Folgezeit bezweckten sie dann auch die dauerhafte und allgemeine Regelung von Arbeitsbedingungen.<br />
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Seit jeher dient der Tarifvertrag dementsprechend zum einem dem Schutz des Arbeitnehmers, der als Einzelner nahezu machtlos ist (Schutzfunktion), und trägt dazu bei, Lohngerechtigkeit in seinem Geltungsbereich zu erzielen (Verteilungsfunktion). Zum anderen bewirkt er eine gewisse Typisierung und Vereinheitlichung der Arbeitsbedingungen (Ordnungsfunktion). In vielen Mitgliedstaaten stellt der Tarifvertrag außerdem sicher, dass während seiner Laufzeit um die in ihm geregelten Fragen kein Arbeitskampf geführt werden darf (Friedensfunktion).<br />
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== 2. Tendenzen der europäischen Rechtsentwicklung ==<br />
Die [[Europäische Union]] hat auf dem Gebiet des gesamten kollektiven Arbeitsrechts und insbesondere im Bereich des Tarifvertragsrechts nur eine sehr eingeschränkte Kompetenz. Gemäß Art.&nbsp;137(6) EG/153(6) AEUV gilt die durch Art.&nbsp;137 EG/153 AEUV der EU grundsätzlich zuerkannte Zuständigkeit nicht für das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht sowie das Aussperrungsrecht. Dennoch macht das kollektive Arbeitsrecht nicht vor Europa halt. Die nationalen Sozialpartner, d.h. die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände der Mitgliedstaaten, haben längst ihre Dachverbände auf europäischer Ebene gegründet. Die wichtigsten sind die Union der Industrie- und Arbeitgeberverbände Europas (UNICE), der Europäische Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft (CEEP) und der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB). Die Zusammenarbeit der Sozialpartner fand seit 1985 in den ''Val Duchesse''-Gesprächen ihre Grundlage und wird bei regelmäßigen Treffen fortgeführt. Echte europäische Tarifverträge mit normativer Wirkung gibt es indes nicht. Bestrebungen hierzu wurden im Zuge der Verhandlungen über den Vertrag von Maastricht im Jahr 1992 durch ein Vetorecht von britischer Seite blockiert. Ergebnis der Verhandlungen war jedoch die Einführung eines sozialen Dialogs (s. unter 4.), der in der Folgezeit in Art.&nbsp;139 EG/155 AEUV seine primärrechtliche Grundlage gefunden hat. Die Vorschrift wird durch die Nummern&nbsp;11 und 12 der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer (Koalitionsfreiheit und Tarifverhandlungen) sowie Artikel II-28 des gescheiterten europäischen Verfassungsvertrags (Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen) rechtlich unverbindlich ergänzt. Ein Grundrecht der Koalitionsfreiheit und der Tarifautonomie enthält das Primärrecht bis zum Inkrafttreten dieser Garantien indes nicht.<br />
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Demgegenüber unterliegt die national gewährleistete Tarifautonomie im Hinblick auf Verstöße gegen die gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten einer Kontrolle durch den [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]]. Im Fall einer geplanten Umflaggung eines Fährschiffs von Finnland nach Estland und der damit verbundenen Anwendung estnischer statt finnischer Gesetze und Tarifverträge hat der EuGH im Jahr 2007 einen Streik für unverhältnismäßig erklärt. Ziel dieses Streiks war der Abschluss eines Tarifvertrages, der seinem Inhalt nach geeignet war, den Arbeitgeber von der Registrierung eines Schiffes unter der Flagge eines Mitgliedstaats abzubringen. Der EuGH hat insoweit die unmittelbare Bindung der Gewerkschaften an die [[Niederlassungsfreiheit]] des Arbeitgebers hervorgehoben, zugleich aber auch ein europäisches Grundrecht auf kollektive Maßnahmen anerkannt. Die Grundfreiheit des Art.&nbsp;43 EG/49 AEUV stehe einer Arbeitskampfmaßnahme dann entgegen, wenn letztere nicht durch die Verwirklichung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen und den Arbeitnehmerschutz gerechtfertigt sei (EuGH Rs.&nbsp;C-438/05 – ''Viking Line'', Slg. 2007, I-10779).<br />
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== 3. Regelungsstrukturen in den nationalen Rechtsordnungen ==<br />
Abgesehen von dem in Art.&nbsp;139 EG/155 AEUV vorgesehenen sozialen Dialog der Sozialpartner ist bislang im Bereich des kollektiven Arbeitsrechts keine gemeinschaftsrechtliche Maßnahme zur Angleichung des Tarifrechts getroffen worden. Grund dafür sind v.a. die heterogenen kollektivarbeitsrechtlichen Systeme in Europa. Die Tarifvertragsstrukturen in den einzelnen Ländern unterscheiden sich z.T. erheblich voneinander, und selbst grenzüberschreitende Rechtskreise lassen sich nur eingeschränkt feststellen.<br />
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Der Abschluss eines Tarifvertrags setzt immer ''Tariffähigkeit'' voraus, d.h. die Fähigkeit, Partei eines Tarifvertrags zu sein. Das sind regelmäßig Arbeitgeber, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften. Auf Gewerkschaftsseite wird in den meisten Rechtsordnungen neben der Voraussetzung des Zusammenschlusses von Arbeitnehmern zur Interessenvertretung und dem Willen zum Tarifabschluss ein bestimmtes Maß an Repräsentativität und Gegnerunabhängigkeit gefordert. Hintergrund dafür ist die Gewährleistung eines Verhandlungsgleichgewichts auf Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite. Vermieden werden soll, dass die Regelung der Arbeitsbedingungen wegen der fehlenden Durchsetzungskraft der Gewerkschaft auf einem Diktat der Arbeitgeberseite beruht. Angestrebt wird ein fairer Interessenausgleich zwischen den Parteien. Dementsprechend können beispielsweise in Belgien, Frankreich, Griechenland, Luxemburg, Italien, den Niederlanden, Polen, Ungarn, Tschechien und (nach formaler behördlicher Anerkennung) auch in Österreich, Irland und der Türkei nur repräsentative Verbände Tarifverträge abschließen. In Deutschland ist an die Stelle der (weitgehend formell anhand der Mitgliederzahl zu bestimmenden) Repräsentativität das durch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts entwickelte strengere Kriterium der sozialen Mächtigkeit und organisatorischen Leistungsfähigkeit getreten (BAG 6.6.2000, NZA 2001, 160). <br />
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In England wiederum muss eine Gewerkschaft, die mit einem Arbeitgeber in Tarifverhandlungen treten will, zunächst von diesem als Verhandlungspartner anerkannt werden (sog. ''recognition''), was aber gleichfalls den Gewerkschaften ein gewisses soziales Durchsetzungsvermögen und eine Bereitschaft zum Arbeitskampf abverlangt. Gegebenenfalls wird die Anerkennung mit Hilfe von Streikmaßnahmen gegenüber dem Arbeitgeber erkämpft. Keine Anforderungen im Hinblick auf die Repräsentativität der Gewerkschaft stellen Dänemark, Estland, Finnland und Schweden.<br />
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Von erheblicher Bedeutung sind die ''Auswirkungen des Tarifvertrags'' auf das einzelne Arbeitsverhältnis. Modelle mit einer sog. Doppelnatur des Tarifvertrags sind in der EU am weitesten verbreitet. Neben einem schuldrechtlichen Teil, der die Rechte und Pflichten zwischen den tarifschließenden Parteien regelt, enthält der Tarifvertrag in seinem normativen Teil Tarifbestimmungen, die normativ auf das Arbeitsverhältnis wirken. Das bedeutet, dass der Tarifvertrag auf individualvertraglicher Ebene wie ein Gesetz unmittelbare und zwingende Anwendung findet, so beispielsweise in Deutschland, Belgien, Finnland, Frankreich, Griechenland, Italien, Lettland, Österreich, Polen Spanien, Ungarn und der Türkei. Der zwingende Charakter der Regelungen des Tarifvertrags bedeutet, dass die Normen grundsätzlich nicht durch eine Vereinbarung im Arbeitsvertrag abbedungen werden dürfen. Denkbar ist ein Verbot von Abweichungen sowohl zugunsten als auch zulasten des Arbeitnehmers mit der Folge von tarifvertraglichen Mindest- und Höchstarbeitsbedingungen. Diese zweiseitig zwingende Wirkung, die der Verwirklichung möglichst einheitlicher Arbeitsbedingungen dient, ist in den Niederlanden, Österreich, Belgien, Dänemark, Finnland und Schweden vorherrschend bzw. kann dort durch entsprechende Vereinbarung im Tarifvertrag vorgeschrieben werden. Den meisten anderen Rechtsordnungen ist die Zulässigkeit einer Vereinbarung von Höchstarbeitsbedingungen fremd. Entsprechend der Schutzfunktion des Tarifvertrags und um die mit Höchstarbeitbedingungen verbundene massive Einschränkung der Privatautonomie zu vermeiden gilt hier das Günstigkeitsprinzip, wonach eine Abweichung vom Tarifvertrag auf einzelvertraglicher Ebene zulässig ist, wenn eine entsprechende individualrechtliche Absprache zugunsten des Arbeitnehmers ausgestaltet ist (vgl. in Deutschland §&nbsp;4 Abs.&nbsp;3 TVG). Der Tarifvertrag bindet in diesen Fällen einseitig nur den Arbeitgeber in dem Sinne, dass die von ihm gewährten Arbeitsbedingungen nicht zum Nachteil des Arbeitnehmers vom Tarifvertrag abweichen dürfen.<br />
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Ein grundlegend anderes Regelungskonzept der Tarifwirkung ist in Großbritannien zu finden, wo einer Tarifvereinbarung (''collective agreement'') die rechtliche Verbindlichkeit und gerichtliche Durchsetzbarkeit fehlt. Es besteht die (nunmehr gesetzlich geregelte und auf das ''[[common law]]'' zurückgehende) Vermutung, dass die Parteien einer Tarifvereinbarung sich nicht rechtlich binden wollen, es sei denn, die Tarifvereinbarung ist in Schriftform abgefasst und enthält eine Bestimmung, aus der sich ergibt, dass die Parteien eine rechtlich bindende Vereinbarung wünschen. Solche Klauseln sind in der Praxis nur selten anzutreffen. Die Regelungen der Tarifvereinbarung entfalten aber mittelbar eine Bindungswirkung, wenn einzelvertraglich auf sie Bezug genommen wird. Das englische Arbeitsrecht greift hierbei relativ großzügig auf das Instrument der konkludenten Bezugnahme zurück. Außerdem besteht eine faktische Bindung der Tarifpartner an die Tarifvereinbarung. Wegen der fehlenden rechtlichen Verbindlichkeit bleibt auch eine Friedenspflicht (''no-strike clause''), die Arbeitskämpfe während der Laufzeit untersagt, rechtlich folgenlos. Entsprechend dem Schlagwort britischer Gewerkschaften „Bite with the law today, and be bitten by the law tomorrow!“ halten sich jedoch die meisten Unternehmen an die Bestimmungen der Tarifvereinbarung, um das Risiko eines sonst drohenden Arbeitskampfes im Unternehmen zu vermeiden. Ähnliches gilt für Irland, wo Tarifvereinbarungen ebenfalls nicht bindend wirken, soweit sie nicht Bestandteil des Arbeitsvertrages geworden oder beim ''Labour Court'' registriert worden sind.<br />
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Zwischen den beiden gegensätzlichen Modellen der Tarifwirkung – normative Wirkung einerseits und rechtliche Unverbindlichkeit andererseits – liegen das dänische und schwedische Recht. Der Arbeitgeber ist hier nur den Gewerkschaften, nicht aber dem einzelnen Arbeitnehmer gegenüber zur Einhaltung der Tarifbestimmungen verpflichtet. Daraus folgt, dass allein die Gewerkschaft, nicht aber der Arbeitnehmer Rechte aus dem Tarifvertrag gerichtlich geltend machen kann. In der Praxis hat dieses Regelungskonzept zu einem sehr hohen Organisationsgrad von Arbeitnehmern in Gewerkschaften und deren sozialer Anerkennung geführt.<br />
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Konsequenz der fehlenden zwingenden Wirkung nach englischem Recht ist, dass sich die Frage nach der ''Tarifbindung'', d.h. danach, welche Arbeitsverhältnisse von den Tarifparteien normativ erreicht werden können, nicht stellt. Bei Tarifsystemen mit normativem Charakter ist demgegenüber die Feststellung des Anwendungsbereichs eines Tarifvertrags von großer praktischer Relevanz. In den meisten Rechtsordnungen gilt, dass eine Tarifbindung auf Arbeitgeberseite nur erreicht werden kann, wenn der Arbeitgeber Mitglied des tarifschließenden Arbeitgeberverbandes oder aber – im Fall des Firmentarifvertrags – unmittelbarer Vertragspartner der Gewerkschaft ist. Unabhängig von der Mitwirkung des Arbeitgebers kann eine Tarifbindung darüber hinaus durch das Institut der Allgemeinverbindlicherklärung – entsprechend dem deutschen §&nbsp;5 TVG – erreicht werden. Dies ermöglicht es, Tarifnormen durch staatlichen Hoheitsakt auf nichtorganisierte Arbeitgeber zu erstrecken. Eine solche Ausdehnung der Tarifbindung durch staatliche Allgemeinverbindlicherklärung erlauben zahlreiche Mitgliedstaaten, so etwa Belgien, Deutschland, Griechenland, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, Portugal, Ungarn und Tschechien. Der Tarifvertrag gilt dann ausnahmslos für alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der jeweiligen Branche und Region, die seinem fachlichen und räumlichen Geltungsbereich entsprechen.<br />
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Außerhalb des Wirkungsbereichs von Allgemeinverbindlicherklärungen gibt es im Hinblick auf die rechtliche Bindung des Arbeitnehmers an Tarifverträge in den einzelnen Mitgliedstaaten beachtliche Unterschiede. In Deutschland gilt das Prinzip der doppelten und zudem kongruenten Tarifbindung (§&nbsp;3 Abs.&nbsp;1 TVG), demzufolge die Normen eines Tarifvertrags nur dann unmittelbar und zwingend gelten, wenn sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer Angehörige der tarifschließenden Verbände sind. Im Interesse einheitlicher Arbeitsbedingungen sind in der Praxis aber sog. Bezugnahmeklauseln im Einzelarbeitsvertrag weit verbreitet, die zwar keine normative Geltung der Tarifbestimmungen im Arbeitsverhältnis bewirken, dafür aber auf arbeitsvertraglicher Ebene zu einer schuldrechtlichen Bindung des Arbeitgebers gegenüber nichtorganisierten Arbeitnehmern führen. Eine solche Bindung kann sogar durch schlichte betriebliche Übung entstehen. Weitaus häufiger anzutreffen sind in den Mitgliedstaaten Modelle mit einer vollen „Außenseiterwirkung“: In etwas mehr als der Hälfte aller europäischen Rechtsordnungen ist der Tarifvertrag eines gebundenen Arbeitgebers im Verhältnis zu allen seinen Arbeitnehmern, also auch gegenüber den nicht gewerkschaftsangehörigen, rechtlich verbindlich. Beispielhaft genannt seien Frankreich, Griechenland und Italien im Hinblick auf die dort vorherrschenden nationalen Tarifverträge sowie Belgien, Dänemark, Lettland, Österreich, Finnland, die Niederlande, Polen und Tschechien in Bezug auf die jeweils geltenden Verbands- und Firmentarifverträge. <br />
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Auch zur rechtlichen Beurteilung einer sich im Betrieb ergebenden ''Tarifkonkurrenz'' – d.h. mehrere Tarifverträge sind auf ein Arbeitsverhältnis anwendbar – bzw. einer ''Tarifpluralität'' – d.h. ein Betrieb wird vom Geltungsbereich verschiedener Tarifverträge erfasst, an die der Arbeitgeber gebunden ist – sind in den Mitgliedstaaten verschiedene Lösungsansätze erkennbar. Während in Deutschland das Ziel verfolgt wird, nach dem (mittlerweile allerdings sehr umstrittenen) Grundsatz der Tarifeinheit in einem Betrieb jeweils nur einen Tarifvertrag zur Anwendung zu bringen, können in einigen Rechtsordnungen, so etwa in Italien, den Niederlanden, Belgien, Portugal, Schweden und Österreich, grundsätzlich mehrere Tarifverträge konkurrierender Gewerkschaften nebeneinander angewendet werden. Andere Länder wiederum vermeiden die Entstehung einer Tarifkonkurrenz durch gesetzliche Regelungen, in denen etwa die Zuständigkeiten der Verbände für eine bestimmte Branche explizit festgeschrieben werden. In Frankreich muss der Arbeitgeber allen im Betrieb vertretenen Gewerkschaften die Beteiligung an Tarifverhandlungen anbieten.<br />
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== 4. Vereinheitlichungsprojekte ==<br />
Die Globalisierung der Märkte, der technologische Fortschritt und der wachsende internationale Wettbewerb führen zu einem wachsenden Bedarf nach einer grenzüberschreitenden, einheitlichen Tarifpolitik der Verbände und Unternehmen. Zu begrüßen sind daher Vereinheitlichungsprojekte, die auf europäischer Ebene eine Harmonisierung der nationalen Tarifvertragssysteme anstreben.<br />
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Einen ersten Schritt in diese Richtung, der zugleich mit der wünschenswerten Stärkung der Stellung der europäischen Sozialpartner verbunden ist, stellt der „soziale Dialog“ dar. Er wurde über das Protokoll über die Sozialpolitik, das dem Vertrag von Maastricht 1992 als Annex beigefügt war, durch den Vertrag von Amsterdam in den [[EG-Vertrag]] eingefügt ([[Sozialpartnervereinbarung]]en). Hiernach muss die Kommission vor der Unterbreitung von Vorschlägen im Bereich der Sozialpolitik die europäischen Sozialpartner anhören (Art.&nbsp;138 EG/154 AEUV). Die Sozialpartner können gegenüber der Kommission eine Stellungnahme oder Empfehlung abgeben oder aber erklären, dass sie eine Rahmenvereinbarung nach Art.&nbsp;139 EG/155 AEUV aushandeln wollen. Gelingt es ihnen, innerhalb von neun Monaten eine solche Vereinbarung über den Inhalt des Vorschlags zu erzielen, so ist diese Vereinbarung Grundlage für die Rechtsetzung. Erreichen die Sozialpartner innerhalb der Frist keine Einigung, wie dies z.B. bei Einführung des [[Europäischer Betriebsrat|Europäischen Betriebsrat]]s der Fall war, erhält die Europäische Gemeinschaft wieder die volle Rechtsetzungskompetenz.<br />
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Umgesetzt werden soll die Vereinbarung nach Art.&nbsp;139 EG/155 AEUV in erster Linie durch die jeweiligen Verfahren und Gepflogenheiten der Sozialpartner und Mitgliedstaaten, d.h. durch Tarifverträge in den einzelnen Mitgliedstaaten bzw. deren Untergliederungen. Die Durchführung der Vereinbarung hängt damit nach wie vor von der freien Entscheidung der Mitgliedstaaten und der nationalen Sozialpartner ab. <br />
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Stellen die Unterzeichner der Vereinbarung einen Antrag nach Art.&nbsp;139(2) EG/155(2) AEUV, wird die Vereinbarung durch einen Beschluss des Rates auf Vorschlag der Kommission umgesetzt. Die letztgenannte Möglichkeit wurde bereits mehrfach praktiziert, so wurden die Rahmenvereinbarung zum Elternurlaub, die Rahmenvereinbarung Teilzeit und die Rahmenvereinbarung Befristung jeweils durch Richtlinien umgesetzt (RL&nbsp;96/34; RL&nbsp;97/81; RL&nbsp;1999/70).<br />
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Das europäische Modell des sozialen Dialogs ist in verschiedenen Mitgliedstaaten, jüngst etwa in Frankreich, auch auf nationaler Ebene aufgegriffen worden. In Deutschland wird ein Dialog der Sozialpartner in den letzten Jahren kaum praktiziert, vielmehr beschränken sich die Verbände auf eine Politik der Blockade notwendiger Reformen. Verbreitet besteht die Hoffnung, dass die auf Gemeinschaftsebene von den Sozialpartnern (UNICE, CEEP und EGB) geschlossenen Vereinbarungen keine Einzelfälle bleiben, vielmehr soll der soziale Dialog zukünftig zwischen den EU-Ländern verstärkt werden mit dem Ziel, langfristig den Weg für einen europäischen Tarifvertrag zu ebnen. Die dabei zu bewältigenden Schwierigkeiten sind indes erheblich, vieles ist nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Mitgliedstaaten umstritten. Die Festlegung europaweit einheitlicher Sozialstandards – etwa die zur Zeit diskutierte Einführung eines Mindestlohns – setzt zunächst die Aufnahme einer umfassenden europäischen Tarifpolitik voraus, die bislang kaum in Ansätzen existiert. <br />
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==Literatur==<br />
''Franz Gamillscheg'','' ''Kollektives Arbeitsrecht, Bd.&nbsp;I, 1997; ''Commission européenne'', La réglementation des conditions de travail dans les États membres de l’Union européenne, Bd.&nbsp;1: Droit comparé des États membres; Bd.&nbsp;2, Mise en perspecives des systèmes juridiques des États membres, 1998; ''Olaf Deinert'', Der Europäische Kollektivvertrag, 1999; ''Robert Rebhahn'', Das Kollektive Arbeitsrecht im Rechtsvergleich, Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht 2001, 763&nbsp;ff.; ''Maximilian Fuchs'','' Franz Marhold'', Europäisches Arbeitsrecht, 2006; ''Martin Henssler'','' Axel Braun'', Arbeitsrecht in Europa, 2.&nbsp;Aufl. 2007; ''Gregor Thüsing'', §&nbsp;1 Rn.&nbsp;116&nbsp;ff., in: Herbert Wiedemann (Hg.), Tarifvertragsgesetz, 2007; ''Martin Henssler'', §§&nbsp;1&nbsp;ff. TVG in: Martin Henssler, Heinz Josef Willemsen, Heinz-Jürgen Kalb (Hg.), Arbeitsrecht, 2008.<br />
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[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Collective_Labour_Agreements]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Nichteheliche_Lebensgemeinschaft&diff=1667Nichteheliche Lebensgemeinschaft2021-09-08T10:25:30Z<p>Richter: </p>
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<div>von ''[[Jens M. Scherpe]]''<br />
== 1. Begriffsbestimmung ==<br />
In seiner weitesten Auslegung umfasst der Begriff der „nichtehelichen Lebensgemeinschaft“ (engl. zumeist ''cohabitation'') jegliche Lebensgemeinschaft zwischen Personen, die nicht miteinander verheiratet sind, also auch alle anderen formalisierten Lebensgemeinschaften, einschließlich eingetragener/registrierter Partnerschaften zwischen Personen verschiedenen oder desselben Geschlechts. Letztere wären bei einer engeren Auslegung jedenfalls dann nicht mit eingeschlossen, wenn die formalisierte Lebensgemeinschaft ein exklusiv für gleichgeschlechtliche Paare geschaffenes, funktionales Äquivalent zur Ehe darstellt, wie etwa die deutsche eingetragene Lebenspartnerschaft, die schweizerische eingetragene Partnerschaft oder die registrierte Partnerschaft in den nordischen Ländern ([[Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften|Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft]]). Im Folgenden wird von diesem engeren Begriff ausgegangen.<br />
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Die Begriffe „eheähnliche Gemeinschaft“ und „Ehe ohne Trauschein“ sowie ''common law marriage'' (''[[common law]]'') werden oftmals verwendet, um nichteheliche Lebensgemeinschaften zu bezeichnen; sie signalisieren aber eine funktionale Ähnlichkeit der Lebensgemeinschaft zur [[Ehe]], die nicht allen nichtehelichen Lebensgemeinschaften gerecht wird – insbesondere dann, wenn sich die Partner bewusst gegen eine Ehe (oder ihr funktionales Äquivalent) entschieden haben.<br />
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Rechtshistorisch wurde häufig der Begriff des Konkubinats (''concubinatus'') zur Bezeichnung nichtehelicher Lebensgemeinschaften verwendet, wobei nur jeweils aus dem gesellschaftlich-historischen Zusammenhang zu ersehen ist, ob es sich etwa um ein ''neben'' oder ''außerhalb ''der Ehe bestehendes Verhältnis handelt, bzw. z.T. sogar um ein Verhältnis ''innerhalb'' einer Ehe minderen Rechts. Lange Zeit war das Konkubinat durchaus eine akzeptierte oder zumindest geduldete Lebensform, das Konzil von Trient schrieb jedoch mit dem Dekret ''Tametsi'' vom 11.11.1563 das Verbot des Konkubinats endgültig fest.<br />
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Der Ausspruch „Les concubins ignorent la loi, la loi ignore donc les concubins“ (oder auch „Les concubins'' se ''passent de la loi, la loi se désinteresse d'eux“) wird gemeinhin Napoléon zugerechnet; dennoch ist heutzutage in „seinem“ ''Code civil'' in Art.&nbsp;515-8 die ''concubinage'' nunmehr legal definiert als „ein faktisches Zusammenleben, das sich durch eine stabile, dauerhafte Lebensgemeinschaft zwischen zwei Personen unterschiedlichen oder gleichen Geschlechts kennzeichnet, die als Paar zusammenleben“; eine concubinage ist daher auch neben einer Ehe oder sonstigen formalisierten Lebensgemeinschaft möglich. Das schwedische Sambolag (2003:376) (Gesetz über Zusammenwohnende) definiert in §&nbsp;1&nbsp;sambor (Zusammenwohnende) als „zwei Personen, die dauerhaft als Paar zusammenleben und einen gemeinsamen Haushalt haben“. Wie in der Mehrzahl der europäischen Rechtsordnungen (aber z.B. nicht in Frankreich für die concubinage oder nach den Reformvorschlägen in England und Wales sowie in Irland) ist in Schweden aber die Anwendung der Vorschriften für nichteheliche Lebensgemeinschaften ausgeschlossen, wenn eine der Personen anderweitig verheiratet bzw. registrierter Partner ist. Auch werden die anderen Eheverbote grundsätzlich sinngemäß auf nichteheliche Lebensgemeinschaften übertragen; eine Ausnahme in Europa bildet hier lediglich Belgien, wo ein „gesetzliches Zusammenwohnen“ (welches eine gemeinsame schriftliche Erklärung gegenüber dem Standesbeamten erfordert) auch zwischen Blutsverwandten wie Geschwistern oder etwa Vater und Sohn möglich ist.<br />
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== 2. Rechtstatsächliche Bedeutung ==<br />
Die tatsächliche Bedeutung nichtehelicher Lebensgemeinschaften scheint einer gesellschaftlichen Entwicklung zu folgen, die grob in drei Phasen eingeteilt werden kann. In der ersten Phase sind nichteheliche Lebensgemeinschaften soziale Einzelfälle und werden von der großen Mehrheit der Bevölkerung als von der (Ehe&#8209;) Norm abweichend und negativ empfunden bzw. sozial geächtet, z.T. sogar mit strafrechtlichen Konsequenzen. In der folgenden Phase sind nichteheliche Lebensgemeinschaften häufiger und zumindest geduldet, vor allem als Vorstufe zur Ehe, in der die Lebensgemeinschaft durch das Zusammenleben „getestet“ wird; die Ehe bleibt jedoch die von der gesellschaftlichen Mehrheit als angemessen empfundene Lebensform, insbesondere wenn Kinder geboren werden. In der dritten Phase sind schließlich nichteheliches Zusammenleben und Ehe mit und ohne Kinder gleichermaßen sozial akzeptiert.<br />
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Die aufgezeigte Entwicklung lässt sich nahezu in allen europäischen Rechtsordnungen finden, wobei sich ein gewisses Nord-Süd-Gefälle in Europa feststellen lässt. In den nordischen Ländern, Frankreich und in einigen osteuropäischen Staaten wie Slowenien und Kroatien ist die Entwicklung am weitesten fortgeschritten. Mitteleuropa (einschließlich Deutschland) sowie Großbritannien nehmen eine Zwischenposition ein. Die südeuropäischen Länder (und Nordirland) stehen zumeist eher am Anfang dieser Entwicklung, auch wenn z.B. in den spanischen Autonomen Gemeinschaften bereits seit einiger Zeit Gesetze für nichteheliche Lebensgemeinschaften bestehen. Unabhängig vom Stand der Entwicklung im jeweiligen Land kann jedenfalls festgestellt werden, dass nichteheliche Lebensgemeinschaften in allen europäischen Staaten generell an sozialer Bedeutung zunehmen, mehr und mehr Kinder außerhalb der Ehe geboren werden (z.B. in den nordischen Ländern, Frankreich und Slowenien 40–50&nbsp;% aller Kinder) und dass sich hieraus sehr spezifische Rechtsprobleme ergeben, die einer Lösung bedürfen.<br />
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== 3. Tendenzen der Rechtsentwicklung ==<br />
Angesichts der steigenden Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften in den europäischen Staaten ergaben sich zwangsläufig soziale und rechtliche Konflikte. Als erste Reaktion sind daher durch Rechtsprechung und Gesetzgebung zahlreiche Einzelfallregelungen ergangen. Typischerweise finden sich die ersten solcher Regelungen (und damit eine „Anerkennung“ nichtehelicher Lebensgemeinschaften, durchaus auch zum Nachteil der Betroffenen) im öffentlichen Recht, insbesondere im Sozialrecht. Häufig sind auch schon in einer frühen Phase der Entwicklung gesetzliche Regelungen bzgl. der Wohnung, etwa hinsichtlich der Mietnachfolge im Todesfall (z.B. §&nbsp;563 Abs.&nbsp;2 S.&nbsp;4 BGB) oder bzgl. der Wohnungszuweisung bei Trennung (z.B. in den sec. 36 und 38 ''Family Law Act 1996'' in England).<br />
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In Ermangelung gesetzlicher Regelungen greifen die Gerichte zumeist auf das allgemeine Zivilrecht zurück (s. etwa BGH 9.7.2008, FamRZ 2008, 1822, 1828), welches aber – wenig überraschend – nicht immer adäquate Lösungen für diese letztlich speziellen familienrechtlichen Probleme bieten kann.<br />
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Daher haben sich einige Gesetzgeber entschlossen, nichtehelichen Lebensgemeinschaften einen festen, kohärenten rechtlichen Rahmen zu geben. Hierbei haben sich zwei Grundtypen herausgebildet: zum einen Rechtsordnungen, in denen die Anwendung der Rechtsregeln eine Formalisierung der Lebensgemeinschaft etwa durch Vertrag oder Registrierung erfordert, wie etwa der französische ''pacte civil de solidarité ''(PACS), die niederländische ''geregistreerd partnerschap'' oder die registrierte Partnerschaft in Ungarn sowie in einigen spanischen Autonomen Gemeinschaften, Andorra und Luxemburg; zum zweiten Rechtsordnungen, in denen kein formeller Rechtsakt, wohl aber sonstige faktische Voraussetzungen (wie z.B. das Zusammenleben für einen gewissen Zeitraum und/oder gemeinsame Kinder) erforderlich ist (wie etwa in Schweden, Portugal, Schottland, Kroatien oder Slowenien). Daneben bestehen Mischformen, z.B. in einigen spanischen autonomen Gemeinschaften, in denen die beiden genannten Grundtypen nebeneinander bestehen, d.h. dass die rechtlichen Wirkungen entweder unmittelbar durch einen formellen Rechtsakt oder aber erst bei Vorliegen faktischer Voraussetzungen (meist einer Mindestdauer des Zusammenlebens) eintreten.<br />
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=== a) Formalisierte nichteheliche Lebensgemeinschaft ===<br />
In denjenigen europäischen Rechtsordnungen, die einen formellen Rechtsakt zur Voraussetzung für die Anwendung eines gesetzlichen Regimes für nichteheliche Lebensgemeinschaften machen (z.B. Art. 515&nbsp;ff. frz. ''Code civil'', Art.&nbsp;1475&nbsp;ff. belg. ''Code civil'', Art.&nbsp;80a&nbsp;ff. BW), hat der Gesetzgeber somit im Ergebnis der Privatautonomie der Parteien Priorität gegenüber der Schutzbedürftigkeit des schwächeren Partners eingeräumt: ohne den ausdrücklichen Willen beider Parteien sollen – wie bei der Ehe – keine Rechtsfolgen eintreten.<br />
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Es ist zudem festzustellen, dass auf diese Weise eingeführte rechtliche Regime stets sowohl verschieden- als auch gleichgeschlechtlichen Paaren offen stehen, da der Gesetzgeber zwei familienrechtliche Fragen gleichzeitig regeln wollte: die Rechtsstellung nichtehelicher Lebensgemeinschaften und die Anerkennung [[Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften|gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften]]. Dieser Ansatz ist jedoch problematisch, da diese Lebensgemeinschaften oft unterschiedliche Ausgangs- und Interessenlagen haben: Die einen wollen nicht heiraten (oder haben schlicht nicht geheiratet), die anderen können nicht heiraten. Zudem stehen auf diese Weise verschiedengeschlechtlichen Paaren zwei Möglichkeiten zur Formalisierung ihrer Beziehung zur Auswahl (und damit eine echte Alternative zur Ehe), gleichgeschlechtlichen Paaren jedoch nur eine Möglichkeit, so dass man von einer fortdauernden Diskriminierung letzterer sprechen kann. Solche Erwägungen haben letztlich die Niederlande und Belgien veranlasst, in einem zweiten Schritt die [[Ehe]] für gleichgeschlechtliche Paare ([[Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften]]) zu öffnen.<br />
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Die bestehenden Rechtsregelungen für formalisierte nichteheliche Lebensgemeinschaften sind inhaltlich sehr unterschiedlich. Die umfassendsten Rechtsfolgen bestehen in den Niederlanden und Ungarn; hier gelten über Verweisungen für die ''geregistreerd partnerschap/''registrierte Partnerschaft nahezu dieselben Rechtsregelungen wie für Ehepaare (mit geringen Ausnahmen, etwa bei der Auflösung). Frankreich hat dagegen mit dem ''pacte civil de solidarité ''(PACS) ein eigenes, von den Rechtsregelungen der Ehe grundverschiedenes Regime eingeführt. Das belgische „gesetzliche Zusammenwohnen“ hat zwar – abgesehen vom jüngst eingeführten Erbrecht und einigen weiteren Bestimmungen – nur geringe zivilrechtliche Wirkungen, wohl aber weitreichende Folgen im Steuer- und Sozialrecht.<br />
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Allen Systemen der formalisierten nichtehelichen Lebensgemeinschaft ist schließlich gemein, dass sie nicht die Rechtsprobleme aller nichtehelichen Lebensgemeinschaften lösen können. Eine Vielzahl von Paaren wird – aus den unterschiedlichsten Gründen – den notwendigen formellen Akt nicht vornehmen und daher nicht unter den Anwendungsbereich des formellen Regimes fallen.<br />
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Insofern ist festzustellen, dass in allen Rechtsordnungen, die ein formelles Regime kennen, weiter die Notwendigkeit besteht, mit den Rechtsproblemen der nichtformalisierten Lebensgemeinschaften umzugehen. In der Tat bestehen daher dort z.T. vereinzelte Rechtsvorschriften für bestimmte Rechtsgebiete – und die Gerichte müssen weiter vermittels des hierfür nur bedingt geeigneten allgemeinen Zivilrechts Rechtsstreitigkeiten zwischen nichtehelichen Lebenspartnern lösen. Ein Regime formalisierter nichtehelicher Lebensgemeinschaften fügt somit letztendlich nur eine „Zwischenebene“ zwischen Ehe und nichtformalisierten nichtehelichen Lebensgemeinschaften ein.<br />
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=== b) Informelle nichteheliche Lebensgemeinschaft bzw. faktisches Zusammenleben ===<br />
Diejenigen Rechtsordnungen, in denen die gesetzlich vorgesehenen Rechtsfolgen an das Vorliegen bloßer Fakten geknüpft ist, geben scheinbar dem Schutz der schwächeren Partei den Vorrang gegenüber der Privatautonomie: Die Rechtsfolgen treten grundsätzlich unabhängig vom Willen der Parteien ein. Die Privatautonomie ist jedoch insofern gewahrt, als dass es den Parteien in den meisten dieser Rechtsordnungen grundsätzlich freisteht, per Vertrag auf die Anwendung der entsprechenden Rechtsregeln zu verzichten (sog. ''opt-out'').<br />
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Die erforderlichen Fakten bzw. Voraussetzungen sind zumeist das Zusammenleben als Paar/ein gemeinsamer Haushalt für einen Mindestzeitraum (je nach Rechtsordnung entweder für einen bestimmten ausdrücklich genannten Zeitraum von zwei bis fünf Jahren oder aber bewusst offen formuliert als „längerer Zeitraum“); hat das Paar gemeinsame Kinder, so entfällt in einigen Rechtsordnungen das Zeiterfordernis.<br />
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Die in den europäischen Rechtsordnungen an ein informelles nichteheliches Zusammenleben anknüpfenden Regelungen sind in ihrer inhaltlichen Reichweite sehr unterschiedlich. Zum Teil lehnen sie sich sehr eng an diejenigen der Ehe an (Slowenien, Kroatien), zum Teil wurden bewusst von den Regelungen für die Ehe abweichende Vorschriften geschaffen (Schweden, Schottland; so auch die Reformvorschläge in England und Wales sowie in der Republik Irland).<br />
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== 4. EuGH, EGMR und nichteheliche Lebensgemeinschaften ==<br />
Der EuGH hatte mehrmals Gelegenheit, zur Abgrenzung von Ehe und nichteheliche Lebensgemeinschaften Stellung zu nehmen, zumeist im Zusammenhang mit Vergünstigungen, die ausdrücklich nur Eheleuten eingeräumt waren (siehe etwa EuGH Rs.&nbsp;59/85 – ''The Netherlands v. Reed'', Slg. 1986, 1283). Dabei hat der EuGH stets den Begriff der Ehe autonom ausgelegt und durchweg entschieden, dass Ehe und nichteheliche Lebensgemeinschaft nicht zwingend gleich zu behandeln seien und dass der Begriff „Ehegatte“ (engl.: ''spouse'') nicht dahingehend interpretiert werden könne, dass er auch die Partner nichtehelicher Lebensgemeinschaften mit umfasse. Ebenso sieht auch der EGMR formalisierte Lebensgemeinschaften wie die Ehe und bloße ''de facto'' Lebensgemeinschaften als grundsätzlich verschieden an, eine Ungleichbehandlung liege daher im Ermessen des nationalen Gesetzgebers (vgl. etwa EGMR Nr.&nbsp;56501/00 – ''Mata Estevez/ Spain<nowiki>; </nowiki>''EGMR Nr.&nbsp;13378/05 – ''Burden/Vereinigtes Königreich'' und EGMR Nr.&nbsp;4479/06 – ''Courten/ Vereinigtes Königreich'').<br />
<br />
== 5. Konvention Nr. 32 der ''Commission Internationale de l’État Civil'' ==<br />
Die [[Internationale Zivilstandskommission (CIEC)|''Commission Internationale de l’État Civil'' (CIEC) (Internationale Kommission)]] hat am 5.9.2007 eine Konvention zur Anerkennung von registrierten Partnerschaften (''Convention (no. 32) sur la reconnaissance des partenariats enregistrés'') verabschiedet, die bislang aber noch von keinem Staat gezeichnet wurde. Die Konvention ist eine Kompromisslösung; die schon bestehenden Regelungen vieler Rechtsordnungen gehen im Regelungsumfang bereits über die in der Konvention enthaltenen hinaus. Gegenstand dieser Konvention ist die Anerkennung formalisierter gleich- und verschiedengeschlechtlicher Lebensgemeinschaften, nicht jedoch die Anerkennung von Rechtsregimen, die an ein bloßes faktisches Zusammenleben anknüpfen.<br />
<br />
Eine baldige Regelung zur grundsätzlichen Anerkennung von ausländischen Rechtsregimen für nichteheliche Lebensgemeinschaften (sowohl formalisierter als auch informeller) erscheint angesichts der Vielzahl der verschiedenen Rechtsinstitute in den europäischen Rechtsordnungen unentbehrlich, vor allem mit Blick auf die [[Arbeitnehmerfreizügigkeit]] in der [[Europäische Union|Europäischen Union]]. Denn nur, wenn familienrechtliche Regime, die in einem Mitgliedstaat wirksam sind, auch in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt werden, ist ein Arbeitnehmer wirklich frei bei der Wahl seines Arbeitsplatzes.<br />
<br />
== 6. Künftige Entwicklung ==<br />
Die steigende Zahl nichtehelicher Lebensgemeinschaften setzt die nationalen europäischen Gesetzgeber – in unterschiedlichem Maße – unter Druck, sich dieser sozialen Entwicklung anzunehmen und angemessene rechtliche Lösungen zur Verfügung zu stellen. Wo Reformen erwogen werden, ist eine klare Tendenz zu Lösungen unter Anknüpfung an faktische Voraussetzungen (und nicht an einen formellen Akt) festzustellen. Im Zuge der Diskussion über Reformen in diesem Bereich wird in nahezu allen europäischen Staaten argumentiert, dass die rechtliche Anerkennung nichtehelicher Lebensgemeinschaften das Rechtsinstitut der Ehe als gesellschaftliches Leitbild gefährden würde. Zumindest mit Blick auf die nordischen Länder, in denen nichteheliche Lebensgemeinschaften in weit größerem Maße akzeptiert sind als in anderen Rechtsordnungen, lässt sich die Validität dieser Befürchtung nicht nachweisen. Angesichts der gesamteuropäischen Entwicklung spricht jedoch einiges dafür, dass der soziale Leidensdruck, die Schutzbedürftigkeit des schwächeren Partners und der Kinder, früher oder später in den europäischen Rechtsordnungen zur Einführung von Rechtsregeln für nichteheliche Lebensgemeinschaften führen werden.<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Justitiedepartementet'', Statens offentliga utredningar (SOU) 1999:104 – Nya samboregler (Schweden), 1999;'' Kathleen Kiernan'', The Rise of Cohabitation and Childbearing Outside Marriage in Western Europe, International Journal of Law, Policy and the Family&nbsp;15 (2001) 1&nbsp;ff.; ''Wendy Schrama'', De niet-huwelijkse samenleving in het Nederlandse en het Duitse recht, 2004; ''Cristina González Beilfuss'', Parejas de hecho y matrimonios del mismo sexo en la Unión Europea, 2004; ''Jens M. Scherpe'','' Nadjma Yassari'' (Hg.), Die Rechtsstellung nichtehelicher Lebensgemeinschaften – The Legal Status of Cohabitants, 2005; ''Anne Barlow'','' Simon Duncan'','' Grace James'','' Alison Park'', Cohabitation, Marriage and the Law – Social Change and Legal Reform in the 21st&nbsp;Century, 2005; ''Herbert Grziwotz'', Nichteheliche Lebensgemeinschaft, 4.&nbsp;Aufl. 2006; ''The Law Reform Commission''<nowiki> [Irland], Report – Rights and Duties of Cohabitants, Law Reform Commission&nbsp;82-2006; </nowiki>''The Law Commission ''<nowiki>[England und Wales], Cohabitation: The Legal Consequences of Relationship Breakdown, Consultation Paper No.&nbsp;179, 2006; Report Law Com No.&nbsp;307, 2007; </nowiki>''Inge Kroppenberg'', ''Dieter Schwab'', ''Dieter Henrich'', ''Peter Gottwald'', ''Andreas Spickhoff'' (Hg.), Rechtsregeln für nichteheliches Zusammenleben, 2009.<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Cohabitation]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Kodifikation&diff=1665Kodifikation2021-09-08T10:25:04Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Jan Peter Schmidt]]''<br />
== 1. Begriff ==<br />
Der Begriff der Kodifikation kann in wörtlicher oder in technischer Weise verstanden werden. Wörtlich bedeutet er die Herstellung eines „codex“. Im antiken Buchwesen wurde damit ein Satz hölzerner Tafeln bezeichnet, die mit beschreibbarem Material bedeckt und in Buchform zusammengebunden waren. Im späten Römischen Reich wurden die Sammlungen von Kaiserkonstitutionen „codices“ genannt, bekanntestes Beispiel ist der „Codex Iustinianus“, der dritte Teil des ''[[Corpus Juris Civilis]]''.<br />
<br />
Im Folgenden ist allein vom technischen Kodifikationsbegriff die Rede, der auf ''Jeremy Bentham'' zurückgeht. Danach meint Kodifikation die systematische und vollständige Aufzeichnung des Rechtsstoffs eines bestimmten Sachgebiets in einem Gesetzbuch. Nach herkömmlichem Begriffsverständnis kann nur staatlich gesetztes Recht kodifiziert werden. Rechtstexte, die durch private Wissenschaftlergruppen oder internationale Institutionen erarbeitet worden sind, wie etwa die ''[[Principles of European Contract Law]]'' (PECL) oder die [[UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts|UNIDROIT'' Principles of International Commercial Contracts'']] (PICC) können daher als nur „kodifikationsähnlich“ oder als „Privatkodifikationen“ bezeichnet werden, auch wenn sie von ihrer Struktur her einer echten Kodifikation vergleichbar sind.<br />
<br />
Im Schrifttum ist die Verwendung des Kodifikationsbegriffs oftmals unpräzise. Rechtssammlungen nach Art des ''Corpus Juris'' ''Civilis ''oder des Sachsenspiegels sind keine Kodifikationen im technischen Sinn, da in ihnen Bestehendes lediglich aneinandergefügt wurde. Auch staatliche Gesetzgeber betiteln ihre Rechtsakte häufig zu Unrecht als „Gesetzbuch“ oder „Kodifikation“.<br />
<br />
== 2. Ursprung und Ziele der Kodifikationsidee ==<br />
Der geistige Boden der Kodifikationsidee wurde während des 16. und 17.&nbsp;Jahrhunderts durch ein Zusammenwirken verschiedener Faktoren bereitet. Einer davon war die Kritik des juristischen [[Humanismus]] am [[ius commune (Gemeines Recht)|''ius commune'']], die auf die historische Relativität des ''Corpus Juris Civilis'' hinwies, ebenso auf seine Lücken und Widersprüche. Die hieraus resultierende Rechtsunsicherheit wurde für unnötige und langdauernde Prozesse verantwortlich gemacht. Aus dieser Haltung heraus entstand der Wunsch nach einer neuen, klaren und widerspruchsfreien Gesetzgebung, die den Bedürfnissen der Zeit entsprach.<br />
<br />
Ein zweiter entscheidender Faktor lag im Hervorbringen eines neuen Verständnisses von Staat und Gesellschaft durch das Vernunftrecht ([[Naturrecht]]). Danach lag Staat und Recht ein sozialer Vertrag aller Individuen zugrunde, der den Zweck hatte, die Freiheit des Einzelnen zu sichern. Diese Freiheit bedurfte gleichzeitig der Einschränkung durch eine klare und einfache Gesetzgebung, einer „standing rule to live by“ ''(John Locke)''. Einen anderen wichtigen Beitrag zur Kodifikationsidee erbrachte das Vernunftrecht mit seiner Methode, das Recht nach mathematischem Vorbild systematisch aufzuarbeiten. Erst dieses Verfahren ermöglichte es in der Folge, den Rechtsstoff in geordneter Weise niederzuschreiben.<br />
<br />
Zum Durchbruch verhalf der Kodifikationsidee schließlich „das Bündnis des Vernunftrechts mit der Aufklärung“ (''Franz Wieacker''). Das Recht sollte nicht länger durch ein undurchsichtiges und widersprüchliches Quellensystem der Willkür von Richtern und Anwälten ausgeliefert sein. Mit Hilfe der Kodifikation, die alle Rechtsregeln in einer verständlichen Weise zusammenfasste, sollte fortan „every man his own lawyer“ (''Jeremy Bentham'') sein können und den Berufsadvokaten nicht länger benötigen. Die europäischen Herrscher des aufgeklärten Absolutismus nahmen diese Ideen bereitwillig auf: Sie sahen in der Kodifikation nicht nur die Möglichkeit, die Herrschaft des Rechts über die Willkür zu sichern, den Rechtsbetrieb zu rationalisieren und so insgesamt das Wohlergehen ihrer Untertanen zu steigern, sondern vor allem auch ein Mittel, ihr Rechtssetzungsmonopol zu unterstreichen.<br />
<br />
Aus den beschriebenen Zielen der Kodifikation ergaben sich folgende Anforderungen an ihre Ausgestaltung:<br />
<br />
(1)&nbsp;Sie musste vollständig und abschließend sein, durfte also weder innere Lücken enthalten noch durch weitere Rechtsquellen ergänzt werden. „Whatever is not in the code of laws, ought not to be the law“ ''(Bentham)''.<br />
<br />
(2)&nbsp;Damit der Bürger sein Leben an ihr ausrichten konnte, musste die Kodifikation einfach und verständlich sein. Zentrale Voraussetzung hierfür war, dass sie nicht auf Latein, sondern in der Sprache des Volkes geschrieben war. Dieses Erfordernis sollte die Kodifikationsidee später stark mit den Gedanken des Nationalstaats und der nationalen Identität verbinden.<br />
<br />
(3)&nbsp;Schließlich musste die Kodifikation auch publiziert werden, denn nur so konnte der Bürger Kenntnis von ihr erlangen. Das Publizitätserfordernis führte zur Praxis der offiziellen Verkündung der Gesetze. Seinen Ausdruck fand es ferner darin, dass in einigen nationalen Kodifikationen ausdrücklich die Unbeachtlichkeit des Rechtsirrtums niedergelegt wurde.<br />
<br />
== 3. Die weltweite Kodifikationsbewegung ==<br />
Die Methode der Kodifizierung des Rechts blieb nicht auf das Zivilrecht beschränkt, sondern wurde schon früh ebenso auf das Handelsrecht (''[[Code unique]]''), das Strafrecht und das Prozessrecht angewendet. Die folgende Darstellung konzentriert sich auf die Entstehung der nationalen Zivilgesetzbücher, mit der die Kodifizierung anderer Rechtsbereiche aber häufig einher ging. <br />
<br />
=== a) Die Kodifikationsbewegung in Europa ===<br />
Den Beginn des Kodifikationszeitalters markierten die sog. „vernunftrechtlichen“ Kodifikationen ([[Naturrecht]]), namentlich das [[Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten|preußische ALR]] (1794), der französische ''[[Code civil]]'' (1804) und das österreichische [[Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch|ABGB]] (1811). Die genannte Bezeichnung beruht auf der engen Verbundenheit dieser Gesetzbücher mit der oben beschriebenen vernunftrechtlichen Idee einer umfassenden Gesellschaftsplanung durch staatliche Gesetzgebung. <br />
<br />
Nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft erfuhr die Kodifikationsbewegung dann aber zunächst einen Rückschlag. In Deutschland traten die gegensätzlichen Positionen im berühmten Kodifikationsstreit zwischen ''Anton F.J. Thibaut ''und ''Friedrich Carl von'' ''Savigny ''hervor. Während ''Thibaut'' leidenschaftlich ein gemeinsames Zivilgesetzbuch für die deutschen Staaten forderte und dabei vor allem die Vorzüge einer Vereinfachung und Vereinheitlichung des Rechts rühmte, sprach sich ''Savigny ''in seiner berühmten Programmschrift „Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“ (1814) vehement dagegen aus. Er sah'' ''in der Kodifikation einen unorganischen und willkürlichen Eingriff in den geschichtlichen Charakter des Rechts. Rechtseinheit sei zwar wünschenswert, könne aber nur auf Grundlage einer „organisch fortschreitenden Rechtswissenschaft“ hergestellt werden. Neben dem Erstarken der historischen Rechtsschule waren es aber vor allem politische Ursachen, die die Kodifikationsidee bremsten: In Deutschland, Italien und der Schweiz fehlte es an der notwendigen staatlichen Einheit, zugleich sahen die restaurativen Kräfte, die zurück an die Macht gelangt waren, in der Kodifikationsidee eine Untergrabung ihrer Legimitation.<br />
<br />
Aus den genannten Gründen nahm die zweite große Kodifikationswelle erst Mitte des 19.&nbsp;Jahrhunderts ihren Anfang. Sie brachte die sog. Gesetzbücher der Nationalstaaten hervor, die deshalb so bezeichnet werden, weil sie jeweils Ausdruck einer neuen Staatsgründung waren und in erster Linie die nationale Rechtsvereinheitlichung zum Ziel hatten. Den Anfang machte Italien, das sich 1865 seinen ersten ''[[Codice civile]]'' gab. In Deutschland und in der Schweiz ergingen wegen der einstweilen noch fehlenden Bundeskompetenz zunächst verschiedene regionale Zivilgesetzbücher, durch das deutsche [[Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch||ADHGB]] (1861) und das [[Schweizerisches Obligationenrecht|schweizerische OR]] (1883) konnten aber immerhin bereits wichtige Teilbereiche landesweit vereinheitlicht werden (''[[Code unique]]''). Mit dem deutschen [[Bürgerliches Gesetzbuch|BGB]] (1896) und dem [[Schweizerisches Zivilgesetzbuch|schweizerischen ZGB]] (1907) wurden schließlich auch die ersehnten Bundeszivilgesetzbücher geschaffen. Beide Werke waren dank gründlicher wissenschaftlicher Vorarbeiten die reifsten ihrer Art und konnten fortan mit dem ''Code civil'' um weltweite Anerkennung und Rezeption wetteifern. <br />
<br />
Andere europäische Zivilgesetzbücher des 19.&nbsp;Jahrhunderts lassen sich nicht eindeutig einer der beiden Hauptwellen zurechnen, wurden aber jedenfalls inhaltlich stark vom ''Code civil'' beeinflusst. Hierzu gehören das (insgesamt dritte) niederländische Zivilgesetzbuch (1838), der erste ''Código civil'' Portugals (1867) und der spanische ''[[Código civil]]'' (1889). Als späte Nachwellen des BGB und des schweizerischen ZGB werden aufgrund deren starker Vorbildwirkung die Zivilkodifikationen der Türkei (1926; [[Türkisches Zivilgesetzbuch und Obligationenrecht]]) und Griechenlands (1940; [[Griechisches Zivilgesetzbuch]]) bezeichnet.<br />
<br />
Eine weitere Kodifikationswelle nahm ab den 1920er Jahren in den sozialistischen Staaten ihren Lauf. Neben den Zivilgesetzbüchern der Sowjetrepubliken gingen hieraus etwa das ungarische Zivilgesetzbuch (1959), das [[polnisches Zivilgesetzbuch|polnische Zivilgesetzbuch]] (1964) und das Zivilgesetzbuch der DDR (1975) hervor. Die während dieser Welle entstandenen Kodifikationen sind nach dem Zusammenbruch des Sozialismus, von wenigen Ausnahmen abgesehen, allesamt ersetzt oder grundlegend reformiert worden ([[Russisches Zivilgesetzbuch]] [1996]). Auch in Westeuropa hat es während des 20.&nbsp;Jahrhunderts einige wichtige Neukodifikationen gegeben, so 1942 in Italien (''[[Codice civile]]''), 1966 in Portugal und ab 1970 in den Niederlanden (''[[Burgerlijk Wetboek]]'').<br />
<br />
Im skandinavischen Rechtskreis ist die Kodifikationsidee ebenfalls auf Sympathie gestoßen. Projekte zur umfassenden Niederlegung des Zivilrechts in einem zentralen Gesetzbuch konnten sich zwar nie durchsetzen, einzelne Rechtsbereiche wie das Kaufrecht dafür aber sogar regional einheitlich kodifiziert werden ([[Skandinavische Rechtsvereinheitlichung]]).<br />
<br />
=== b) Die Kodifikationsbewegung auf anderen Kontinenten ===<br />
Tiefe Spuren hat die Kodifikationsbewegung auch in den ehemaligen europäischen Kolonien in Lateinamerika ([[Ausstrahlung des europäischen Privatrechts in lateinamerikanische Rechtsordnungen]]) und Nordafrika ([[Ausstrahlung des europäischen Privatrechts auf islamische Länder|Ausstrahlung des europäischen Privatrechts ins islamische Recht]]) hinterlassen. Gleiches gilt für die Staaten Ostasiens ([[Ausstrahlung des europäischen Privatrechts ins japanische Recht]]; [[Ausstrahlung des europäischen Privatrechts ins chinesische Recht]]). Die in diesen Regionen geschaffenen Zivilgesetzbücher haben sich meist sehr stark an ein oder mehrere europäische Vorbilder angelehnt.<br />
<br />
=== c) Die Kodifikationsbewegung im Rechtskreis des ''common law'' ===<br />
Auch im Rechtskreis des ''[[common law]]'' hat die Kodifikationsidee immer wieder gewichtige Fürsprecher gefunden, allen voran in der Person ''Jeremy Benthams''. Die Vorteile, die er und seine Nachfolger sich von einer Kodifizierung des unsystematischen, nur Fachleuten zugänglichen und schriftlich nicht fixierten ''common law'' versprachen, liegen auf der Hand. Gleichwohl sind entsprechende Vorhaben in England bislang immer gescheitert, so auch der in den 1960er Jahren begonnene Versuch zur Schaffung eines „Contract Code“, der nicht über das Entwurfsstadium hinausgelangte. Generelles Misstrauen gegenüber der Methode, ganze Lebensbereiche abstrakten Rechtsregeln zu unterwerfen, sowie die Befürchtung, durch eine Kodifizierung des ''common law'' an Einfluss zu verlieren, gelten als Hauptursachen für den Widerstand der englischen Juristen.<br />
<br />
<nowiki>Erfolgreicher ist die Kodifikationsbewegung demgegenüber in den USA gewesen. Dies lässt sich zwar nicht anhand der Kodifizierung des Zivilrechts in Louisiana (1808) belegen, die Folge der starken Verwurzelung dieses Bundesstaats in der spanischen und der französischen Rechtstradition war und deshalb als Sonderfall zu betrachten ist (ähnlich wie die Kodifizierung des Zivilrechts in der kanadischen Provinz Québec [1866 und 1994]). Doch war vor allem Mitte des 19.&nbsp;Jahrhunderts die Kodifikationsbewegung auch in vielen anderen Bundesstaaten sehr stark. Eine ihrer Anführer war der Rechtsanwalt </nowiki>''David Dudley Field''. Sein Entwurf für eine Zivilprozessordnung trat 1848 im Staat New York in Kraft und war später Vorbild für die Verfahrensordnung zahlreicher anderer Bundesstaaten. Etwas weniger Erfolg war ''Fields'' Entwurf für ein Zivilgesetzbuch beschieden. Der New Yorker Gesetzgeber lehnte ihn ab, doch wurden Teile von ihm später in anderen Bundesstaaten übernommen. Im 20.&nbsp;Jahrhundert erfolgte mit dem ''Uniform Commercial Code'' (UCC) die Kodifizierung eines zwar begrenzten, aber dafür praktisch sehr bedeutsamen Rechtsbereichs. Ziel des UCC war vor allem die Vereinheitlichung des Rechts der einzelnen Bundesstaaten. Und auch die US-amerikanischen ''[[Restatements]]'' sind in ihrer Zielsetzung einer systematischen und möglichst vollständigen Rechtsaufzeichnung deutlich von der Kodifikationsidee inspiriert, selbst wenn sie mangels staatlicher Inkraftsetzung keine Kodifikation im strengen Sinne darstellen.<br />
<br />
== 4. Krise der Kodifikationsidee? ==<br />
Ungeachtet der Tatsache, dass bis in die Gegenwart hinein regelmäßig neue Zivilgesetzbücher in Kraft getreten sind, ist seit etwa Mitte des 20.&nbsp;Jahrhunderts von einer Krise der Kodifikationsidee die Rede, die meist unter dem von ''Natalino Irti'' geprägten Schlagwort vom „Zeitalter der Dekodifikation“ diskutiert wird. Die dahinterstehende Frage lautet, ob in der heutigen Zeit die Kodifikation noch die angemessene oder überhaupt mögliche Form der Gesetzgebung ist. Weitgehend unbestritten sind die Erscheinungsformen des Phänomens der „Dekodifikation“: Erstens ist neben die Kodifikationen inzwischen eine erhebliche Zahl von Nebengesetzen getreten, die oftmals auch eine neue juristische Terminologie einführen und von den allgemeinen Grundprinzipien des Zivilrechts abweichen. Beispiele finden sich etwa im Arbeitsrecht ([[Europäisches Arbeitsrecht]]) und im modernen Verbraucherschutzrecht ([[Verbraucher und Verbraucherschutz]]). Zweitens sind immer mehr Materien der Kodifikation in die Fallgruppen der Rechtsprechung abgewandert, so dass das Zivilgesetzbuch vielfach nicht mehr die tatsächlich geltende Rechtslage widerspiegelt. Veranschaulichen lässt sich dies etwa anhand des französischen Deliktsrechts, dessen wenige Gesetzesvorschriften angesichts einer weit ausdifferenzierten Rechtsprechung heute praktisch keine Bedeutung besitzen. Weiter haben die modernen Verfassungen den Kodifikationen einen erheblichen Bedeutungsverlust zugefügt: Indem sie deren Aufgabe übernommen haben, die Grundrechte des Bürgers zu sichern, entfalten sie einen erheblichen mittelbaren Einfluss auf das Privatrecht. Schließlich erhalten die nationalen Kodifikationen inzwischen auch von außerhalb der Staatsgrenzen Konkurrenz: Internationale Konventionen, vor allem aber das supranationale Recht der [[Europäische Gemeinschaft|Europäischen Gemeinschaft]], dringen immer häufiger in klassische Regelungsbereiche der Kodifikation ein.<br />
<br />
Über die Ursachen für die beschriebenen Symptome herrscht ebenfalls weitgehend Einigkeit: In der demokratisch verfassten pluralistischen Industriegesellschaft ist die Aufstellung allgemeinverbindlicher Regeln deutlich schwieriger als im 19.&nbsp;Jahrhundert. Technischer Fortschritt und gesellschaftlicher Wandel erfordern eine ständige Anpassung und Weiterentwicklung des Rechts. Die unsystematische Maßnahmegesetzgebung, die es dem Gesetzgeber erlaubt, auf neu auftretende Probleme schnell und gezielt zu reagieren, hat daher zunehmend die Oberhand gewonnen. Ursache der „Normenflut“ ist aber nicht nur die gestiegene Komplexität der Lebensverhältnisse, sondern auch die Wandlung des Staatsverständnisses: Während der liberale Staat des 19.&nbsp;Jahrhunderts sich darauf beschränkte, die grundlegenden Spielregeln für den Privatrechtsverkehr aufzustellen, sieht der moderne Sozialstaat als Wohlfahrtsstaat seine Aufgabe darin, die gesellschaftlichen Verhältnisse zugunsten der Benachteiligten umzugestalten. Schließlich ist auch ein demokratisches Gesetzgebungsverfahren mit einem so umfangreichen Werk wie dem einer Kodifikation schwierig zu vereinbaren: Das Parlament als formeller Gesetzgeber besitzt selten die notwendige Sachkunde, zudem ist es den Sachzwängen der Tagespolitik unterworfen. Vor allem aber nehmen zahlreiche „informelle Gesetzgeber“ in Form organisierter Interessengruppen Einfluss auf das Gesetzgebungsverfahren, wodurch die inhaltliche Ausgewogenheit und systematische Geschlossenheit eines Entwurfs häufig Schaden nehmen und manche Vorhaben sogar ganz zum Scheitern gebracht werden.<br />
<br />
Aus der beschriebenen Diagnose ist als Therapie zunächst vielfach die radikale Absage an eine Zukunft des Kodifikationsgedankens gefolgert worden. Hierin sieht die Mehrzahl der Stimmen heute aber eine Übertreibung: Die Kodifikation enthalte weiterhin zahlreiche Materien von zentraler Bedeutung und sei keinesfalls nur noch subsidiäre Rechtsquelle. Unsorgfältige und unsystematische Spezialgesetzgebung sei nicht unausweichliches Schicksal, sondern oftmals das Ergebnis fehlender Kompetenz und fehlenden Bemühens der an der Entstehung eines Gesetzes beteiligten Personen. Die Langlebigkeit des ''[[Code civil]]'', des [[Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch|ABGB]] und des [[Bürgerliches Gesetzbuch|BGB]] beweise, dass eine Kodifikation keineswegs zu einer Versteinerung des Rechts führen müsse. Zudem zeige die Erfahrung, dass Maßnahmegesetze ihr Ziel häufig gerade nicht erreichten, während sich umgekehrt auch aus jüngster Zeit zahlreiche Beispiele für gelungene Kodifikationsarbeiten anführen ließen.<br />
<br />
== 5. Aufgaben der Kodifikation in heutiger Zeit ==<br />
Halten die Anhänger der Kodifikationsidee deren Zeit also noch nicht für abgelaufen, so plädieren sie gleichwohl dafür, die Aufgaben eines zentralen Gesetzbuches zu überdenken. Dem Publizitätsgebot wird in der gegenwärtigen Kodifikationsdebatte keine Bedeutung mehr zugemessen. Die Erwartung, dass der juristische Laie die Gesetze kennen und verstehen könne, erweise sich heute mehr denn je als unrealistisch. Auch das ursprüngliche Ideal der Vollständigkeit der Kodifikation, das selbst vom preußischen ALR als dem umfangreichsten aller Gesetzbücher nicht mit letzter Konsequenz verfolgt worden war, müsse heute stark relativiert werden. Häufig sei es empfehlenswert, neuartige, noch nicht gefestigte Materien zunächst in Nebengesetzen zu behandeln. Daneben müssten vielfach aber auch Rechtsprechung und Wissenschaft mit der Weiterentwicklung des Rechts betraut werden (etwa mittels bewusster Regelungslücken, unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln). Die Funktionen der Rechtsvereinheitlichung und der Stiftung nationaler Identität galten lange Zeit auch schon als überholt, erleben derzeit hingegen eine Renaissance in der Debatte über ein [[Europäisches Zivilgesetzbuch]].<br />
<br />
Als wichtigste und nach wie vor unverzichtbare Aufgabe der Kodifikation wird heute die der Systematisierung des Rechtsstoffs angesehen. Diese mache innere Zusammenhänge zwischen verschiedenartigen Problemkomplexen deutlich und leiste so einen wichtigen Beitrag gerade auch zur Bewältigung neuartiger Herausforderungen. Zudem sei die Kodifikation notwendiger Hintergrund für die gesamte Sondergesetzgebung, indem sie die grundlegenden Rechtsbegriffe und &#8209;institute bereitstelle. Dem inhaltlichen Vorzug der Systematisierung stehe ein formaler an der Seite: Die Kodifikation ermögliche es, die Rechtsordnung in periodischen Abständen zu bereinigen, indem veraltetes Recht ausgeschieden und neu entstandenes Recht mittels einer „Rekodifikation“ in das bestehende System eingearbeitet wird. Nur so könne die Zersplitterung des Rechts in eine Unzahl von Quellen, die auch der geschulte Jurist nicht mehr überblicken kann, verhindert werden. Die Kodifikation soll also einen zentralen Beitrag zum Rechtszugang und zur Rechtsklarheit leisten.<br />
<br />
== 6. Fazit und Ausblick ==<br />
Kodifikation ist nach den Worten ''Franz Wieackers'' eine „einzigartige, schwer errungene und schwer zu verteidigende Schöpfung der Rechtsgesittung“. Die kontinentaleuropäische Rechtstradition ist seit dem 18.&nbsp;Jahrhundert untrennbar mit dieser Schöpfung verbunden, die aber auch in der übrigen Welt deutliche Spuren hinterlassen hat. Die ursprünglichen Ziele der Kodifikation mussten im 20.&nbsp;Jahrhundert korrigiert werden, doch wird sie auch im 21.&nbsp;Jahrhundert ein bewährtes Werkzeug der Rechtstechnik bleiben.<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Franz Wieacker'', Aufstieg, Blüte und Krisis der Kodifikationsidee, in: Festschrift für Gustav Boehmer, 1954, 34&nbsp;ff.; ''Helmut Coing'', An Intellectual History of European Codification in the Eighteenth and Nineteenth Centuries, in: Samuel S. Stoljar, (Hg.), Problems of Codification, 1977, 16&nbsp;ff.; ''Karsten Schmidt'', Die Zukunft der Kodifikationsidee: Rechtsprechung, Wissenschaft und Gesetzgebung vor den Gesetzeswerken des geltenden Rechts, 1985; ''Hein Kötz'', Taking Civil Codes Less Seriously, Modern&nbsp;Law Review 50 (1987) 1&nbsp;ff.; ''Shael Herman'','' ''Schicksal und Zukunft der Kodifikationsidee in Amerika, in: Reinhard Zimmermann (Hg.), Amerikanische Rechtskultur und europäisches Privatrecht, 1995, 45&nbsp;ff.;'' Reinhard Zimmermann'', Codification: History and Present Significance of an Idea, European Review of Private Law 3 (1995) 95&nbsp;ff.;'' Bruno Oppetit'', Essai sur la codification, 1998;'' Natalino Irti'', L’eta della decodificazione, 4.&nbsp;Aufl. 1999; ''Pio Caroni'', Gesetz und Gesetzbuch: Beiträge zu einer Kodifikationsgeschichte, 2003; ''Johannes H.A.Lokin'', ''Willem&nbsp;J. Zwalve'', Hoofdstukken uit de Europese Codificatiegeschiedenis, 3.&nbsp;Aufl. 2006.'' ''<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Codification]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Codice_civile&diff=1663Codice civile2021-09-08T10:24:21Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Filippo Ranieri]]''<br />
== 1. Kodifikationsgeschichte ==<br />
Die heute noch geltende italienische Zivilrechtskodifikation ([[Kodifikation]]) wurde noch während des Zweiten Weltkriegs in Kraft gesetzt. Die Geschichte des Gesetzbuchs reicht jedoch etliche Jahrzehnte zurück. Mit der Zivilrechtskodifikation von 1865 für das damals neu errichtete ''Regno d’Italia'' hatte die Entwicklung der italienischen Privatrechtsgesetzgebung einen Stand erreicht, der für viele Jahrzehnte zunächst weitgehend unverändert bleiben sollte. Die Kodifikation von 1865 lehnte sich in Struktur, in Sprache und in rechtstechnischen Lösungen an das französische Recht an. Erst zum Ende des Ersten Weltkriegs kam es zu Ansätzen für eine umfassende Reform des italienischen Zivilrechts. Diese Gesetzgebungsarbeiten gingen zunächst auf eine private Initiative des berühmten Romanisten und Zivilrechtslehrers ''Vittorio Scialoja'' (1856-1933) zurück, dessen Eintreten für eine Rechtsvereinheitlichung zwischen Italien und Frankreich auf dem Gebiet des Vermögensrechts eine überaus günstige Aufnahme auch bei französischen Kollegen fand. Im Jahre 1917 bildeten sich zwei Kommissionen, welche – die erste in Frankreich unter dem Vorsitz von ''Ferdinand Larnaude'' (1853-1942), die andere in Italien unter der Leitung desselben ''Scialoja'' – ihre Beratungen aufnahmen und bereits 1920 die ersten Ergebnisse vorlegen konnten. Erst nach einigen Jahren, 1927, konnte die endgültige Fassung des Entwurfs einer Kodifikation des Obligationenrechts der Öffentlichkeit in italienischer und französischer Sprache vorgelegt werden. Das politische Klima war nun allerdings für eine solche Initiative nicht mehr günstig. Unabhängig davon waren vor allem in Italien inzwischen Vorarbeiten zu einer neuen, umfassenden Privatrechtskodifikation aufgenommen worden. Der italo-französische Obligationenrechtsentwurf fand jedoch eine europaweite Beachtung. In der Modernität seiner systematischen Anlage, in vielen neuartigen Vorschriften zum Bereicherungs- und zum Haftpflichtrecht beeinflusste er erheblich die zeitgenössische europäische Rechtswissenschaft und stellte für einige der damaligen Kodifikationsprojekte ein viel beachtetes Modell dar. Auch der italienische ''Codice civile'' von 1942 wurde von diesen Vorarbeiten erheblich beeinflusst.<br />
<br />
Die Arbeiten an dem italo-französischen Obligationenrechtsentwurf gesellen sich insoweit zu den zur selben Zeit in Italien ergriffenen Initiativen für eine umfassende Reform des geltenden Privatrechts. Der Vorschlag einer neuen Privatrechtskodifikation war bereits 1921 erhoben worden und bewog die Regierung 1923, eine Kommission einzuberufen „per gli opportuni emendamenti al Codice civile e per la compilazione e la pubblicazione di nuovi codici“. Von hier an nahmen die Arbeiten der Königlichen Kommission zur Reform des Zivilgesetzbuchs (1924-1931) ihren Anfang, die erst nach 18 Jahren mit der Verabschiedung der neuen Zivilrechtskodifikation ihr Ende fanden. Im Jahre 1936 lag bereits ein vollständiger Entwurf für eine neue Kodifikation des Handelsrechts vor. Die Kodifikationsarbeit nahm einen erneuten Aufschwung, als die damalige italienische Regierung den Justizminister ''Dino Grandi'' (1885-1988) persönlich mit dem Projekt befasste. Einzelne Kommissionen im Justizministerium nahmen die Arbeit auf (November 1939-April 1940). Erste, vollständige Entwürfe einzelner Bücher des geplanten Gesetzbuchs lagen bereits im Mai/Juni 1940 vor. In dieser Phase der Kodifikationsarbeit entstand der politische Druck, die Grundsätze des damals entstandenen faschistischen und korporatistischen Staates in das neue Gesetzbuch aufzunehmen. Aus dieser Zeit datiert auch die endgültige Entscheidung, auf ein selbständiges Handelsgesetzbuch zu verzichten und die gesamte handelsrechtliche Materie in einem Vierten Buch ''Delle obbligazioni'' und in einem Fünften Buch ''Del lavoro'' aufzulösen (September 1940). Die wissenschaftliche Debatte zur Vereinheitlichung des Zivil- und Handelsrechts nach dem Vorbild des [[schweizerisches Obligationenrecht|schweizerischen Obligationenrecht]]s von 1912, die ''Cesare Vivante'' (1855-1944) eingeleitet, und die als Protagonisten u.a. ''Mario Rotondi'' (1900-1984) und ''Alberto Asquini ''(1889-1972) gesehen hatte, fand damit ihren Abschluss. Von den damaligen Mitwirkenden sind hier vor allem die Professoren ''Filippo Vassalli ''(1885-1955) und ''Alberto Asquini'' zu nennen. Im Dezember 1940 wurde ein erster Entwurf des späteren Fünften Buches ''Del lavoro'' vorgelegt. Anfang 1941 war die letzte Fassung des späteren Dritten Buches ''Della proprietà'' und des späteren Sechsten Buches ''Della tutela dei diritti'' abgeschlossen. Das Vierte Buch zum Schuldrecht und zum Vertragsrecht wurde zwischen April und Juli 1941 endgültig redigiert. Maßgebenden Einfluss darauf nahm der damalige italienische Zivilrechtler ''Giuseppe Osti'' (1885-1963). Die einzelnen Bücher der neuen Kodifikation wurden nach ihrer endgültigen Redaktion einzeln veröffentlicht, wobei die Inkraftsetzung für einen späteren Zeitpunkt geplant war. In den darauf folgenden Monaten wurden dann die Übergangsbestimmungen und die ministerielle Begründung angefertigt, so dass es bereits im Frühjahr 1942 zur endgültigen Einführung der gesamten Kodifikation kommen konnte.<br />
<br />
== 2. Struktur und Inhalt ==<br />
Bereits in seiner äußeren Gliederung stellt der ''Codice civile'' von 1942 einen Kompromiss zwischen unterschiedlichen wissenschaftlichen und gesetzgeberischen Traditionen dar. Das alte it. Gesetzbuch von 1865 hatte noch, getreu der piemontesischen Rechtstradition, die Gliederung und die Stoffverteilung des französischen ''[[Code civil]]'' in allen Einzelheiten übernommen. In den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg fand in der italienischen Zivilrechtswissenschaft eine breite und sehr kontroverse Debatte darüber statt, ob und inwieweit das Vorbild des deutschen [[Bürgerliches Gesetzbuch|BGB]], und hier insbesondere dessen [[Allgemeiner Teil]] und dessen Rechtsgeschäftslehre, auch für die neue italienische Kodifikation übernommen werden sollte. Die damalige italienische Zivilistik war fast ausschließlich am Vorbild der deutschen Spätpandektistik orientiert. Es ist insoweit nicht erstaunlich, dass eine Mehrheit der damaligen universitären Welt sich für eine Kodifikation der Rechtsgeschäftslehre ([[Rechtsgeschäft]]) aussprach. Darin lag übrigens einer der wesentlichen Kritikpunkte, woran der italo-französische Entwurf von 1927 in Italien gescheitert war. Solche Stimmen konnten sich jedoch nicht durchsetzen. Über die spezifische Einflussnahme in der letzten Phase der Kodifikationsarbeiten fehlen noch signifikante rechtshistorische Untersuchungen. Maßgebend scheint jedoch vor allem die Skepsis des damaligen Ersten Präsidenten des italienischen Kassationshofes, ''Mariano d’Amelio'' (1871-1943), gewesen zu sein. Wie im schweizerischen OR von 1912 steht also der Vertrag und nicht die rechtsgeschäftliche Willenserklärung im Zentrum der neuen Kodifikation.<br />
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Das neue Gesetzbuch übernimmt bereits in seiner Gliederung einige Elemente aus dem französischen Vorbild. So kennt man wiederum einen Vorspann ''Delle preleggi'', wo allgemeine Auslegungsgrundsätze verankert sind. Die Gliederung der ersten drei Bücher ist eher traditionell. Das Erste Buch ''Delle persone e della famiglia'' (Art.&nbsp;1-455) hat die Normen zur Rechts- und [[Geschäftsfähigkeit]], zu den Rechten der natürlichen und der juristischen Personen und zum gesamten Familienrecht ([[Familie]]) zum Inhalt. Das Zweite Buch ''Delle successioni'' (Art.&nbsp;456-809) enthält die Regelung der gesetzlichen und testamentarischen [[Erbfolge]] sowie die Bestimmungen zum Schenkungsvertrag. Das Dritte Buch endlich, ''Della proprietà'' (Art.&nbsp;810-1172), enthält die Normen zum [[Eigentum]] und zu den sonstigen Sachenrechten. In den darauf folgenden Teilen entfernt sich das Gesetzbuch vom französischen Modell. So umfasst das Vierte Buch, ''Delle obbligazioni'' (Art.&nbsp;1173-2059), das gesamte Schuldrecht. Das Buch beginnt mit allgemeinen Bestimmungen über die Schuldverhältnisse (Art.&nbsp;1173-1320). Es folgt die Regelung des allgemeinen Vertragsrechts (Art.&nbsp;1321-1469). Den Einzelverträgen sind die Art.&nbsp;1470-1986 gewidmet. Einzelne Normen gelten ferner den einseitigen [[Versprechen]] (Titel&nbsp;IV. ''Delle promesse unilaterali'', Art.&nbsp;1987-1991), den Wertpapieren (Titel&nbsp;V, Art.&nbsp;1992-2027), der [[Geschäftsführung ohne Auftrag (negotiorum gestio)|Geschäftsführung ohne Auftrag ''(negotiorum gestio)'']] (Art.&nbsp;2028-2032), der [[Leistungskondiktion]] (Titel&nbsp;VII. ''Del pagamento dell’indebito'', Art.&nbsp;2033-2040) und dem Recht der ungerechtfertigten Bereicherung ([[Bereicherungsrecht]]) (Art.&nbsp;2041-2042). Das Buch wird mit dem Recht der unerlaubten Handlungen ([[Deliktsrecht: Allgemeines und lex Aquilia|Deliktsrecht]]) abgeschlossen (Tit.&nbsp;IX. ''Dei fatti illeciti'', Art.&nbsp;2043-2059). Völlig neu im Verhältnis zur bisherigen Tradition ist das Fünfte Buch ''Del lavoro''. Darin wurde neben dem Arbeitsrecht das bisherige [[Handelsrecht]] eingeordnet. Erwähnt seien die Titel&nbsp;II-IV (Art.&nbsp;2082-2246), die dem Arbeitsrecht gewidmet sind. Eine zentrale Stellung nimmt ebenso das [[Gesellschaftsrecht]] ein (Titel&nbsp;V ''Delle società'', Art.&nbsp;2247-2510) und die darauf folgenden Normen, die den einzelnen Formen von Unternehmensorganisation gewidmet sind. Das Unternehmen wird insbesondere im Titel&nbsp;VIII, ''Dell’azienda'' (Art. 2555-2574) behandelt. Normen zum gewerblichen Rechtsschutz (Titel&nbsp;IX, Art. 2575-2594), zum Wettbewerbsrecht und zu Unternehmensgruppen schließen das Buch (Art. 2595-2642) ab. Wie oben erwähnt, wurde im Vierten und Fünften Buch der gesamte Inhalt des bereits fertiggestellten Entwurfes einer neuen Handelsrechtskodifikation verteilt. Lösungen handelsrechtlicher Provenienz, etwa zum Vertragsschluss oder zur [[Rügeobliegenheit]] im Kaufrecht, wurden dabei in das allgemeine Vertragsrecht übernommen. Das letzte, Sechste Buch, ''Della tutela dei diritti'', enthält schließlich Normen in der Tradition des alten Gesetzbuchs von 1865. So wird hier die Eintragung im Immobiliarregister, ''Della transcrizione'' (Titel&nbsp;I, Art. 2643-2696) und das Recht der Beweise (Titel&nbsp;II, Art.&nbsp;2697-2739), das, der französischen Tradition gemäß, im Zivilgesetzbuch und nicht im ''Codice di procedura civile'' geregelt wird, behandelt. Titel&nbsp;III, ''Della responsabilità patrimoniale'', ist den dinglichen Sicherungsrechten und der Zwangsvollstreckung gewidmet. Ein letzter Titel&nbsp;V, ''Della prescrizione'' (Art.&nbsp;2934-2969), regelt schließlich das Recht der [[Verjährung]].<br />
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== 3. Teilreformen und neue Gesetzgebung ==<br />
Bereits unmittelbar nach dem Zusammenbruch des faschistischen Regimes und in den Übergangsmonaten zwischen dem Ende der Monarchie und der Gründung der Republik im Juni 1946 begann in Italien eine z.T. erbittert geführte Diskussion zum vermeintlich faschistischen Charakter der neuen Zivilrechtskodifikation. Es fehlte auch nicht an Stimmen, die eine sofortige Abschaffung des neuen Gesetzbuchs verlangten. Im Ergebnis konnten sich diese Forderungen aber nicht durchsetzen. Die Mehrheit in Wissenschaft und Praxis begnügte sich mit einigen optischen und sprachlichen Veränderungen des Textes. Die Hinweise auf die korporatistische Wirtschafts- und Sozialordnung, die reichlich, vor allem in das Fünfte Buch, aufgenommen worden waren, wurden getilgt und meistens ersatzlos gestrichen. Sonst blieb die Kodifikation im Wesentlichen unangetastet weiter in Geltung. Erst Ende der 1950er Jahre beginnen durch den italienischen Gesetzgeber, aber auch immer wieder durch Entscheidungen der italienischen ''Corte costituzionale'', kleine und zunehmend breitere Eingriffe in die Substanz des Gesetzbuchs. So hat z.B. die Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichts etliche Normen des italienischen [[Erbrecht]]s als verfassungswidrig und für unanwendbar erklärt oder in deren Tragweite wesentlich beschränkt (siehe etwa ''Corte costituzionale'', 4.7.1979, Nr.&nbsp;55 und ''Corte costituzionale'', 12.4.1990, Nr.&nbsp;184 zum Erbrecht unehelicher Kinder). Verfassungsgerichtliche Entscheidungen betreffen auch zahlreiche weitere Normen, etwa auf dem Gebiet des Arbeitsvertrages (''Corte costituzionale'', 17.2.1969, Nr.&nbsp;16; ''Corte costituzionale'', 4.5.1972, Nr.&nbsp;85) oder der Haftung aus unerlaubten Handlungen (''Corte costituzionale'', 29.12.1972, Nr.&nbsp;205).<br />
<br />
In den letzten drei Jahrzehnten hat sich neben der Kodifikation eine z.T. unübersehbare Einzelgesetzgebung entwickelt, die der Einheitlichkeit und Durchsichtigkeit des italienischen Privatrechts keinesfalls förderlich ist. Die gesamte Materie des Familien-, Ehe- und Erbrechts wurde im Jahre 1975 grundlegend neu geregelt (Gesetz vom 19.5.1975, Nr.&nbsp;151). Wesentliche Teile der ursprünglichen Fassung des Ersten und des Zweiten Buches wurden dabei geändert. Erwähnt seien ferner das Gesetz vom 21.4.1983, Nr.&nbsp;123, mit einer neuen Regelung über den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit sowie das Gesetz vom 25.3.1985, Nr.&nbsp;121, das Ergänzungen und Änderungen zur bisherigen Regelung der Konkordatsehe einführt. Im Jahre 1970 (Gesetz vom 1.12.1970, Nr.&nbsp;898) wurde auch im italienischen Recht die Ehescheidung ([[Scheidung]]) eingeführt. Dreizehn Jahre später wurde die Regelung im Titel&nbsp;VIII des Ersten Buches zum Recht der [[Adoption]] neu gefasst (Gesetz vom 4.5.1983, Nr.&nbsp;184). Eine umfangreiche Gesetzgebung wurde zwischen den 1970er und den 1980er Jahren auf dem Gebiet des Baurechts, des Immobiliareigentums und nicht zuletzt des Wohnungsmietrechts erlassen. Gerade diesbezüglich existierte bis Anfang der 1990er Jahre eine immense, sich z.T. überschneidende und schwer zu durchschauende Spezialgesetzgebung. Ebenso umfangreich waren die Eingriffe im Fünften Buch ''Del lavoro''. Unzählige Normen sind in den 1970er und 1980er Jahren auf dem Gebiet des Individualarbeitsrechts erlassen worden. Unter deren Berücksichtigung kann ein Teil der kodifizierten Regelung des Arbeitsvertrages heute eher als obsolet angesehen werden. Zuletzt sei hier die grundlegende Reform des Gesellschaftsrechts im Jahre 2002 erwähnt.<br />
<br />
Seit Ende der 1980er Jahre kam es zu weiteren beträchtlichen gesetzgeberischen Eingriffen durch die Umsetzung der zahlreichen [[Richtlinie]]n auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes ([[Verbraucher und Verbraucherschutz]]). Den Anfang machte hier das Gesetzesdekret vom 24.5.1988, Nr.&nbsp;224, zur Umsetzung der Produkthaftungs-RL (RL&nbsp;85/374; [[Produkthaftung]]). Der italienische Gesetzgeber wählte damals den Weg der Sondergesetzgebung. Nahezu alle Richtlinien wurden zunächst in Einzelgesetzen umgesetzt. Die Klausel-RL (RL&nbsp;93/13) und die Verbrauchsgüterkauf-RL (RL&nbsp;1999/44, [[Verbrauchsgüterkauf]]) wurden dagegen in die Kodifikation inkorporiert durch Einfügung von neuen Artikeln in das Gefüge des alten Textes. Von einer solchen gesetzgeberischen Strategie hat sich der italienische Gesetzgeber zwischenzeitlich allerdings verabschiedet. Sämtliche aufgrund der Umsetzungsgesetzgebung im ''Codice civile'' eingefügten neuen verbraucherrechtlichen Normen sind neuerdings in einer getrennten Kodifikation des Verbraucherschutzrechts systematisch neu zusammengestellt worden. Der ''Codice del consumo'' wurde durch Gesetzesdekret Nr.&nbsp;206 im Jahre 2005 verabschiedet und ergänzt seitdem das Zivilgesetzbuch. Auf dem Gebiet des Vertragsrechts waren die Eingriffe in den Text der Kodifikation von 1942 weniger zahlreich, dennoch nicht weniger bedeutsam. Erwähnt sei hier etwa eine wesentliche Reform auf dem Gebiet des Bürgschaftsvertrages; im Jahre 1992 hat, nach ausländischen Vorbildern, der italienische Gesetzgeber Art.&nbsp;1938 novelliert und verändert.<br />
<br />
== 4. Rechtstechnischer Standort ==<br />
Trotz des großen Einflusses der deutschen Zivilrechtswissenschaft im damaligen italienischen Schrifttum blieb die neue Kodifikation von 1942 im Wesentlichen der nationalen italienischen Tradition der Nähe zum französischen Recht treu. Wie bereits erwähnt, verzichtete der italienische Gesetzgeber auf einen [[Allgemeiner Teil|Allgemeinen Teil]]. Das Wort ''negozio giuridico'' ([[Rechtsgeschäft]]), worüber eine unüberschaubare italienische Literatur existiert, gehört nicht zum Sprachschatz des Gesetzbuchs. Geregelt werden nur der Vertrag und sein Abschluss (Art.&nbsp;1321&nbsp;ff.) ([[Vertragsschluss]]). Die Lehre der Willenserklärung erfährt dagegen keine spezifische gesetzgeberische Normierung. Gemäß dem Vorbild des schweizerischen Rechts (Art.&nbsp;7 OR) werden die Normen zum Vertrag auch hinsichtlich der einseitigen Willenserklärungen für anwendbar erklärt (Art.&nbsp;1334 und Art.&nbsp;1324). Die Nähe zum französischen Vorbild wird auch optisch sichtbar, wenn man Art.&nbsp;1325 zu den ''requisiti del contratto'' betrachtet. Hier erscheinen weiterhin die ''causa del contratto'' und der ''oggetto del contratto'', so dass die historische Verbindungslinie zu Art.&nbsp;1108 ''Code civil'' noch sichtbar ist. Die Nähe zur Tradition erkennt man auch bei Art.&nbsp;1328, wonach die Vertragsofferte bis zum Abschluss des Vertrages widerruflich ist. Ein Widerruf zur Unzeit verpflichtet allerdings zum Ersatz des Negativinteresses. Neu aus der Perspektive der damaligen Zeit sind die Kodifikation der Lehre der Haftung aus ''[[Culpa in Contrahendo|culpa in contrahendo]]'' (Art.&nbsp;1337-1338) sowie zwei Bestimmungen (Art.&nbsp;1341-1342) zum Abschluss des Vertrages durch [[Allgemeine Geschäftsbedingungen]] und Formularverträge. Die kodifikatorische Regelung beschränkt sich allerdings hier auf eine rein formale Einbeziehungskontrolle und ignoriert das Problem der Inhaltskontrolle. Die spätere verbraucherrechtliche Gesetzgebung zu den missbräuchlichen Klauseln bei Verbraucherverträgen hat insoweit die Kodifikation von 1942 wesentlich überholt.<br />
<br />
Das Recht der Leistungsstörungen nimmt eine mittlere Sonderstellung zwischen der französischen und der deutschen Rechtstradition ein. Die italienische Zivilrechtskodifikation von 1865 hatte hier die französische Regelung nicht wörtlich übernommen. Eine wesentliche Neuerung tritt im italienischen Recht auch hier mit der Ende des 19.&nbsp;Jahrhunderts beginnenden systematischen Rezeption der damaligen deutschen Doktrin ein. Grundlegende Bedeutung kam vor allem einer Abhandlung von ''Osti'' aus dem Jahre 1918 zu, in der die pandektistische Lehre der Unmöglichkeit der Leistung, wie sie dem deutschen [[Bürgerliches Gesetzbuch|BGB]] von 1900 zugrunde liegt, für das italienische Recht fruchtbar gemacht wurde. Diese Konzeption der vertraglichen Haftung, die sich auch die damalige italienische Judikatur zu Eigen machte, hat den italienischen ''Codice civile'' von 1942 wesentlich geprägt. ''Osti'' nahm, wie bereits erwähnt, auch an den damaligen Beratungen teil. Auch auf dem Gebiet des Rechts der unerlaubten Handlungen hat sich der italienische Gesetzgeber von 1942 nicht am Vorbild des deutschen BGB orientiert. Maßgebendes Vorbild scheint hier vielmehr das [[Schweizerisches Obligationenrecht|schweizerische OR]] (Art.&nbsp;41) gewesen zu sein. Die Formulierung des Art.&nbsp;2043 als deliktische Generalklausel gleicht Art.&nbsp;1382 ''Code civil''. Im alten italienischen Zivilgesetzbuch von 1865 stellte Art.&nbsp;1151 noch eine wörtliche Übersetzung der französischen Norm dar. Der italienische Gesetzgeber von 1942 hat in Art.&nbsp;2043 ''Codice civile'' den wesentlichen Zusatz angefügt: Der Schaden muss ''ingiusto'' sein. Damit hat der Bezug zur Rechtswidrigkeit des Schadens Eingang in das italienische Haftungsrecht gefunden. Bezeichnenderweise haben die italienische Doktrin und die italienische Rechtsprechung allerdings bis vor einigen Jahrzehnten dieses Tatbestandsmerkmal – nach dem Vorbild von §&nbsp;823 Abs.&nbsp;1 BGB – als gesetzliche Anerkennung eines ''numerus clausus'' von deliktisch geschützten absoluten Rechtspositionen angesehen. Erst seit etwa drei Jahrzehnten wurde diese enge Auslegung von der italienischen Judikatur aufgegeben. Diese erkennt heute, in einem möglicherweise bedenklichen Umfang, die Ersatzfähigkeit auch von reinen Vermögensschäden an ([[Deliktsrecht: Allgemeines und lex Aquilia|Deliktsrecht]]). Ebenso wie das deutsche BGB und die Tradition der deutschen Pandektistik ([[Pandektensystem]]) beschränkt die Kodifikation von 1942 den Ersatz von [[Immaterieller Schaden (Nichtvermögensschaden)|immateriellen Schäden]] stark (Art.&nbsp;2059). Unter dem Druck der Praxis der Untergerichte und nicht zuletzt im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung des Deliktsrechts hat der italienische Kassationshof in den letzten Jahren allerdings diese engen Schranken gesprengt. Rein immaterielle Schäden werden heute im Rahmen des sog. ''danno biologico'' sowie des ''danno esistenziale'' in einem weiten Umfang anerkannt. Gemäß dem Vorbild von Art.&nbsp;58 des schweizerischen Obligationenrechts und Art. 1384 des französischen ''Code civil'' kennt die Kodifikation von 1942 ferner auch generalklauselartige Normen zu einer verschuldensunabhängigen Haftung für Sachgefahren (Art. 2050) und für die Ausübung von gefährlichen Tätigkeiten (Art.&nbsp;2051). Eine weitere Bestätigung der engen Verbindung der italienischen Zivilrechtskodifikation zum französischen ''Code civil'' stellt die Regelung der [[Eigentumsübertragung (beweglicher Sachen)]] dar. Der italienische Gesetzgeber von 1942 hat hier nämlich das Konsensualprinzip kodifiziert. Dies galt bereits für das alte Gesetzbuch von 1865 (Art.&nbsp;710 und Art.&nbsp;1125). Hier entschied sich der Gesetzgeber bewusst für die Beibehaltung der traditionellen Lösungen (Art.&nbsp;922 und Art.&nbsp;1376) zum sog. ''contratto con effetti reali''. Dasselbe gilt für die Übertragung des Immobiliareigentums. Auch hier entschied sich der Gesetzgeber für die Beibehaltung des französischen Systems der ''trascrizione'' (Art.&nbsp;2643-2681).<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Raffaele Teti'', Codice civile e regime fascista: Sull’unificazione del diritto privato, 1990; ''Michele Sesta'' (Hg.), Per i cinquant’anni del codice civile, Bde.&nbsp;I-II, 1993; ''Giorgio Cian'', 50 Jahre italienischer codice civile, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 1 (1993) 120&nbsp;ff.; ''Raffaele Teti'', Documenti d’archivio sul Libro I. del codice civile, Rivista di diritto civile 1998, I, 355&nbsp;ff.; ''Christian Resch'', Das italienische Privatrecht im Spannungsfeld von Code civil und BGB am Beispiel der Entwicklung des Leistungsstörungsrechts, 2001; ''Gian Battista Ferri'', Filippo Vassalli o il diritto civile come opera d’arte, 2002; ''Nicola Rondinone'', Storia inedita della codificazione civile, 2003; ''Guido Alpa'', Le code civil et l’Italie, Revue internationale de droit comparé 2005, 571&nbsp;ff.; ''Guido Alpa'', Tradition and Europeanization in Italian law, 2005; ''Guido Alpa'', ''Vincenzo Zeno-Zencovich'', Italian Private Law, 2007; ''Peter Kindler'', Einführung in das italienische Recht, 2.&nbsp;Aufl. 2008; ''Filippo Ranieri'', Europäisches Obligationenrecht, 3. Aufl. 2009, 54; 276&nbsp;ff.; 333&nbsp;ff.; 498&nbsp;ff.; 701&nbsp;ff.; 1381&nbsp;ff.; 1442&nbsp;ff.; 1604&nbsp;ff., 1666&nbsp;ff.; 1709&nbsp;ff.<br />
<br />
==Quellen==<br />
Die offizielle Textfassung des ''Codice civile'' von 1942 findet sich im Regio decreto 16.3.1942, Nr. 262; Gazzetta ufficiale Nr. 79, 4.4.1942; im Internet findet sich die aktuelle Fassung unter http://www.altalex.com/index.php?idnot=34794; eine deutsche Übersetzung liefern ''Salvatore Patti'' (Hg.), Italienisches Zivilgesetzbuch: Codice civile italiano, 2007; ''Bernhard Ecker'', ''Bernhard König'', ''Max W. Bauer'' (Hg.), Italienisches Zivilgesetzbuch: Codice civile, 2004; eine englische Übersetzung liefern ''Susanna Beltramo'', ''Giovanni E. Longo'', ''John Harry Merryman'' (Hg.), The Italian Civil Code and Complementary Legislation, 1991. Die Gesetzesmaterialien finden sich etwa bei ''G. Marghieri'', ''A. Perrotti'' (Hg.), Codice civile del regno d’Italia. Preceduto dalla relazione al re del ministro guardasigilli, 1865; Disposizioni per l’attuazione del libro primo del Codice civile e disposizioni transitorie: con la relazione ministeriale a Sua Maestà il Re Imperatore, Roma, 1939; Disposizioni per l’attuazione del libro del Codice civile “delle successioni per causa di morte e delle donazioni” e disposizioni transitorie, con la relazione ministeriale a Sua Maestà il Re Imperatore, 1940; Disposizioni per l’attuazione del libro del Codice civile “della proprietà” e disposizioni transitorie, con la relazione ministeriale alla Maestà del Re Imperatore, 1942; Codice civile: libro delle obbligazioni, con la relazione ministeriale alla Maestà del Re Imperatore, ind. sommario e analitico, 1941; Codice civile: libro delle obbligazioni, disposizioni per l’attuazione del libro del codice civile “delle obbligazioni” e disposizioni transitorie, con la relazione ministeriale alla Maestà del Re Imperatore, 1942; Codice civile: libro del lavoro, con la relazione ministeriale alla Maestà del Re Imperatore, indice sommario e analitico, 1941; Codice civile: libro della tutela dei diritti, con la relazione ministeriale alla Maestà del Re Imperatore, indice sommario e analitico, 1941.<br />
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[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Codice_Civile]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Code_unique&diff=1661Code unique2021-09-08T10:23:47Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Jan Peter Schmidt]]''<br />
== 1. Begriff ==<br />
Der Begriff des ''Code unique'' bezeichnet ein Zivilgesetzbuch, das jedenfalls in weitgehendem Umfang auch das [[Handelsrecht]] regelt und neben dem deshalb kein eigenständiges Handelsgesetzbuch existiert. Bekannteste Beispiele sind das [[Schweizerisches Zivilgesetzbuch|schweizerische ZGB]] (1911) und der italienische ''[[Codice civile]]'' (1942). Daneben weisen u.a. auch das [[polnisches Zivilgesetzbuch|polnische Zivilgesetzbuch]] (1964), das niederländische ''[[Burgerlijk Wetboek]]'' (1992) und das [[russisches Zivilgesetzbuch|russische Zivilgesetzbuch]] (1996) die Merkmale eines ''Code unique'' auf. Das legislatorische Gegenmodell zum ''Code unique'' besteht in einem Dualismus von Zivil- und Handelsrechtskodifikation, wie er etwa in Frankreich, Deutschland, Österreich, Spanien und Portugal seit langer Zeit anzutreffen ist.<br />
<br />
Wichtig ist die Klarstellung, dass die Schaffung eines ''Code unique'' nur den Verzicht auf ein Handels''gesetzbuch'' bedeutet, nicht aber einen Verzicht auf handelsrechtliche Vorschriften (etwa zum Schuld-, Register- oder Gesellschaftsrecht). Diese können sich sowohl in- als auch außerhalb eines ''Code unique'' befinden. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Existenz eines ''Code unique'' nicht die Frage präjudiziert, ob und inwieweit das Handelsrecht den Rang einer eigenständigen Disziplin in Wissenschaft und Lehre beanspruchen kann. In den Ländern der kontinentaleuropäischen Tradition, gleich ob mit ''Code unique'' oder Handelsgesetzbuch, konnte sich das Handelsrecht trotz kritischer Gegenstimmen bis in die Gegenwart hinein eine solche Autonomie bewahren, die in ihrem Grad allerdings variiert. Hierin zeigt sich ein interessanter Unterschied zum Rechtskreis des ''[[common law]]'': Obwohl auch dieser zahlreiche Sonderregeln für den professionellen Wirtschaftsverkehr kennt, hat sich in ihm niemals eine eigenständige Handelsrechtswissenschaft entwickelt. Ein wichtiger Grund hierfür liegt in dem Umstand, dass das dem mittelalterlichen Handelsrecht des Kontinents vergleichbare ''law merchant'' bereits im 18.&nbsp;Jahrhundert in das ''common law'' integriert wurde und damit seine Eigenständigkeit schon früh verlor.<br />
<br />
== 2. Der historische Ursprung des Handelsrechts als Grund für die Existenz der Handelsgesetzbücher ==<br />
Die Existenz der Handelsgesetzbücher ist in erster Linie historisch zu erklären. Dem [[römisches Recht|römischen Recht]] als Kategorie unbekannt, bildete sich das Handelsrecht im Hochmittelalter als grenzüberschreitendes Standesrecht der Kaufleute heraus (''[[Lex Mercatoria|lex mercatoria]]''). Erst spät geriet es unter den Einfluss der nationalen Rechtsordnungen. Umfassend aufgezeichnet wurde das Handelsrecht zuerst in Frankreich, in Form der ''Ordonnances de Commerce'' (1673) und der ''Ordonnances de la Marine'' (1681) (''[[Ordonnances]]''), die manchmal auch als die ersten Handelsgesetzbücher bezeichnet werden. Als die europäischen Staaten Ende des 18.&nbsp;Jahrhunderts begannen, ihr Privatrecht zu kodifizieren ([[Kodifikation]]), standen sie vor der Frage, ob davon auch das Handelsrecht umfasst werden sollte. In das [[Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten|Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten]] (1794) wurde es formal integriert, behielt aber seinen Charakter als Standesrecht bei. Den Verfassern des ''[[Code civil]] ''(1804) hingegen erschien es natürlich, das Handelsrecht entsprechend seiner historisch bedingten Sonderstellung in einer eigenen Kodifikation niederzulegen. Der hierzu erlassene ''[[Code de Commerce]] ''(1807) war in der Folge Vorbild für die eigenständige Kodifizierung des Handelsrechts in vielen anderen Staaten Europas, so u.a. in Griechenland (1828), Spanien (1829), Portugal (1833) und Italien (1865). Daneben übte der ''Code de commerce'' als gesetzgeberisches Modell auch auf die lateinamerikanischen Rechtsordnungen großen Einfluss aus ([[Ausstrahlung des europäischen Privatrechts in lateinamerikanische Rechtsordnungen]]). In Deutschland war die Schaffung eines Handelsgesetzbuches in Form des [[Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch|ADHGB]] (1861) vor allem wirtschaftlich motiviert: Die für den Handel relevanten Rechtsbereiche sollten national vereinheitlicht werden. Als bei Erarbeitung des [[Bürgerliches Gesetzbuch|BGB]] die Frage nach der Zukunft der Handelsrechtskodifikation aufkam, lehnte bereits die Vorkommission die im Schrifttum vereinzelt vorgebrachten Vereinheitlichungsideen ab und verwies auf die historische Sonderrolle des Handelsrechts.<br />
<br />
== 3. Die Gründe für die Schaffung eines ''Code unique'' in der Schweiz und in Italien ==<br />
Auch die Einheitslösungen des [[Schweizerisches Zivilgesetzbuch|schweizerischen ZGB]] und des italienischen ''[[Codice civile]]'', die weltweite Ausstrahlungswirkung entfaltet haben, sind in erheblichem Maße durch die historischen Umstände beeinflusst worden: Nach seiner Gründung im Jahr 1848 besaß der schweizerische Bundesstaat zunächst noch keine Kompetenz zum Erlass eines Zivilgesetzbuches. Als der Handel auf eine einheitliche Regelung seiner Verhältnisse drängte, wurde deshalb – ähnlich wie wenige Jahre später in Deutschland ([[Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch||ADHGB]]) – die Schaffung eines gesamtschweizerischen Handelsgesetzbuches angestrebt. Da allerdings auch das allgemeine Schuldrecht der Kantone zu diesem Zeitpunkt noch sehr unterschiedlich war, hielt man dessen Vereinheitlichung ebenfalls für erforderlich. So entstand die Idee, ein Schuldrechtsgesetzbuch zu schaffen, das auch das Handelsrecht umfasste. Das 1881 verabschiedete [[schweizerisches Obligationenrecht|schweizerische Obligationenrecht]] unterschied nicht mehr grundsätzlich zwischen zivil- und handelsrechtlichen Schuldverhältnissen, sondern sah nur einzelne Sonderregeln für Verträge zwischen Kaufleuten vor (etwa erleichterte Möglichkeiten des Rücktritts oder der Schadensberechnung im Falle der Nichterfüllung). Daneben enthielt es auch rein handelsrechtliche Materien wie das Firmen-, das Register- und das Gesellschaftsrecht. Diese Merkmale wurden beibehalten, als das Obligationenrecht im Jahr 1912 als fünftes Buch an das [[Schweizerisches Zivilgesetzbuch|schweizerische ZGB]] angegliedert wurde. Wichtig ist der Hinweis, dass die schweizerische Einheitslösung von Beginn an auch sachlich begründet worden war: Das „Schweizervolk“, so hieß es, sei aufgrund seiner „demokratische Gesinnung“ jeder Sonderstellung eines Berufsstands „entschieden abgeneigt“; ferner wurde auf „die wohl in keinem anderen Land Europas in so hohem Grade durch alle Schichten der Gesellschaft verbreitete Schulbildung und geschäftliche Begabung“ verwiesen (Botschaft des Bundesrats vom 27.11.1879). Auf der rechtstechnischen Ebene führte der Verfasser des Entwurfs für das Obligationenrecht, ''Walther Munzinger'', das Argument an, dass handels- und zivilrechtliche Schuldverhältnisse nur schwierig von einander abgegrenzt werden könnten und die Einheitslösung deshalb einfacher sei und zu mehr Rechtssicherheit führe.<br />
<br />
Anders war die Ausgangssituation in Italien: Dort bestand seit 1865 ein Dualismus von Zivil- und Handelsgesetzbuch, über dessen Zweckmäßigkeit in den folgenden Jahrzehnten eine intensive Debatte geführt wurde. Die Vereinigung der zivil- und handelsrechtlichen Schuldverhältnisse wurde nachdrücklich von ''Cesare Vivante'' vertreten in seiner berühmten Einführung zur Vorlesungsreihe über das Handelsrecht an der Universität Bologna im Jahr 1888. Als nach dem Ersten Weltkrieg Unternehmungen zur Reform des Handelsgesetzbuches begonnen wurden, plädierten ''Vivante'' und andere Gelehrte unter Hinweis auf die Besonderheiten des Handelsrechts dann aber doch für die Beibehaltung der dualen Lösung. Eine andere Strömung, die von ''Mario Rotondi'' angeführt wurde, setzte sich hingegen im Rahmen der anstehenden Reform des Zivilrechts (''[[Codice civile]]'') für die Schaffung einer Einheitskodifikation ein. Sie bezeichnete die Existenz des Handelsgesetzbuches als historische Zufälligkeit und argumentierte, dass kein zuverlässiges Kriterium bestehe, Handels- und allgemeines Zivilrecht von einander abzugrenzen. Zur allgemeinen Überraschung ließ sich die faschistische Regierung von diesen Argumenten überzeugen. Sie führte zusätzlich noch eine politische Begründung an: Da das korporative Prinzip nun der gesamten Volkswirtschaft zugrunde liege, könne auch das Handelsrecht keine Sonderbehandlung mehr beanspruchen (kurios ist, dass einige Jahre früher dasselbe Argument noch ''für'' eine Sonderstellung des Handelsrechts vorgebracht worden war). Vermutet werden von einigen Stimmen aber auch wirtschaftliche Erwägungen als Grund für diese Entscheidung: Die nach wirtschaftlicher Autarkie strebende italienische Regierung sei darauf bedacht gewesen, eine Dynamisierung aller Wirtschaftszweige herbeizuführen.<br />
<br />
Das Ziel, ein umfassendes Privatrechtsgesetzbuch zu schaffen, fand seinen Ausdruck im 5.&nbsp;Buch des ''Codice civile'' mit dem etwas irreführenden Titel ''del lavoro'', in dem neben arbeitsrechtlichen Bestimmungen u.a. Vorschriften über den Unternehmer (''imprenditore''), das Registerrecht, das Gesellschaftsrecht, das Recht des geistigen Eigentums sowie das Wettbewerbs- und Kartellrecht niedergelegt wurden. Das Schuldrecht des ''Codice civile'' beruht weitgehend auf dem franko-italienischen Entwurf für ein Obligationenrecht von 1927. Ähnlich wie das schweizerische Obligationenrecht unterscheidet es nicht grundlegend zwischen zivilen und merkantilen Schuldverhältnissen, sondern sieht nur punktuelle Sondervorschriften für den unternehmerischen Verkehr vor (etwa den [[Vertragsschluss]] und die [[Auslegung von Verträgen]] betreffend).<br />
<br />
== 4. Der gegenwärtige Trend zum ''Code unique'' und die Gründe ==<br />
=== a) Neuere Zivilgesetzbücher und die Projekte zur internationalen Rechtsvereinheitlichung ===<br />
Die Zivilgesetzbücher neueren Datums lassen einen deutlichen Trend zum ''Code unique'' erkennen. Neben dem schon eingangs erwähnten ''Burgerlijk Wetboek ''(1992) und dem russischen Zivilgesetzbuch (1996) können auch die neuen Zivilgesetzbücher Paraguays (1985) und Brasiliens (2002) genannt werden ([[Ausstrahlung des europäischen Privatrechts in lateinamerikanische Rechtsordnungen]]). Auch im internationalen Schrifttum hat die Idee eines Einheitsgesetzbuches viele Anhänger gefunden. So gibt es in Deutschland und Österreich schon lange die Forderung, ''de lege ferenda'' wenigstens die schuldrechtlichen Vorschriften des HGB in das BGB/ABGB zu integrieren. Dass in Österreich im Rahmen der Umwandlung des HGB zum Unternehmensgesetzbuch (2005) der Abschnitt über die Handelsgeschäfte dann doch nur punktuell umgestaltet wurde, hatte seinen Grund darin, dass der gesetzgeberische Aufwand einer weiter gehenden Reform als zu groß erachtet worden war.<br />
<br />
Der Trend zur einheitlichen Behandlung von Zivil- und Handelsrecht lässt sich ferner auf der Ebene der internationalen Vereinheitlichung des Vertragsrechts beobachten. Schon das Haager Kaufrecht hatte, der Empfehlung ''Ernst Rabels'' folgend, die Unterscheidung zwischen Zivil- und Handelskauf bewusst aufgegeben. Dass das CISG ([[Warenkauf, internationaler (Einheitsrecht)]]) durch Art.&nbsp;2(a) in seiner Anwendung auf Handelskäufe beschränkt wurde, hatte seinen Grund darin, dass Konflikte mit den nationalen Verbraucherschutzgesetzen vermieden werden sollten. Auch die in der Präambel der [[UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts|UNIDROIT ''Principles of International Commercial Contracts'']] (UNIDROIT PICC) niedergelegte Selbstbeschränkung auf ''commercial contracts'' dient nur dazu, Verträge, an denen ein Verbraucher beteiligt ist, vom Anwendungsbereich auszunehmen. Die ''[[Principles of European Contract Law]]'' (PECL), die mit den UNIDROIT PICC inhaltlich sehr weitgehend übereinstimmen, haben hingegen gezielt von einer Beschränkung auf Handelsverträge abgesehen. Der Unterscheidung zwischen Zivil- und Handelsverträgen wird heute also nur noch geringe Bedeutung beigemessen. Stattdessen sind es die früher häufig unter dem Stichwort der „einseitigen Handelsgeschäfte“ diskutierten Verträge zwischen Unternehmern und Verbrauchern ([[Verbraucher und Verbraucherschutz]]), die inzwischen eine weitreichende Sonderbehandlung erfahren.<br />
<br />
=== b) Gründe für die Aufgabe der Unterscheidung zwischen Zivil- und Handelsschuldrecht ===<br />
Die grundsätzliche Gleichbehandlung von zivil- und handelsrechtlichen Schuldverhältnissen ist Ausdruck einer Entwicklung, die schon im 19.&nbsp;Jahrhundert erkannt und unter dem Schlagwort der „Kommerzialisierung des Zivilrechts“ diskutiert wurde. Damit ist gemeint, dass bestimmte Regeln und Rechtsinstitute, die sich zuerst im Handelsrecht herausgebildet hatten, um bestimmte handelsfeindliche Regelungen des geltenden Rechts zu überwinden, im Laufe der Jahrhunderte zunehmend in das zivile Schuldrecht eingesickert sind. Dies betrifft z.B. die Formfreiheit von Rechtsgeschäften, die auch im allgemeinen Zivilrecht mittlerweile der Grundsatz ist, oder den weitreichenden rechtsgeschäftlichen Vertrauensschutz. Das moderne Zivilrecht wird also den Interessen des Handelsverkehrs schon weitgehend gerecht. Im Übrigen kann auf diese auch ohne Schaffung von Sonderregelungen in vielfältiger Weise Rücksicht genommen werden: etwa über die Anerkennung von Handelsbräuchen, die Vertragsauslegung nach Treu und Glauben oder die Bestimmung handelsüblicher Sorgfaltsanforderungen. Auch das Wechselrecht und die traditionellen handelsrechtlichen Typenverträge (Kommission, Spedition etc.) brauchen in ihrem Anwendungsbereich nicht auf unternehmerisch tätige Rechtssubjekte beschränkt zu werden, denn zu privaten Zwecken handelnde Personen werden solche Geschäfte in der Regel nicht abschließen. Echte Sonderregeln für den Handelsverkehr werden deshalb nur noch in sehr beschränktem Maße für erforderlich gehalten. Als Beispiel aus dem deutschen Recht kann die [[Rügeobliegenheit]] bei Mängeln der Kaufsache in §&nbsp;377 HGB genannt werden. Solche Ausnahmeregeln werfen aber nicht nur die Frage nach ihrer sachlichen Rechtfertigung auf, sondern machen auch die Aufstellung eines formalen Abgrenzungskriteriums notwendig ([[Handelsrecht]]).<br />
<br />
Ein Argument, das früher häufig ''für'' ein Bedürfnis nach einem gesonderten Handelsschuldrecht vorgebracht wurde, dass nämlich das Handelsrecht dynamischer sei als das Zivilrecht und stärker nach internationaler Vereinheitlichung strebe, hat heute seine Überzeugungskraft weitgehend eingebüßt. Denn das „selbstgeschaffene Recht der Wirtschaft“ ''(Hans Großmann-Doerth)'' entwickelt sich ohnehin weitgehend außerhalb des geschriebenen (dispositiven) Handelsrechts. Eine in der Praxis viel größere Bedeutung kommt damit den Vorschriften des zwingenden Rechts zu, die aber im allgemeinen Zivilrecht angesiedelt sind. Auch der Trend des Handelsrechts zur internationalen Rechtsvereinheitlichung ist kein Argument für seine legislatorische Sonderstellung auf nationaler Ebene, sondern eher dagegen: Denn die Konventionen des Einheitsrechts lassen sich nur selten harmonisch in das nationale Recht integrieren und schaffen somit ein Sonderrecht für internationale Sachverhalte. Dieser Rechtszersplitterung sollte der Gesetzgeber auf nationaler Ebene dadurch entgegenwirken, dass nicht auch noch Zivil- und Handelsverträge jeweils eine eigenständige Behandlung erfahren.<br />
<br />
=== c) Die Auflösungstendenz der Handelsgesetzbücher und die Abschaffung der Handelsgerichtsbarkeit ===<br />
Ein anderer wichtiger Grund für den Trend zum ''Code unique'' liegt in der Auflösungstendenz der klassischen Handelsgesetzbücher. Von Beginn an waren diese weder streng systematisch noch vollständig, so dass sie nie als Kodifikationen im technischen Sinn ([[Kodifikation]]) gelten konnten. Im Laufe der Zeit haben viele ihrer Materien eine legislatorische Verselbständigung erfahren, etwa das Gesellschaftsrecht, das Insolvenzrecht oder das Transportrecht. Für die Handelsgesetzbücher ist somit ein stetig schrumpfender Bestand an Restmaterien zurückgeblieben (etwa die Definitionen von Kaufleuten bzw. Unternehmern, das Register- und das Firmenrecht), der kaum noch die Existenz eines eigenen Gesetzbuches rechtfertigt. Freilich ist auch nicht ohne Weiteres ein anderer geeigneter Platz für diese Regelungskomplexe zu finden. In einem Zivilgesetzbuch können sie schnell wie ein Fremdkörper wirken, da sie von ihrem Anwendungsbereich her ein Sonderrecht darstellen und mit den übrigen Materien wenig harmonieren. Auch der ''Code unique'' stellt in diesem Zusammenhang also keine Patentlösung dar.<br />
<br />
Der weitreichende Verlust der Eigenständigkeit, den das Handelsrecht seit dem 19.&nbsp;Jahrhunderts erlitten hat, spiegelt sich schließlich auch auf der prozessualen Ebene wider: Die Handelsgerichtsbarkeit ist in den meisten Rechtsordnungen inzwischen abgeschafft und durch besondere Kammern für Handelssachen an den ordentlichen Gerichten ersetzt worden. Eine eigene Handelsgerichtsbarkeit bringt – neben zusätzlichen Verwaltungskosten – immer das Problem mit sich, dass ihre Zuständigkeit in Abgrenzung zur ordentlichen Gerichtsbarkeit kaum trennscharf bestimmt werden kann und sie die Rechtsverfolgung somit unnötig zu erschweren droht.<br />
<br />
== 5. Ausblick ==<br />
Die historisch bedingte Unterscheidung von zivil- und handelsrechtlichen Schuldverhältnissen ist heute weitgehend überwunden. Es steht nicht zu erwarten, dass sie im Rahmen des europäischen Kodifikationsprozesses ([[Europäisches Zivilgesetzbuch]]) wieder an Bedeutung gewinnen wird. Die Beschränkung vieler Projekte der Rechtseinvereinheitlichung auf Verträge zwischen unternehmerisch tätigen Personen ist allein durch den Wunsch oder die Notwendigkeit bedingt, Verträge zwischen Unternehmern und Verbrauchern vom Anwendungsbereich auszunehmen. Auch die Zeit der nationalen Handelsgesetzbücher scheint vorbei zu sein. Ihr Fortbestehen verdanken sie vor allem dem Umstand, dass eine grundlegende gesetzliche Neustrukturierung der in ihnen verbliebenen Materien zu aufwändig wäre. Der ''Code unique'' erweist sich somit als zukunftsträchtiges Modell einer Zivilrechtskodifikation.<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Manuel Broseta Pont'', La empresa, la unificación del derecho de obligaciones y el derecho mercantil, 1965; ''Mario Rotondi'' (Hg.), Inchieste di Diritto Comparato, Bd.&nbsp;3, 1974; ''Wolfram Müller-Freienfels'', The Problem of Including Commercial Law and Family Law in a Civil Code, in: Samuel J. Stoljar (Hg.), Problems of Codification, 1977, 90&nbsp;ff.; ''Karsten Schmidt'', Das HGB und die Gegenwartsaufgaben des Handelsrechts: Die Handelsrechtskodifikation im Lichte der Praxis, 1983; ''Franz Bydlinski'', Handels- oder Unternehmensrecht als Sonderprivatrecht, 1990; ''Francesco Galgano'', Diritto civile e diritto commerciale, in: idem (Hg.), Atlante de diritto privato comparato, 3.&nbsp;Aufl. 1999, 35&nbsp;ff.;'' Andreas Heinemann'', Handelsrecht im System des Privatrechts, in: Festschrift für Wolfgang Fikentscher, 1998, 349&nbsp;ff.; ''Ulrich Magnus'', Die Gestalt eines europäischen Handelsgesetzbuches, in: Festschrift für Ulrich Drobnig, 1998, 57&nbsp;ff.; ''Martin Schauer'', Integration des Handels- und Unternehmensrechts in das ABGB, in: Constanze Fischer-Czermak, Gerhard Hopf, Martin Schauer (Hg.), Das ABGB auf dem Weg in das 3.&nbsp;Jahrtausend, 2003, 137&nbsp;ff.; ''Jan Peter Schmidt'', Zivilrechtskodifikation in Brasilien. Strukturfragen und Regelungsprobleme in historisch-vergleichender Perspektive, 2009, Kap.&nbsp;4.<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Code_Unique]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Code_de_Commerce&diff=1659Code de Commerce2021-09-08T10:21:52Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Gebhard Rehm]]''<br />
== 1. Geschichte und Bedeutung ==<br />
Der frz. ''Code de commerce'', erlassen ursprünglich 1807, sollte die Regelungen des ''[[Code civil]]'' für handelsrechtliche Sachverhalte ergänzen. Insbesondere sahen viele seine Bedeutung in der in ihm gewährten bzw. vorausgesetzten Handels- und Gewerbefreiheit als einer wesentlichen Errungenschaft der französischen Revolution neben Vertragsfreiheit und Eigentumsschutz. Der ''Code de Commerce'' steht jedoch inhaltlich stärker in der Tradition der ''Ordonnance du Commerce'' (sog. ''Code Marchand'' bzw. ''Code Savary'') (''[[Ordonnances]]'') von 1673, die erstmals das französische [[Handelsrecht]] auf Initiative von ''Jean-Baptiste Colbert'' im Einklang mit seinen merkantilistischen Prinzipien kodifiziert hatte. Die ursprüngliche Version des ''Code de Commerce'' vom 15.9.1807, in Kraft getreten am 1.1.1808, einer der sog. napoleonischen ''Grands Codes'' u.a. neben dem ''Code civil'', orientiert sich trotz der formalen Anpassung an den kurz zuvor erlassenen ''Code civil'' noch stark an diesem Vorbild. Der ''Code de Commerce'' stieß daher längst nicht auf die gleiche Begeisterung wie der ''Code civil''. Vor allem wurde seine aus dem ''Code Marchand'' übernommene Grundtendenz kritisiert, Handelsgewerbetreibende zu kontrollieren statt ihre unternehmerischen Freiheiten zu schützen und auszuweiten. Seine gesetzgeberische Qualität wurde über viele Jahrzehnte für allenfalls mittelmäßig gehalten, wenngleich sein Regelungsgebiet nicht den gleichen Anspruch auf revolutionäre Änderungen beanspruchen konnte wie der ''Code civil'' als „zivile Verfassung“. Dennoch beschränkte das Gesetz sich auf die Regelung von Einzelproblemen statt einer umfassenden Kodifikation – der Handelskauf wurde etwa in einer einzigen Vorschrift geregelt. Eine der wesentlichen Neuerungen des ''Code de Commerce'' war die erstmalige, wenngleich spärliche Regelung des Aktienrechts und der Kommanditgesellschaft auf Aktien, die allerdings in der Praxis des 18.&nbsp;Jahrhunderts bereits anerkannt waren. Anders als das deutsche HGB folgte das Gesetz einem objektiven, nicht einem subjektiven System, stellte für die Anwendbarkeit seiner Normen also entscheidend auf das Vorliegen eines Handelsgeschäfts (''acte de commerce'') statt auf die Beteiligung eines Kaufmanns (''commerçant'') ab. Es sollte vermieden werden, mit einer auf Kaufleute zugeschnittenen Gerichtsbarkeit den Eindruck der Einrichtung von Sondergerichten zu erwecken, die gerade erst durch die Revolution abgeschafft worden waren.<br />
<br />
== 2. Tendenzen der Rechtsentwicklung ==<br />
Im Gegensatz zum ''[[Code civil]]'' und den anderen napoleonischen Gesetzbüchern sind viele ursprüngliche Regelungsgegenstände des ''Code de Commerce'' durch die Entwicklung zahlreicher Rechtsgebiete und den Erlass zahlreicher Gesetze außerhalb des Gesetzbuches entwertet worden (sog. ''décodification''). So wurden die ursprünglichen Bestimmungen über die Handelsgerichte in die Zivilprozessordnung oder das Gerichtsverfahrensgesetz überführt, das Gesellschafts- und Insolvenzrecht zeitweise ausgegliedert. Bestehend aus zunächst 648 Artikeln in vier Büchern (Allgemeines Handelsrecht, das etwas eklektisch Vorschriften zu Kaufleuten, Gesellschaften, Handelsbüchern, Wechselrecht etc. zusammenfasste; Seehandelsrecht; Unternehmenskonkurs; Handelsgerichtsbarkeit) enthielt er zuletzt nur noch etwa 150 – weitestgehend zusammenhanglose und nur noch zu einem geringen Teil im ursprünglichen Gesetz enthaltene – Vorschriften. Das unübersichtliche Nebeneinander von Normen unterschiedlicher Rechtsqualität – ohnehin ein Problem des französischen Rechts – führte zu erheblicher Rechtsunsicherheit insbesondere im Gesellschafts- und Insolvenzrecht. Schon 1947 hatte der Gesetzgeber mit Einsetzung einer Reformkommission geplant, alle handelsrechtlichen Sondergesetze in ihn zu reintegrieren. Allerdings war diese selbst nicht recht davon überzeugt, dass ein eigenständiges Handelsgesetzbuch sinnvoll sei bzw. eine Kodifikation die entstandenen Probleme lösen könnte. 1993 begann der eigentliche Rekodifikationsprozess, der mit Verordnung vom 18.9.2000 (endgültig abgeschlossen 2007) das Handelsrecht in den ''Code de Commerce'' zurückführte. Die freilich erneut weithin methodisch, sprachlich und systematisch für misslungen erachtete Rekodifikation erfolgte im Wege der sog. ''codification'' ''à droit constant'' (Kodifikation bei gleichbleibendem Recht: der Wortlaut des Gesetzes wird geändert und frühere Gesetze werden aufgehoben, doch der Inhalt bleibt mit Ausnahme bereits implizit außer Kraft getretener oder verfassungswidriger Texte gleich, um das Recht zugänglicher und leichter erfassbar zu machen und ggf. redaktionell zu harmonisieren – grob vergleichbar der US-amerikanischen Technik des ''[[Restatements|Restatement]]''). Seitdem finden sich etwa auch das Wettbewerbsrecht, Lauterkeitsrecht, Insolvenzrecht und das Handelsverfahrensrecht (wieder) im ''Code de Commerce''. In der modernen Literatur wird der Begriff des Handelsrechts (''droit commercial'') daher mittlerweile von vielen Autoren für zu eng erachtet und die Bezeichnung des alle ökonomischen Aktivitäten erfassenden Rechtsgebiets als Wirtschaftsrecht (''droit des affaires'') vorgeschlagen. Gesetzgebungssprachlich hat sich diese Bezeichnung bislang nicht durchsetzen können. Für unglücklich halten viele auch, dass das Wirtschaftsrecht ohne erkennbaren legislativen Plan zwischen verschiedenen Ministerien (insbesondere dem Finanzministerium, Justizministerium, Industrieministerium, Verbraucherschutzministerium u.a.) und damit insbesondere zwischen dem ''Code de Commerce'' (Justizministerium) und dem in die Zuständigkeit des Finanzministeriums fallenden ''Code monétaire et financier'' zersplittert ist. Schließlich ist die Redaktion des Gesetzes durch die Neuordnung und &#8209;zusammenfügung der Vorschriften weit davon entfernt, inhaltlich lediglich Bekanntes neu zu formulieren. Sprachliche Fehler geschahen zuhauf und sind bis heute nicht vollständig ausgemerzt.<br />
<br />
== 3. Regelungssystematik ==<br />
Ähnlich dem deutschen HGB folgt der ''Code de Commerce'' heute nicht mehr einem rein objektiven System (Anknüpfung an bestimmte Rechtsgeschäfte). Er ist auch nicht zum subjektiven Kriterium (Anknüpfung an Personenqualität des Kaufmanns) übergegangen, sondern wählt gemischte Merkmale. Der ''Code de Commerce'' ist zum einen auf die Handelsgeschäfte (''actes de commerce'') des Kaufmanns (''commerçant'') anwendbar. Daneben gibt es zum zweiten Handelsgeschäfte kraft Form, die also stets als solche gelten, ohne dass ein Kaufmann beteiligt wäre (z.B. Wechsel). Auch das Unternehmensinsolvenzrecht ist ebenso unabhängig von der Kaufmannsqualität wie die Vorschriften für bestimmte Berufsgruppen, die sich im 8.&nbsp;Buch finden. Zum dritten enthält er Vorschriften zu zahlreichen Problemen, die nicht als spezifisch handelsrechtlich im Sinne eines auf Umsatzgeschäfte bezogenen und spezialisierten Rechts angesehen werden können. Diese verschwommene Systematik ist ebenfalls auf scharfe Kritik gestoßen.<br />
<br />
Die Handelsgeschäfte sind gemäß Art.&nbsp;L&nbsp;110-1 (ex-Art.&nbsp;632 ''Code de Commerce'') in drei Kategorien – allerdings lückenhaft (so fehlen etwa Transportgeschäfte) – aufgezählt/gegliedert: Neben Handelsgeschäften kraft Form wie Wechsel und Handelsgesellschaften kennt der ''Code de Commerce'' isolierte Handelsgeschäfte wie den Kauf zum Zwecke des Weiterverkaufs und die sog. Unternehmensgeschäfte, also Rechtsgeschäfte, die wiederholt im Rahmen einer bestimmten Organisationsstruktur vorgenommen werden. Dem Handelsrecht unterfallen grundsätzlich Absatzgeschäfte, industrielle Tätigkeit und Dienstleistungen. So sind Kommissions-, Bank-, Börsen- und Versicherungsgeschäfte Handelsgeschäfte. Dagegen wird die handwerkliche Tätigkeit mangels eines Elements der „spéculation“ dem Zivilrecht zugerechnet. Als Handelsgeschäft werden nicht nur die deren Charakteristika eigentlich erfüllenden Tätigkeiten, sondern auch Geschäfte angesehen, die ein Kaufmann zu Zwecken seiner Berufsausübung tätigt. Ebenso gelten Rechtsgeschäfte, die wie die eine handelsrechtliche Verbindlichkeit sichernde Bürgschaft eng mit einem Handelsgeschäft verknüpft sind, als Handelsgeschäfte.<br />
<br />
Kaufmann ist gemäß Art.&nbsp;L&nbsp;121-1 (ex-Art.&nbsp;1) ''Code de Commerce'' jede natürliche und juristische Person, die Handelsgeschäfte in eigenem Namen und auf eigene Rechnung zur gewöhnlichen Berufsausübung tätigt. Natürliche Personen müssen volle Geschäftsfähigkeit genießen und dürfen nicht unter Vormundschaft stehen.<br />
<br />
Der moderne ''Code de Commerce'' ist in neun Bücher aufgeteilt:<br />
<br />
1.&nbsp;Buch: Allgemeines Handelsrecht (Handelsgewerbe; Kaufmannsbegriff; einzelne Kaufleute wie Kommissionäre, Frachtführer, Handelsvertreter; ''fonds de commerce'' (einem unternehmerischen Zweck gewidmete Vermögensgesamtheit, grob als Handelsgeschäft bzw. Handelsunternehmen zu verstehen);<br />
<br />
2.&nbsp;Buch: Handelsgesellschaften und Wirtschaftliche Interessenvereinigungen (OHG, KG, GmbH, AG incl. Umwandlungsrecht, KGaA, SE, frz. WIV, EWIV);<br />
<br />
3.&nbsp;Buch: Besondere Formen des Kaufes (Liquidation, Schlussverkäufe, Fabrikverkäufe, öffentliche Versteigerungen); Ausschließlichkeitsklauseln;<br />
<br />
4.&nbsp;Buch: Preisfreiheit und Wettbewerbsrecht;<br />
<br />
5.&nbsp;Buch: Wechsel und Garantien;<br />
<br />
6.&nbsp;Buch: Unternehmen in der Krise (inklusive Sanierungs- und Insolvenzrecht);<br />
<br />
7.&nbsp;Buch: Handelsgerichtsbarkeit und Handelsorganisationsrecht;<br />
<br />
8.&nbsp;Buch: Besonders reglementierte Berufsgruppen (u.a. Insolvenzverwalter und Wirtschaftsprüfer);<br />
<br />
9.&nbsp;Buch: Anwendbarkeit des ''Code de Commerce'' auf Überseeterritorien.<br />
<br />
== 4. Prinzipien ==<br />
Handels- und Gewerbefreiheit genießen Verfassungsrang, sind aber im ''Code de Commerce'' nicht mehr auf einfacher Gesetzesebene enthalten. Einschränkungen sind durch oder aufgrund Gesetzes z.B. aus sicherheitsrechtlichen Gründen in Form von Genehmigungserfordernissen zulässig. Gewisse Beschränkungen gelten auch für Ausländer (höchst ausnahmsweise auch EU-Bürger), Personen, deren Beruf nicht mit der Kaufmannseigenschaft vereinbar ist (Beamte, Abgeordnete oder Angehörige freier Berufe) oder Personen, denen im Einzelfall wegen mangelnder Zuverlässigkeit – etwa bei Verurteilung wegen Vermögensdelikten – eine Gewerbetätigkeit untersagt ist.<br />
<br />
Kaufleute sind verpflichtet, sich in das Handels- und Gesellschaftsregister eintragen zu lassen. Die entsprechende Eintragung wirkt für natürliche Personen als Vermutung der Kaufmannseigenschaft, während sie juristischen Personen (nach französischem Verständnis auch Personenhandelsgesellschaften) den körperschaftlichen Status verleiht, ohne eine entsprechende Vermutung zu begründen. So müssen sich bürgerlich-rechtliche Gesellschaften ebenfalls eintragen lassen, ohne dass sich daraus eine Kaufmannseigenschaft ableitet. Daneben trifft Kaufleute eine Buchführungs- und Bilanzpflicht. Sie haben außerdem ein Bankkonto einzurichten und für jede Transaktion eine Rechnung auszustellen.<br />
<br />
Ansonsten ist eine durchgehende Gesetzgebungspolitik angesichts der bereits beschriebenen redaktionellen, systematischen und sprachlichen Mängel dem Gesetz kaum zu entnehmen.<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Bruno Oppetit'', La décodification du droit commercial français, in: Études offertes à René Rodières, 1981, 197&nbsp;ff.; ''Carola Arrighi de Casanova'','' Oliver Douvreleur'', La codification par ordonnances: A propos du Code de commerce, Juris Classeur périodique – La Semaine Juridique Édition Generale 2001, 61&nbsp;ff.; ''Dominique Bureau'','' Nicolas Molfessis'', Le nouveau code de commerce? Une mystification, 2001, 361&nbsp;ff.; ''Hervé Moysan'', La codification à droit constant ne résiste pas à l’épreuve de la consolidation, Juris Classeur périodique – La Semaine Juridique Édition Générale 2002, 1231&nbsp;ff.; ''François Licari'','' Jochen Bauerreis'', Das neue französische Handelsgesetzbuch: Ein kritischer Beitrag zur Methode der codification à droit constant, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 12 (2004) 132&nbsp;ff.; ''Université Panthéon-Assas'' (Hg.), Le Code de Commerce 1807-2007, Livre du Bicentenaire, 2007; ''Pascale Bloch'', ''Sophie Schiller'' (Hg.), Quel Code de commerce pour demain?, 2007; ''Hans-Jürgen Sonnenberger'','' Reinhard Dammann'', Französisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 3.&nbsp;Aufl. 2008.<br />
<br />
==Quellen==<br />
Die aktuelle Fassung des ''Code de commerce'' findet sich gedruckt etwa bei ''Nicolas Rontchewsky'', ''Eric Chevrier'', ''Pascal Pisoni'' (Hg.), Code de Commerce, 104.&nbsp;Aufl. 2009; im Internet über http://www.legifrance.gouv.fr, dort unter http://www.legifrance.gouv.fr/telecharger_pdf.do?cidTexte=LEGITEXT000005634379; eine englische Übersetzung findet sich unter http://195.83.177.9/code/liste.phtml?lang=uk&c=32 (Stand 20.3.2006); eine spanische Übersetzung findet sich unter http://195.83.177.9/code/liste.phtml?lang=esp&c=57 (Stand 20.3.2006); die Ursprungsfassung von 1807 ist am leichtesten zugänglich unter http://www.bicentenaireducodedecommerce.org. Die Gesetzesmaterialien finden sich etwa in Projet de Code de Commerce présenté par la commission nommée par le gouvernement le 13 germinal an IX Paris, De l`Imprimerie de la République, Paris 1801-1802; Observations des tribunaux de cassation et d´appel, des tribunaux et conseils de commerce, & c: sur le projet de Code du Commerce, De l´Imprimerie de la République, 1802-1803. <br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
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<hr />
<div>von ''[[Gebhard Rehm]]''<br />
== 1. Bedeutung ==<br />
Der französische ''Code civil'' (wegen der intensiven persönlichen Beteiligung ''Napoléon'' ''Bonapartes'' an seiner Abfassung und zeitweiligen offiziellen Geltung unter diesem Namen auch als ''Code Napoléon'' bekannt) ist bis heute das zentrale Gesetz des französischen Zivilrechts, wirkt aber über dieses in vieler Hinsicht hinaus. Nicht umsonst bezeichnete ''Carbonnier'' ihn als die „zivile Verfassung“ Frankreichs. Der ''Code civil'' zählt mit dem ''[[Code de Commerce]]'' (Handelsgesetzbuch), ''Code pénal'' (Strafgesetzbuch), ''Code de procédure civile ''(Zivilprozessordnung) und dem ''Code d’instruction criminelle'' (Strafprozessordnung) zu den sog. ''Grands Codes'' der napoleonischen Ära. <br />
<br />
Historisch markiert der ''Code civil'' den endgültigen Übergang vom vorrevolutionären ''Ancien Régime'' zur Republik, ist er doch nur wenige Jahre nach der französischen Revolution in Kraft getreten: ihre Ideale, doch nicht ihre Exzesse aufnehmend. Das Freiheitsideal spiegelt sich in der [[Vertragsfreiheit]] und im Schutz von (bürgerlichen) Eigentumsrechten ([[Eigentum]], [[Eigentumsschutz]]) ebenso wider wie der Gleichheitsgedanke in der Aufhebung adliger Vorrechte und der Anordnung gleicher Erbteile. Dennoch bricht der ''Code civil'' nicht mit dem bis zu seinem Inkrafttreten geltenden Recht, sondern führt geschickt die unterschiedlichen Traditionslinien des bis dahin zersplitterten französischen Rechts zusammen. Vermittels des ''Code civil'' spielen in der romanischen Rechtsfamilie fränkische Vorbilder stellenweise eine größere Rolle als in der germanischen Rechtsfamilie. Insofern sichert er mehr historische Beständigkeit, als aufgrund seines revolutionsbedingten Ausgangspunkts zunächst zu erwarten wäre. <br />
<br />
Geistesgeschichtlich entstammt der ''Code civil'' der Aufklärung; er beruht auf der vernunftrechtlichen Annahme, der gesamte Rechtsstoff lasse sich in einer [[Kodifikation]] regeln, die das gesellschaftliche Zusammenleben rational ordne. In dieser geschichtlichen Bedeutung avancierte er nicht nur für die romanischen Rechtsordnungen, sondern auch zahlreiche andere Staaten zum Vorbild. Er beeinflusste und förderte die Kodifikationsbewegung des 19.&nbsp;Jahrhunderts nachhaltig, während die Ideen der Revolution nicht in allen Rezeptionsstaaten gleichermaßen auf Zustimmung stießen.<br />
<br />
Trotz der nachhaltigen Veränderung der Lebensverhältnisse sind weite Teile dieses immerhin vor der industriellen Revolution verfassten Gesetzes heute nach wie vor in Kraft, selbst wenn viele Vorschriften ohne die sie erläuternde und verändernde Rechtsprechung den gegenwärtigen Rechtszustand kaum noch zutreffend beschreiben. Der Erfolg des ''Code civil ''in Frankreich wie im Ausland beruht neben seinen inhaltlich als gelungen empfundenen Regelungen und dem Versprechen von Freiheit und Gleichheit vor allem auch auf seiner viel gerühmten sprachlichen Qualität. Anders als bei der Redaktion des deutschen [[Bürgerliches Gesetzbuch|BGB]] ließen es sich die Verfasser angelegen sein, ein trotz komplexer Regelungsmaterie auch für den Normalbürger möglichst verständliches Gesetz zu formulieren, wenngleich sie sich bewusst waren, dass dieses Ideal in einer komplexen Gesellschaft wie der französischen kaum vollständig zu erreichen sein würde. Den ''Code civil'', an dem etwa ''Stendhal'' nach eigenem Bekunden durch tägliche Lektüre seine Sprachfertigkeit schulte, kennzeichnet daher eine knappe, prägnante Sprache. Die in französischen Juristenkreisen stärker als in deutschen ausgeprägte Wertschätzung geradezu schriftstellerischer Formulierungskunst mag ihre Wurzel wie ihren Ausdruck in diesem Stil des Gesetzes finden. Gleichzeitig gehen die Neigung zu Allgemeinverständlichkeit und der Verzicht auf technisch komplizierte Formulierungen gelegentlich auf Kosten der Genauigkeit. Dies nahmen die Gesetzesverfasser bewusst in Kauf, um für den Richter Flexibilität im Einzelfall und Spielraum für Rechtsfortbildung zu schaffen. <br />
<br />
== 2. Wurzeln und Geschichte ==<br />
Zur Zeit der Revolution war Frankreich von einem einheitlichen Zivilrecht weit entfernt, wenngleich die Rechtszersplitterung nicht das gleiche Ausmaß wie etwa in Deutschland hatte. Eine Rechtseinheit hatten auch die ''[[Ordonnances]]'' nur teilweise und beschränkt auf einzelne Gebiete (insb. im Prozess- und Handelsrecht) herstellen können. Während in Nordfrankreich (einschließlich Paris) der fränkische-burgundische Einfluss selbst nach der [[Rezeption]] des [[römisches Recht|römischen Recht]]s über die oberitalienischen Universitäten bedeutsam blieb (''Coutumes'', ''droit coutumier''), hatte der Süden seit der Eroberung durch die Römer ohnehin stets die römisch-rechtliche Tradition gepflegt (''droit écrit''). Hinzu kamen zahlreiche weitere Unterschiede innerhalb dieser zwei grundsätzlichen Systeme. Ange- sichts von über 350 unterschiedlichen ''Coutumes générales'' und ''locales'' spottete ''Voltaire'' nicht ganz zu Unrecht, ein Reisender in Frankreich wechsle die Rechtsordnung ebenso häufig wie sein Pferd. Noch ''Montesquieu'' hielt eine vollständige Rechtseinheit angesichts der tiefgreifenden wirtschaftlichen und kulturellen Divergenzen für ausgeschlossen.<br />
<br />
Nach der französischen Revolution geriet die Frage nach einem einheitlichen Zivilgesetzbuch früh in das Zentrum der Aufmerksamkeit – Rechtszersplitterung bewirkte Rechtsunsicherheit und hatte Spielräume für die korruptionsanfälligen Gerichte geschaffen. Diesen weidlich genutzten Freiheiten sollte durch eine einheitliche Kodifikation die Grundlage entzogen werden. Vorbereitet durch die sog. ''cahiers de doléance'' (Beschwerdehefte) von 1789 erklärte Art.&nbsp;1 der Verfassung vom 3.9.1791 die Zivilrechtskodifikation (''Code des lois civiles communes à tout le royaume'') zum ausdrücklichen Ziel. Man wünschte sich ein einheitliches, einfaches und präzises Gesetz. Bis zur Machtübernahme ''Napoléons'' wurden indes nur miteinander unverbundene Rechtsakte (sog. ''droit intermédiaire'') erlassen; ihre Vereinheitlichung – u.a. auf der Basis dreier von ''Cambacérès'' vorgelegter Entwürfe – gelang in den Wirren der unmittelbaren Nachrevolutionszeit nicht.<br />
<br />
In dieser Situation erschien ''Napoléon'' die Rechtsvereinheitlichung durch ein Zivilgesetzbuch als sachliche Notwendigkeit, gleichzeitig aber auch als Mittel zur Stabilisierung seiner Herrschaft und Instrument der Aussöhnung. Im Exil auf St.&nbsp;Helena sollte er viele Jahre später resümieren, dass der Ruhm seiner 40 gewonnenen Schlachten durch die Niederlage bei Waterloo ausgelöscht, „sein Code civil“ aber ewig der Nachwelt erhalten bleiben werde. Maßgebliche Vorarbeiten zum ''Code civil'' leistete eine im August 1800 von ''Napoléon'' eingesetzte Kommission. Die Richter und Verwaltungsbeamten ''François Denis Tronchet'', ''Jean Étienne Marie Portalis'', ''Jacques Maleville'' und ''Félix Julien Jean Bigot de Préameneu'' legten bereits nach vier Monaten einen Entwurf vor (''Napoléon'' hatte ihnen sechs Monate eingeräumt). Das war nur möglich, weil die Kommission aus reichen Vorarbeiten, insbesondere von ''Robert Joseph Pothier'' und ''Jean Domat'' schöpfen konnte. Seine endgültige Form und Fassung nahm das Gesetz nach der Verarbeitung von Anmerkungen der ''Cour de Cassation'' und der Berufungsgerichte (''Cours d’Appel'') in ausführlichen Beratungen im ''Conseil d’État'' an. Der etwa die Hälfte dieser Sitzungen leitende Nichtjurist ''Napoléon ''mahnte nachdrücklich pragmatische Lösungen und einfache Formulierungen an. Inhaltlich interessierte er sich eher für allgemeine Leitlinien als für technische Details, allerdings auch Einzelfragen wie die Rechtsstellung der Soldaten, der Bürger der Überseeterritorien, die Rechte von Ausländern in Frankreich oder die Voraussetzungen einer Scheidung. Nicht wenige vermuten, dass sein besonderes Interesse an einem liberalen Scheidungsrecht durchaus persönliche Gründe hatte: die von ihm bereits frühzeitig geplante Gründung einer Dynastie erforderte die Scheidung der kinderlos gebliebenen Ehe mit ''Joséphine'', wäre aber unter den von vielen befürworteten, herkömmlich restriktiven Scheidungsvoraussetzungen nicht möglich gewesen. Zwischenzeitlich galt darum seine (besondere) Aufmerksamkeit auch dem Adoptionsrecht ([[Adoption]]). Seine Entschlossenheit und sein Durchsetzungsvermögen trugen jedenfalls insgesamt nicht unerheblich dazu bei, dass die Beratungen zügig zu einem Abschluss gelangten (''René Savatier''<nowiki>: „[Le Code civil]… est l’œuvre de la volonté d’un homme: Bonaparte“). Der endgültige Gesetzesentwurf wurde sodann in Einzelabschnitten dem für die Beratung von Gesetzesvorlagen der Regierung (allerdings ohne Abstimmungsrecht) zuständigen Tribunat zugeleitet. Das Tribunat und auf seine Empfehlung der </nowiki>''Corps Législatif'' als eigentliche Gesetzgebungskammer (allerdings ohne Beratungsrecht) lehnten Ende 1801 bereits die ersten Teile des Entwurfs ab. Der Grund dafür liegt möglicherweise darin, dass das Tribunat bislang weitgehend von der Erarbeitung der Gesetzentwürfe ausgeschlossen gewesen war, in der Demonstration eigener Macht (Gesetze konnten nur ''in toto'' angenommen oder abgelehnt werden), aber auch in inhaltlicher Kritik begründet (zu starke Rolle der Richter, die man im ''Ancien Régime'' als käuflich erlebt hatte; Ablehnung des Konzepts des Familienrechts, das zu wenig revolutionär erschien). ''Napoléon'' zog daraufhin den Entwurf am 3.1.1802 vollständig zurück, um auf einen positiver eingestellten Gesetzgeber zu warten. Nach dem (teilweise erzwungenen) Ausscheiden einiger „Obstruktionisten“ wurde der Entwurf dem Tribunat erneut zunächst vertraulich und inoffiziell, nach signalisierter Zustimmung dann auch offiziell zugeleitet. Von März 1803 bis März 1804 wurden die 36&nbsp;Abschnitte des Gesetzes verabschiedet. Am 21.3.1804 trat das Gesetz insgesamt unter dem Namen ''Code civil des Français'' in Kraft und hob alle zuvor geltenden Regelungen der von ihm erfassten Materien auf. <br />
<br />
== 3. Aufbau des Gesetzes ==<br />
Der ursprünglich aus 2281 Artikeln bestehende ''Code civil'' nimmt systematisch die römisch-rechtliche Dreiteilung nach Personen, Sachen und Vermögensrechten auf. Das auf den sechs Artikel umfassenden Einführungsteil (''Livre préliminaire'') folgende Erste Buch, ''Des personnes'' (Art.&nbsp;7-515), regelt die Staatsangehörigkeit (später ausgegliedert) und bruchstückhaft das Fremdenrecht. Letzteres wurde später von Rechtsprechung und Lehre zu einem geschlossenen System des [[Internationales Privatrecht|internationalen Privat-]] und Verfahrensrechts ausgebaut. Außerdem finden sich im Ersten Buch Familien- und Eherecht (mit Ausnahme des Güterrechts) sowie Vormundschaftsrecht. Das Zweite Buch, ''Des biens et des différentes modifications de la propriété'' (Art.&nbsp;516-710), kodifiziert das Sachenrecht, also das Eigentum (einschließlich der Enteignung) und beschränkte dingliche Rechte wie Nießbrauch, Nutzungen, Dienstbarkeiten etc. Das Dritte Buch schließlich widmet sich dem Eigentumserwerb in seinen unterschiedlichen Varianten: ''Des différentes manières dont on acquiert la propriété'' (Art.&nbsp;711-2281). Neben dem Erbrecht zählt zu diesem bunten Kaleidoskop von Regelungen das Obligationenrecht (für den Eigentumserwerb gilt das reine Konsensualprinzip, Art.&nbsp;1588 ''Code civil'') samt vertraglichem Ehegüterrecht, Rechtsdurchsetzung und [[Verjährung]].<br />
<br />
Erst in jüngster Zeit hat der ''Code civil'' eine Ergänzung bzw. Neugliederung durch zwei weitere Bücher erfahren. Das 2007 in Kraft getretene Vierte Buch regelt die zuvor im Dritten Buch kodifizierten Personal- und Realsicherheiten, während seit 2006 das Fünfte Buch die differenzierte Anwendung des Gesetzes auf das französische Überseeterritorium Mayotte ausgestaltet. <br />
<br />
== 4. Inhaltliche Leitlinien ==<br />
Die Gesetzgebungskommission unter ''Tronchet'' und ''Portalis'' meinte, Recht nicht setzen zu können; Recht könne sich vielmehr nur im Laufe der Zeit entwickeln. Sie strebte an, eher „nützlich als originell“ zu sein und lehnte allzu radikale Gesetzesreformen zugunsten von Kompromiss und Ausgleich ab. Zusammengesetzt aus Verfechtern nordfranzösischer ''Coutumes'' wie aus Romanisten, orientierte die Kommission sich an den auf französischem Territorium vorgefundenen Rechtstraditionen. Während das weitgehend auf germanischen Traditionen beruhende französische Gewohnheitsrecht und die ''[[Ordonnances]]'', soweit einschlägig, das Sachen-, Familien- und Erbrecht prägen, folgt das Obligationenrecht inhaltlich vor allem dank des Einflusses von ''Robert Joseph'' ''Pothier'' ebenso wie etwa das Ehegüter- und Testamentsrecht dem römischen Vorbild. <br />
<br />
Die aufklärerischen Ideale von Freiheit und Gleichheit mündeten insbesondere in die umfassende Garantie von Privatautonomie, vor allem den Schutz des Eigentums (Art.&nbsp;544; [[Eigentumsschutz]]) und der [[Vertragsfreiheit]] (Art. 1134), wenngleich diese subjektiven Rechte nur im Rahmen der Gesamtrechtsordnung ausgeübt werden dürfen. Der Freiheit entspricht die Verantwortung des Einzelnen für schuldhaftes Verhalten (Art.&nbsp;1382, 1383). Eigentumsschutz, Vertragsfreiheit und allgemeine deliktische Verantwortung ([[Deliktsrecht: Allgemeines und lex Aquilia|Deliktsrecht: Allgemeines und ''lex Aquilia'')]] halten viele spätere Kommentatoren für die eigentlichen, revolutionären Säulen des ''Code civil'', obwohl die Gesetzesverfasser ihnen vermutlich weniger Bedeutung beimaßen (''Alfons'' ''Bürge'', ''James'' ''Gordley''). Erst im Verlaufe des 19.&nbsp;Jahrhunderts mit seiner Betonung des Positivismus entstand der Mythos des ''Code civil'' als revolutionärem Gesetz, das allein aus sich selbst heraus auszulegen sei. Trotz reformatorischer Tendenzen brach das Gesetz aber in Wirklichkeit nicht mit der Vergangenheit. So erlitt z.B. der bestimmter, insbesondere politischer Straftaten Schuldige den „bürgerlichen Tod“, seine Frau wurde Witwe, er konnte selbst kein Eigentum inne haben, Verträge schließen, seine Kinder wurden Waisen. Erst 1854 wurde diese drastische Sanktion aus dem Gesetz verabschiedet. Hauptnutznießer der Mischung aus Konservierung des Althergebrachten, punktueller Liberalisierung und Individualisierung war – für jene Zeit in Europa immerhin eine beispiellose Tendenz – das liberale Bürgertum. Feudale Vorrechte etwa im Erb-, Grundstücks- und Jagdrecht wurden aufgehoben bzw. die entsprechenden Anordnungen des ''droit intermédiaire'' bestätigt, wenngleich mit der Einführung des Kaiserreichs bereits am 2.5.1804 der Adelsstand – nunmehr vom Kaiser gesteuert – zumindest für eine Übergangszeit wieder an Bedeutung gewann. Der [[Eigentumsschutz]] verstärkte den Gegensatz zwischen besitzenden und nicht-besitzenden Klassen. Das Arbeitsrecht blieb ungeregelt, Gewerkschaften und Streiks waren verboten. Im Familienrecht löste ein laizistisches System das bis dahin geltende kanonische bzw. gewohnheitsrechtliche Eherecht ([[Kanonisches Recht]], [[Ehe]]) ab, ohne sich von dessen Inhalten grundsätzlich zu lösen. Selbst als auf Druck von ''Napoléon'' die [[Scheidung]] zugelassen wurde, erhöhten sich die Hürden gegenüber dem ''droit intermédiaire''. Zwar galt grundsätzlich Gleichheit vor dem Gesetz, doch wurde dieser Grundsatz nicht im Sinne seines modernen Verständnisses vollständig umgesetzt: Frauen waren gegenüber der Rechtslage im ''Ancien Régime'' bessergestellt, doch noch keinesfalls den Männern gleichberechtigt. So schuldete die Ehefrau ihrem Mann Gehorsam (eine ebenfalls u.a. ''Napoléon'' und seinen Erfahrungen mit ''Joséphine'' zugeschriebene Regel), der Familienvater war zumindest in der Theorie berechtigt, das gemeinschaftliche und das Kindesvermögen zu verwalten und die Kindererziehung zu gestalten. Auch waren nicht-eheliche Kinder ehelichen (Kindern) nicht gleichgestellt und Ausländer genossen nicht die gleichen Bürgerrechte wie Franzosen.<br />
<br />
Erst im Laufe der Zeit verließ der ''Code civil'' den von vielen als einseitig individualistisch bzw. das Bürgertum begünstigend angesehenen Pfad. Die industrielle Revolution brachte insbesondere im Delikts-, Arbeits- und Versicherungsrecht Gesetzeslücken zum Vorschein, die zunächst durch die Rechtsprechung gefüllt wurden. Insofern ist es ein Mythos, dass die Rechtsprechung in Frankreich kaum rechtsfortbildende Kraft entfaltet habe. Ursprünglich im ''Code civil'' enthaltene Rechtsmaterien wurden später in besondere Gesetzbücher ausgegliedert. Aus Rechtsprechung und Sondergesetzen entwickelten sich das gesonderte Arbeits-, Versicherungs- und Verbraucherschutzrecht. Nach 1945 wurden zahlreiche Teilbereiche reformiert. Grundbuchrecht, Adoptions- und Vormundschaftsrecht, Ehegüterrecht, Kindschaftsrecht, Scheidungsrecht und Verbraucherschutzrecht sind nur einige der Materien, die eine tiefgreifende Veränderung erfuhren. Gleichstellung von Mann und Frau, die Verbesserung der Stellung des nicht-ehelichen Kindes, die Gewährung von Arbeitnehmer- und Konsumentenschutz, kurz: eine „sozialere“ Gestaltung des Zivilrechts prägten die Reformen. Das europäische Recht wirkt nachhaltig auch auf den ''Code civil''. Eine seit 2005 geplante umfassende Änderung des Schuld- und Verjährungsrechts („''Projet Català''“), das dem zunehmenden europarechtlichen Druck zur Vereinheitlichung des Vertragsrechts ein französisches Modell entgegensetzen soll, ist 2008 beschränkt auf das Verjährungsrecht ([[Verjährung]]) umgesetzt worden. Die Änderung des Vertragsrechts steht 2009 noch aus. Eine Reform des Deliktsrechts ist einstweilen aufgeschoben. Das [[Vormundschaft (rechtliche Fürsorge) für Minderjährige|Vormundschaft]]srecht ist zum 1.1.2009 erneut reformiert worden.<br />
<br />
Der ''Code civil'' hat zunächst insgesamt ein stabiles Gleichgewicht zwischen Bewahrung traditionellen Rechtsstoffs und Neuorientierung an Freiheit und Gleichheit gefunden, wie sein nachhaltiger Erfolg belegt. Gleichzeitig hat er sich im Lichte gesetzgeberischer Reformen für eine Weiterentwicklung und Lückenschließung durch die Rechtsprechung als hinreichend aufgeschlossen erwiesen, um auch nach 200&nbsp;Jahren noch als zeitgemäße Grundlage des französischen Zivilrechts zu dienen. Die aktuellen bzw. geplante Reformen insbesondere im Schuldrecht sind einerseits vom Wunsch motiviert, die französischen Rechtstraditionen zu bewahren, sollen andererseits aber offenbar Frankreich auch ermöglichen, im Zuge der Vereinheitlichung des europäischen Privatrechts eine moderne Lösung anzubieten. <br />
<br />
== 5. Rezeption und internationale Wirkung ==<br />
Dank der Vergrößerung des französischen Staatsgebiets unter Napoléon trat der ''Code civil'' in zahlreichen Gebieten, wie z.B. in den von Deutschland an Frankreich abgetretenen linksrheinischen Gebieten in Kraft. Einige Staaten, etwa das Großherzogtum Baden als Mitglied des Rheinbundes, übernahm den ''Code civil'' als „Badisches Landrecht“ freiwillig, wenngleich gewisse badische Rechtsbesonderheiten fortgalten. Diese Geltung im deutschsprachigen Raum hat – noch über das Inkrafttreten des [[Bürgerliches Gesetzbuch|BGB]] im Jahre 1900 hinaus – dem ''Code civil'' besondere Aufmerksamkeit in Deutschland gesichert und den deutsch-französischen Rechtsdialog befruchtet. Das sog. „Rheinische Recht“, die Geltung des ''Code civil'' in zahlreichen deutschen Gebieten teilweise bis zum Inkrafttreten des BGB, hat auf die deutsche Rechtsentwicklung einen nicht zu unterschätzenden Einfluss ausgeübt. Der ''Code civil'' trat außerdem unmittelbar in Belgien und Luxemburg, die im Wiener Kongress an Frankreich gefallen waren, in Kraft, wo er noch heute – wenn auch in Luxemburg in erheblich größerem Umfang als in Belgien – weitgehend gilt. Für eine gewisse Zeit galt er auch in den Niederlanden und inspirierte den italienischen ''[[Codice civile]]'' von 1865, bis diese Staaten sich im 20.&nbsp;Jahrhundert aus dieser unmittelbaren französischen Rechtstradition lösten. Der ''Code civil'' wurde weitgehend in Rumänien (1863), Portugal (1867) und Spanien (1888/89) rezipiert. Über die iberischen Staaten gelangte er auch in zahlreiche lateinamerikanische Rechtsordnungen, bis diese sich ebenfalls an unterschiedlichen Rechtstraditionen zu orientieren begannen. Natürlichen Einfluss übte er auch in den französischen Kolonien und Mandatsgebieten aus (z.B. Ägypten, Syrien, Libanon, Indochina). Des weiteren beeinflusste er die Zivilgesetzbücher des US-Bundesstaates Louisiana und der kanadischen Provinz Québec. In beiden Rechtsordnungen ist in jüngerer Zeit allerdings deutlich die Überlagerung durch das (hier) fast „übermächtige“ ''[[common law]]'' zu verzeichnen. Insbesondere der neue ''Code civil'' von Québec (1994) markiert eine deutliche Abkehr von französischen Rechtsprinzipien.<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Société d’études législatives ''(Hg.), Le Code civil 1804-1904: livre du centenaire, 1904; ''René Savatier'', L’art de faire les lois, Bonaparte et le Code civil, 1927; ''James Gordley'', Myths of the French Civil Code, American Journal of Comparative Law 42 (1994) 459&nbsp;ff.; ''Murad Ferid'', ''Hans-Jürgen Sonnenberger'', Das französische Zivilrecht, Bd.&nbsp;1, 1994, 1&nbsp;A 201&nbsp;ff., 1&nbsp;A 30&nbsp;ff.; ''Alfons Bürge'', Das französische Privatrecht im 19.&nbsp;Jahrhundert, 2.&nbsp;Aufl. 1995; ''Reiner Schulze ''(Hg.), Rheinisches Recht und Europäische Rechtsgeschichte, 1998; ''Dalloz'', ''Litec ''(Hg.), Le Code Civil 1804–2004, 2004; ''Werner Schubert'', ''Mathias Schmoeckel'' (Hg.),'' ''200 Jahre Code civil, 2005; ''Hans-Jürgen Puttfarken'', ''Judith Schnier'', Der Code Napoléon damals und heute – eine Betrachtung aus deutscher Sicht, Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaften 105 (2006) 223&nbsp;ff.; ''François Terré'' (Hg.), Pour une réforme du droit des contrats, 2009.<br />
<br />
==Quellen==<br />
Die aktuelle Fassung des ''Code civil'' findet sich gedruckt etwa bei ''Alice Tisserand-Martin'', ''Georges Wiederkehr'', ''François Jakob'', ''Xavier Henry'', ''Guy Venandet'', ''François Baraton'' (Hg.), Code civil, 108.&nbsp;Aufl. 2009; im Internet über http://www.legifrance.gouv.fr, dort unter http://www.legifrance.gouv.fr/telecharger_pdf.do?cidTexte=LEGITEXT000006070721 (Stand 1.6.2009); eine englische Übersetzung findet sich unter http://195.83.177.9/code/liste.phtml?lang=uk&c=22 (Englisch, Stand 4.4.2006); eine spanische Übersetzung findet sich unter http://195.83.177.9/code/liste.phtml?lang=esp&c=41 (Spanisch, Stand 4.4.2006); die Ursprungsfassung von 1804 ist am leichtesten zugänglich unter http://www.assemblee-nationale.fr/evenements/code-civil-1804-1.asp. Die Gesetzesmaterialien finden sich etwa bei P. Antoine Fenet, Recueil complet des travaux préparatoires du Code civil, 1827; ebenso bei Jean-Étienne-Marie Portalis, Discours préliminaire du premier projet de Code civil, 1801 (im Internet verfügbar unter http://classiques.uqac.ca/collection_documents/portalis/discours_1er_code_civil/discours_1er_code_civil.pdf.<br />
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[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Code_Civil]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Mitbestimmung&diff=1655Mitbestimmung2021-09-08T10:20:35Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Markus Roth]]''<br />
== 1. Beteiligung der Arbeitnehmer in Betrieb und Unternehmen ==<br />
Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Betrieben und Unternehmen stellt eine wichtige Form der Arbeitnehmerbeteiligung dar, die insbesondere in Deutschland fest verankert ist. Unterschieden werden die betriebliche und die unternehmerische Mitbestimmung. Die betriebliche Mitbestimmung findet vornehmlich auf betrieblicher Ebene, die unternehmerische Mitbestimmung auf der Ebene der Unternehmensorgane statt. Die Grenzen sind indes teilweise fließend. Weitere Formen der Arbeitnehmerbeteiligung sind die Beteiligung am Unternehmen selbst sowie die [[Betriebsrenten]]. Betriebsrenten stellen wegen der Möglichkeit zur diversifizierten Anlage gebundenen Vermögens eine besonders effektive Form der Arbeitnehmerbeteiligung dar. Dies gilt insbesondere, wenn – wie international üblich – breit gestreut in Aktien investiert wird.<br />
<br />
Konkret geht es bei der betrieblichen und der unternehmerischen Mitbestimmung um eine Beteiligung der Arbeitnehmer an Entscheidungen im Betrieb bzw. im Unternehmen. Die Beteiligung der Arbeitnehmer an betrieblichen und unternehmerischen Entscheidungen ist in Europa traditionell sehr unterschiedlich ausgestaltet. Von den Gewerkschaften mehr oder weniger unabhängige Systeme der Arbeitnehmervertretung finden sich in Deutschland, Österreich, den Niederlanden und Luxemburg. In Frankreich, Griechenland, Portugal und Spanien gibt es sowohl gewerkschaftlich als auch davon unabhängig organisierte Systeme der Arbeitnehmervertretung. Die skandinavischen Länder setzen stark auf eine Vertretung der Arbeitnehmerinteressen durch die Gewerkschaften. In England und Irland existiert außerhalb der europäischen Vorgaben praktisch keine Arbeitnehmerbeteiligung an unternehmerischen Entscheidungen.<br />
<br />
Die bislang zur betrieblichen und unternehmerischen Mitbestimmung erlassenen [[Richtlinie]]n schreiben diese heterogene Lage im Wesentlichen fort. Entgegen ursprünglichen Regelungsansätzen liegt ihr Schwerpunkt nicht auf einer zwingenden Vereinheitlichung der Mitbestimmungsstandards. Vorgesehen sind insbesondere Verfahrensregeln. In der unternehmerischen Mitbestimmung wird angestrebt, den ''status quo'' der höchsten Mitbestimmung festzuschreiben. Hierfür sind aber bestimmte Quoten der betroffenen Arbeitnehmer erforderlich. Eine Vereinheitlichung des Rechts der betrieblichen und unternehmerischen Mitbestimmung erfolgt durch die bislang erlassenen Richtlinien nur vereinzelt.<br />
<br />
== 2. Europäische Regeln zur betrieblichen Mitbestimmung ==<br />
Die betriebliche Mitbestimmung wird europarechtlich nur in Ansätzen geregelt. Die RL&nbsp;94/45 des Rates vom 22.9.1994 sieht einen [[Europäischer Betriebsrat|Europäischen Betriebsrat]] vor. Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Richtlinie ist die Beschäftigung von über 1.000&nbsp;Arbeitnehmern, mindestens jeweils 150 in verschiedenen Mitgliedstaaten. Einzurichten ist ein Europäischer Betriebsrat auf Antrag von 100&nbsp;Arbeitnehmern oder der Unternehmensleitung. Vorgesehen ist ein besonderes Verhandlungsgremium, das auch über die Aufgaben des Europäischen Betriebsrats verhandeln soll. Damit wurde im endgültigen Vorschlag von einer ursprünglich geplanten vollständigen Regelung der von der Richtlinie betroffenen Fragen abgesehen. Der Richtlinie zum Europäischen Betriebsrat kam insoweit Modellcharakter für die Regelungen zur unternehmerischen Mitbestimmung in Europa zu. Sowohl die Richtlinien zur Arbeitnehmerbeteiligungen bei der [[Europäische Aktiengesellschaft (Societas Europaea)|Europäischen Aktiengesellschaft]] (SE) als auch bei der grenzüberschreitenden Verschmelzung beruhen auf dem Modell der Betriebsräte-Richtlinie.<br />
<br />
Im Juli 2008 hat die [[Europäische Kommission]] sodann einen Vorschlag zur Neufassung der Betriebsräte-RL (RL&nbsp;94/45) vorgelegt (KOM (2008) 419). Diesem Vorschlag hat das [[Europäisches Parlament|Europäische Parlament]] am 16.12.2008 (P6_TA (2008) 0602) mit einigen Änderungen zugestimmt, der Rat ([[Rat und Europäischer Rat]]) hat die Richtlinie sodann in ihrer Sitzung am 23.4.2009 (CS/2009/8902) angenommen. Die bis 5.6.2011 umzusetzende Betriebsräte-RL RL&nbsp;2009/38 sieht eine Verknüpfung der europaweiten und der einzelstaatlichen Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer vor. Die Verknüpfung kann per Vereinbarung zwischen dem Unternehmen und dem zentralen Verhandlungsgremium geregelt werden, die Mitgliedstaaten sollen als Auffangregelung eine parallele Unterrichtung des Europäischen Betriebsrats und der nationalen Arbeitnehmervertreter vorsehen. Weiter soll die rechtzeitige Unterrichtung des Europäischen Betriebsrats sichergestellt werden. Die Unterrichtung erfolgt zu einem Zeitpunkt und in einer Weise, die es den Arbeitnehmervertretern ermöglicht, die Informationen angemessen zu prüfen und gegebenenfalls die Anhörung vorzubereiten. Konkretisiert werden die Zuständigkeiten des Europäischen Betriebsrats, neu gefasst die Informationspflichten der Unternehmensleitung und die Zusammensetzung des besonderen Verhandlungsgremiums im Hinblick auf die Einrichtung eines Europäischen Betriebsrats. Neu gefasst wurden ferner die im Anhang der Betriebsräte-RL geregelten subsidiären Vorschriften, die im Falle der Nichteinigung zwischen dem besonderen Verhandlungsgremium und der zentralen Unternehmensleitung eingreifen.<br />
<br />
Nach Angaben der Europäischen Kommission vom Februar 2008 bestehen Europäische Betriebsräte bislang in 820&nbsp;Unternehmen, die zusammen etwa 14,5&nbsp;Millionen Arbeitnehmer beschäftigen. Die Revision der Betriebsräte-RL war eine der Rechtssetzungsprioritäten der Kommission. Die Überarbeitung der Richtlinie war Teil der sozialpolitischen Agenda der [[Europäische Union|Europäischen Union]] von 2006 bis 2010. In diesem Rahmen hatte die Kommission die Sozialpartner zu Verhandlungen aufgefordert. Neben der Richtlinie über Europäische Betriebsräte bestehen weitere Informationspflichten etwa beim Betriebsübergang sowie bei Unternehmensübernahmen.<br />
<br />
== 3. Das Betriebsverfassungsrecht in den Mitgliedstaaten ==<br />
Die in Europa geltenden betriebsverfassungsrechtlichen Regeln sind äußerst heterogen. Teilweise beruht das nationale Betriebsverfassungsrecht allein auf europäischen Vorgaben. England kannte vor der Umsetzung der Richtlinie zur Information der Arbeitnehmer keine nationalen Regelungen über Betriebsräte (''national works councils''). In Irland besteht nur eine Regelung für Staatsbedienstete. Die meisten Mitgliedstaaten kennen aber weit über den europäischen Rahmen hinausgehende Vorschriften oder doch zumindest Praktiken betrieblicher Mitbestimmung. In Kontinentaleuropa ist die betriebliche Mitbestimmung weit verbreitet.<br />
<br />
Besonders detailliert geregelt ist das Betriebsverfassungsrecht in Deutschland. Eine erste umfassende Regelung erfolgte bereits durch das Betriebsrätegesetz in der Weimarer Republik. Nach dem Betriebsverfassungsgesetz ist über eine bloße Information hinaus häufig auch eine Mitwirkung des Betriebsrats erforderlich. Gesetzliche Regeln über Betriebsräte kennen weiter etwa Belgien, Griechenland, Portugal, die Niederlande, Österreich und Spanien sowie viele osteuropäische Länder. Die Gegenstände betrieblicher Mitbestimmung und die maßgeblichen Kriterien zur Bildung eines Betriebsrates in diesen Ländern variieren erheblich. Die Regelung der betrieblichen Mitbestimmung in einem speziellen Gesetz ist auch außerhalb Englands und Irlands keineswegs europäischer Standard. In Dänemark und Schweden etwa bestehen keine gesetzlichen Regelungen über Betriebsräte, jedoch gibt es eine entsprechende Praxis aufgrund von Tarifverträgen. In Frankreich verschmelzen die betriebliche und die unternehmerische Mitbestimmung im ''comité d’entreprise''.<br />
<br />
== 4. Europäische Regeln zur unternehmerischen Mitbestimmung ==<br />
Wie die betriebliche ist auch die unternehmerische Mitbestimmung bislang nur in Ansätzen europarechtlich determiniert. Europäische Regeln zur unternehmerischen Mitbestimmung enthalten insbesondere die Richtlinie zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer (SE-Beteiligungs-RL, RL&nbsp;2001/86) sowie die Richtlinie über die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften in verschiedenen Mitgliedstaaten (Verschmelzungs-RL, RL&nbsp;2005/56). Auch soweit für diese internationalen Sachverhalte eine europäische Regelung vorliegt, wird die Mitbestimmung maßgeblich durch nationales Recht determiniert. Die SE-Beteiligungs-RL sowie die im Wesentlichen auf sie verweisende Verschmelzungs-RL sehen keine autonome Regelung der unternehmerischen Mitbestimmung vor. Vorgesehen werden mit der Einsetzung eines besonderen Verhandlungsorgans vor allem Verfahrensregeln und – mit unterschiedlichen Aufgreifkriterien – eine Rückfallregel zur Erhaltung des ''status quo''. Die Zahl der Arbeitnehmervertreter bemisst sich nach dem höchsten maßgeblichen Anteil in den beteiligten Gesellschaften vor der Eintragung der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) bzw. der international verschmolzenen Gesellschaft. Einer mitbestimmungsrechtlichen Regelung bedarf auch die geplante [[Europäische Privatgesellschaft (Societas Privata Europaea)|Europäische Privatgesellschaft (SPE)]]; diese ist derzeit noch umstritten.<br />
<br />
== 5. Der Wechsel zwischen monistischem und dualistischem System ==<br />
Besondere Probleme treten bei der unternehmerischen Mitbestimmung in der monistischen SE auf. Hier stellt sich die Frage, ob nach den europäischen Regeln von einer Gleichbehandlung von Aufsichtsrat und Verwaltungsrat auszugehen ist. Nicht explizit behandelt wird die Ausgestaltung der Mitbestimmung bei einem (nach der Verordnung stets möglichen) Wechsel vom Aufsichtsrats- ins Verwaltungsratssystem (oder umgekehrt). Möglich erscheint vor diesem Hintergrund die Auslegung, dass das europäische Recht die Übertragung der Aufsichtsratsmitbestimmung auf den Verwaltungsrat fordert. Fundamentaler Grundsatz und erklärtes Ziel der Richtlinie ist die Sicherung erworbener Rechte der Arbeitnehmer über ihre Beteiligung an Unternehmensentscheidungen. Die vor der Gründung der SE bestehenden Rechte sollten deshalb der Ausgangspunkt auch für die Gestaltung ihrer Beteiligungsrechte in der SE sein (Vorher-Nachher-Prinzip). Eine Gleichsetzung von Aufsichts- und Verwaltungsrat erscheint indes nicht nur vor dem Hintergrund der Genese der deutschen unternehmerischen Mitbestimmung fragwürdig. Bei Verabschiedung der Richtlinie kannten von den sieben damaligen Mitgliedstaaten, die eine Mitbestimmung in Unternehmensleitungsorganen zwingend vorschreiben, sechs nur eine Mitbestimmung im Aufsichts- oder im Verwaltungsrat; allein Finnland regelte die Mitbestimmung sowohl im Aufsichts- als auch im Verwaltungsrat. Auch die Verordnung differenziert zwischen der Mitbestimmung im Aufsichtsrat und im Verwaltungsrat. <br />
<br />
Die besseren Argumente sprechen dafür, die im Anhang der Richtlinie als Auffangregelung vorgesehene Anwendung aller Komponenten der Mitbestimmung sowie des Anteils der Arbeitnehmervertreter nur auf den Verbleib der Gesellschaft im monistischen (Verwaltungsrats&#8209;) bzw. im dualistischen (Aufsichtsrats&#8209;)System anzuwenden. Sinn und Zweck der Richtlinie ist es, dass Mitbestimmungsrechte bei Gründung einer SE erhalten bleiben. Verhindert werden soll die Verminderung des Mitbestimmungsniveaus durch die Wahl einer supranationalen Rechtsform, nicht der Wechsel in eine andere Form der Mitbestimmung nach nationalem Recht. Dabei kann es keinen Unterschied machen, ob diese andere Form der Mitbestimmung auch für nationale Aktiengesellschaften bereits „im Angebot“ ist. Es ist vielmehr Aufgabe des nationalen Gesetzgebers, Vorschriften für die Mitbestimmung im Verwaltungsrat bzw. im Aufsichtsrat zu schaffen, wenn das nationale Gesellschaftsrecht bislang nur ein monistisches oder ein dualistisches System vorgesehen hatte. Dies hat insbesondere für das deutsche Recht Bedeutung.<br />
<br />
== 6. Grundzüge der national geregelten unternehmerischen Mitbestimmung ==<br />
Den meisten Ländern mit Verwaltungsrats- bzw. ''Board''-System ist die unternehmerische Mitbestimmung fremd. So verwundert es nicht, dass kein anderes Mitglied der G8-Staaten eine verpflichtende unternehmerische Mitbestimmung durch stimmberechtigte Arbeitnehmervertreter im Verwaltungsrat kennt. Demgegenüber besteht eine zwingende unternehmerische Mitbestimmung im Verwaltungsrat insbesondere in kleineren Ländern, deren Unternehmen allein schon wegen ihrer regionalen Verwurzelung besonders auf gute Beziehungen zu ihren Arbeitnehmern angewiesen sind und deren Arbeitnehmer umgekehrt aber auch weniger Möglichkeiten zum Stellenwechsel haben. Dabei kennt Schweden als das darunter wirtschaftlich bedeutendste Land eine Vertretung der Arbeitnehmer durch zwei bzw. drei Mitglieder des Verwaltungsrats, in Finnland wird bis zu einem Viertel, in Norwegen höchstens ein Drittel und in Luxemburg ein Drittel der Mitglieder des vom Unternehmen zu bestimmenden Organs (Verwaltungs- oder Aufsichtsrat) von den Arbeitnehmern bestellt. In Dänemark kann im Einzelfall mehr als ein Drittel der Verwaltungsratsmitglieder von den Arbeitnehmern gewählt werden. Ungarn stellt die Mitbestimmung im Verwaltungsrat zur Disposition der Satzung. In Deutschland existierte und existiert weiterhin nur eine unterparitätische Mitbestimmung im Verwaltungsrat, dem allerdings unternehmensverfassungsrechtlich stets ein Vorstand unterstellt war: Als nach deutschem Aktienrecht noch die faktische Ausformung des Aufsichtsrats zum Verwaltungsrat möglich war, sah das Betriebsrätegesetz eine Entsendung von ein oder zwei Arbeitnehmervertretern vor. Bei Sparkassen ist noch heute ein Verwaltungsrat zu bilden. Einige Sparkassengesetze sehen eine drittelparitätische Mitbestimmung, andere Bundesländer sehen keine Mitbestimmung bzw. nur die Entsendung von zwei Arbeitnehmervertretern mit beratender Stimme vor. Dezidiert zwischen der Mitbestimmung in einem Verwaltungs- und in einem Aufsichtsrat unterschieden wird in Ungarn und in Slowenien. <br />
<br />
Für den Aufsichtsrat wird etwa in Ungarn und in Österreich eine drittelparitätische Mitbestimmung vorgesehen. Eine drittelparitätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat sieht etwa auch das niederländische Recht vor. Seit 2004 werden die Aufsichtsratsmitglieder in den Niederlanden nicht mehr kooptiert, sondern von der Hauptversammlung gewählt. Internationale Holdinggesellschaften sind mitbestimmungsfrei und nur die nationalen Obergesellschaften drittelparitätisch mitbestimmt. In Deutschland sah zunächst das Betriebsrätegesetz von 1920 sowie als Durchführungsgesetz das Gesetz über die Entsendung von Betriebsratsmitgliedern in den Aufsichtsrat eine Beteiligung im Aufsichtsrat vor. Nach der Aufhebung der Mitbestimmung im Dritten Reich gab es bereits kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs erste privatautonome Vereinbarungen über eine paritätische Mitbestimmung in der Montanindustrie, es folgten das Montan-Mitbestimmungsgesetz, das BetrVG 1952 (nunmehr: Drittelbeteiligungsgesetz), das Montan-Mitbestimmungsergänzungsgesetz sowie das MitbestG 1976. Differenziert wird insbesondere nach der Zahl der Arbeitnehmer. Bei Kapitalgesellschaften mit bis zu 2000&nbsp;Arbeitnehmern greift eine drittelparitätische Mitbestimmung nach dem Drittelbeteiligungsgesetz ein, bei über 2.000&nbsp;Arbeitnehmern eine quasi-paritätische Mitbestimmung nach dem MitbestG 1976. Besondere Regeln ohne Zweitstimmrecht des Aufsichtsratsvorsitzenden kennen die Mitbestimmungsregeln zur Montanindustrie. Als Gründe für den Abschluss von Mitbestimmungsvereinbarungen in der Montanindustrie ab 1946 werden der Schutz vor Entflechtung, aber auch vor Demontage durch die Alliierten genannt; getragen wurde die unternehmerische Mitbestimmung von den Kirchen und den relevanten politischen Parteien. Die Mitbestimmungskommission ging bei der Vorbereitung des eine quasi-paritätische Mitbestimmung vorsehenden Mitbestimmungsgesetzes 1976 Anfang der 1970er Jahre davon aus, dass die unternehmerische Mitbestimmung durch die grundgesetzliche Garantie der Menschenwürde gefordert werde.<br />
<br />
Insbesondere England, Italien und Spanien kennen keine unternehmerische Mitbestimmung. Frankreich kennt einen Arbeitnehmerausschuss (''comitée d’entreprise'') sowie eine Sonderregelung für den Fall, dass die Arbeitnehmer drei Prozent der Aktien halten. In Polen gilt eine unternehmerische Mitbestimmung im Aufsichtsrat für privatisierte Staatsunternehmen.<br />
<br />
== 7. Gemeinsame Regeln und Entwicklungsperspektiven ==<br />
Auf nationaler und auf europäischer Ebene wird zwischen betrieblicher und unternehmerischer Mitbestimmung nicht immer klar getrennt. Dies zeigt nicht nur die Schwierigkeit der Einordnung des französischen ''comité d’entreprise''. Keinen expliziten Bezug zur betrieblichen oder unternehmerischen Mitbestimmung stellen auch die Richtlinie zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft sowie die sonstigen Rechtsakte auf, die eine Information der Arbeitnehmer vorsehen. Zu nennen sind hier die Anhörung bei der Verschmelzung sowie die Information beim Betriebsübergang. Auch vor dem Hintergrund einer Zusammenfassung von betrieblicher und unternehmerischer Mitbestimmung stellt sich die Frage nach den Entwicklungsperspektiven der Mitbestimmung auf europäischer und nationaler Ebene. <br />
<br />
In Europa wurde 2009 die Richtlinie über Europäische Betriebsräte neu gefasst (s.o. 2.). Darin vorgesehen wird auch eine Verzahnung des Europäischen Betriebsrats mit der nationalen Arbeitnehmervertretung. Hinsichtlich der unternehmerischen Mitbestimmung stellt sich die Frage nach Entwicklungsperspektiven auf nationaler Ebene. Dabei steht vor allem die deutsche quasi-paritätische unternehmerische Mitbestimmung auf dem Prüfstand. In einem Gutachten für den Deutschen Juristentag wurde in Abkehr vom bisherigen strikten Mitbestimmungsregime die Einführung einer Verhandlungslösung vorgeschlagen. Diese sowie weitergehende Vorschläge konnten bislang indes nicht umgesetzt werden. Als mittel- und langfristiger Innovationsmotor über Deutschland hinaus könnte sich die Wahl zwischen dualistischem und monistischem System erweisen. Die modernen Regelungen in Ungarn sowie in Slowenien zeigen die Notwendigkeit einer Differenzierung. Auch die Niederlande kennen mit den Regeln über internationale Holdings eine Sonderregeln für Verwaltungsräte. Aktuell vorgeschlagen wird für Deutschland die Zulassung einer Mitbestimmungsvereinbarung.<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Klaus J. Hopt'', Grundprobleme der Mitbestimmung in Europa, Zeitschrift für Arbeitsrecht 1982, 207&nbsp;ff.; ''Peter Hanau'','' Heinz-Peter Steinmeyer'','' Rolf Wank ''(Hg.), Handbuch des Europäischen Arbeits- und Sozialrechts, 2002; ''Manfred Weiss'','' ''Arbeitnehmermitwirkung in Europa, Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht 2003, 177&nbsp;ff.; ''Theodor Baums'','' Peter Ulmer ''(Hg.), Unternehmens-Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Recht der EU-Mitgliedstaaten, Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht, Beiheft 72, 2004; ''Markus Roth'', Unternehmerische Mitbestimmung in der monistischen SE, Zeitschrift für Arbeitsrecht 2004, 431&nbsp;ff.;'' Catherine Barnard'','' ''EC Employment Law, 3.&nbsp;Aufl. 2006; ''Thomas Raiser'', Unternehmensmitbestimmung vor dem Hintergrund europarechtlicher Entwicklungen, Gutachten&nbsp;B zum 66.&nbsp;Deutschen Juristentag, B&nbsp;1-116, 2006; ''Robert Rebhahn'', Unternehmensmitbestimmung vor dem Hintergrund europarechtlicher Entwicklungen: Unternehmensmitbestimmung aus europäischer Sicht, Verhandlungen des 66.&nbsp;Deutschen Juristentages 2006, Bd.&nbsp;II/1 (Referate), M&nbsp;9-38; ''Martin Henssler'','' Axel Braun ''(Hg.), Europäisches Arbeitsrecht, 2.&nbsp;Aufl. 2007; ''Gregor Thüsing'','' Gerrit Forst'', Europäische Betriebsräte-Richtlinie: Neuerungen und Umsetzungserfordernisse, Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht 2009, 408&nbsp;ff.<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Co-Determination]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Personenstandswesen&diff=1653Personenstandswesen2021-09-08T10:20:05Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Walter Pintens]]''<br />
== 1. Begriff ==<br />
Mit dem Personenstandswesen organisiert der Staat die Registrierung des Zivilstandes seiner Bürger durch die Ausfertigung von Personenstandsurkunden. Diese Registrierung ist sowohl für die Bürger als für den Staat von großer Bedeutung, denn sie ermöglicht den Bürgern, ihren Status nachzuweisen. Dies ist nicht nur in familienrechtlichen Angelegenheiten wichtig, sondern auch für den Nachweis von erbrechtlichen und sozialrechtlichen Ansprüchen. Für den Staat ist das Personenstandswesen von Bedeutung, nicht nur um seine Bürger registrieren zu können, sondern auch um Dokumente wie Personalausweise, Reisepässe oder Führerscheine ausstellen zu können. Überdies verfügt der Staat durch die Registrierung über die notwendigen Daten, die er für seine Planung braucht.<br />
<br />
== 2. Historische Entwicklung ==<br />
Der Ursprung des Personenstandswesens geht zurück auf die Register der kirchlichen Gemeinden, die seit dem 14.&nbsp;Jahrhundert in Europa geführt und durch das Konzil von Trient mit dem Dekret Tametsi von 1563 geregelt wurden. Da diese Register nicht nur für die Kirche, sondern auch für den Staat von Bedeutung waren, haben z.B. Frankreich, die nordischen Staaten und Österreich versucht, Einfluss auf die Registerführung zu nehmen. Aber zu einer staatlichen Registerführung kam es erst nach der französischen Revolution. Die französische Verfassung hat die Gemeinden mit der Registerführung beauftragt, ein Modell, das sich über ganz Europa verbreitet hat, auch wenn einige Rechtssysteme entweder für ein zentralistischeres System optiert oder sogar die kirchliche Registrierung beibehalten haben.<br />
<br />
== 3. Das Standesamt ==<br />
Die meisten Rechtssysteme beauftragen die Gemeinden mit der Organisation des Standesamts und der Registerführung. In manchen Systemen, wie etwa dem belgischen, französischen, griechischen, italienischen oder polnischen wird der Funktion des Standesbeamten von einem Gemeindepolitiker ausgeübt. In der Regel ist dies der Bürgermeister oder ein Beigeordneter, welchem wiederum Beamte beistehen oder der sich durch sie vertreten lassen kann. In anderen Systemen, wie dem deutschen, niederländischen, ungarischen oder schweizerischen haben Politiker keine Aufgaben – mit Ausnahme der Eheschließung in einigen Systemen – und der Standesbeamte ist ein Beamter, der seine Tätigkeit unabhängig und nicht weisungsgebunden ausübt.<br />
<br />
In Spanien fällt der ''Registro Civil'' in die Kompetenz der Gerichte. Der Standesbeamte ist ein Richter.<br />
<br />
Im Vereinigten Königreich fällt die Organisation des Personenstandswesens in die Kompetenz der Teilgebiete. Sie ist in England und Wales, Schottland und Nordirland nach den gleichen Prinzipien organisiert, wenn auch mit vielen Unterschieden in der Praxis. In jedem Gebiet gibt es ein General Register Office, geleitet von einem Register General, der sogar Verordnungsgewalt hat. Vor Ort sind nicht die Gemeinden, sondern'' Local Councils'' zuständig. Sie ernennen die ''Local Registrars''. Auch Slowenien kennt eine vergleichbare Organisation mit dem Innenministerium als zentraler Organisation und lokalen Behörden, die mehrere Gemeinden umfassen.<br />
<br />
Die nordischen Rechtssysteme, welche lange die kirchliche Registrierung von Geburten, Eheschließungen und Sterbefällen beibehalten haben und staatliche Register in den Gemeinden für Bürger, die keine Mitglieder waren, vorgehalten haben, haben nun ein staatliches Personenstandswesen eingeführt, das meistens vom Bevölkerungsregister geführt wird. In Schweden fällt das Personenstandswesen in die Zuständigkeit der Steuerverwaltung. Die lokalen Steuerbehörden fungieren als Standesamt.<br />
<br />
In Kroatien, Italien, Polen, Portugal, den nordischen Staaten, Spanien und dem Vereinigten Königreich haben kirchliche Eheschließungen zivilrechtliche Wirkungen, und der Geistliche fertigt die Heiratsurkunde aus.<br />
<br />
In vielen Rechtssystemen haben bestimmte Standesämter eine breitere örtliche Zuständigkeit. So hat meistens ein Standesamt der Hauptstadt eine internationale Zuständigkeit (z.B. Belgien, Deutschland, Ungarn).<br />
<br />
Das Wiener Übereinkommen vom 24.4.1963 über konsularische Beziehungen sowie eine große Anzahl von bilateralen Übereinkommen ermöglichen es, diplomatische Missionen und Konsulate mit zivilstandsrechtlichten Aufgaben zu beauftragen.<br />
<br />
Da der Standesbeamte nicht weisungsgebunden ist, sind höhere Behörden (z.B. das Justiz- oder Innenministerium) meistens nur zuständig für Disziplinarmaßnahmen, während die inhaltliche Kontrolle der Register bei den Gerichten liegt (z.B. Belgien, Frankreich, Griechenland, Italien). In einigen Rechtssystemen ist eine Verwaltungsbehörde für beide Aufgaben zuständig (z.B. Kroatien, Österreich, Polen, die Schweiz).<br />
<br />
== 4. Registerführung und weitere Aufgaben ==<br />
In den meisten Rechtssystemen werden drei Register geführt, jeweils für Geburten, für Eheschließungen und für Todesfälle (z.B. in Belgien, Frankreich, Österreich). Einige Systeme haben zusätzliche Register z.B. für registrierte Partnerschaften (z.B. in Dänemark, Deutschland).<br />
<br />
Die Registerführung ist detailliert in den Zivilgesetzbüchern oder in Personenstandsgesetzen beschrieben.<br />
<br />
Nach den Erklärungen der Parteien wird eine Personenstandsurkunde errichtet, welche in das betreffende Register eingetragen wird. Gerichtsentscheidungen, z.B. die Vaterschaftsuntersuchung betreffend oder Erklärungen, welche den Personenstand ändern (z.B. die Anerkennung) werden in das zutreffende Personenstandsregister eingetragen oder transkribiert, wobei ein Randvermerk in der ursprünglichen Urkunde angebracht wird. In England bleibt die ursprüngliche Urkunde unverändert und die Änderungen werden in einem Änderungsregister vermerkt.<br />
<br />
Meistens werden die Personenstandsregister nunmehr elektronisch geführt und auf Papier ausgedruckt, was eine Anpassung der Regel erforderlich gemacht hat und Probleme des Datenschutzes hervorgerufen hat. In einigen Rechtssystemen wird inzwischen das ganze Personenstandswesen rein elektronisch verwaltet, und es bestehen keine Papierregister mehr (wie z.B. in der Schweiz und Slowenien).<br />
<br />
Das Standesamt ist zuständig für die Ausstellung von Abschriften und Auszügen aus den Personenstandsregistern. Die Gesetze regeln, wer Recht auf die Dokumente hat.<br />
<br />
In vielen Rechtssystemen hat der Standesbeamte noch andere Aufgaben. In Belgien, Polen und Ungarn z.B. ist der Standesbeamte zuständig für das Bevölkerungsregister. In Portugal ist Letzterer für einvernehmliche Scheidungen zuständig.<br />
<br />
== 5. Internationale Zivilstands&shy;kommission ==<br />
Die 1950 gegründete ''Commission Internationale de l’Etat Civil'' (CIEC) ist eine internationale Organisation mit Sitz in Straßburg, die nach dem Austritt Österreichs aus fünfzehn europäischen Staaten besteht. Die CIEC will die internationale Zusammenarbeit in Personenstandssachen sowie den Austausch von Informationen zwischen Standesbeamten fördern.<br />
<br />
Eine rechtsvergleichende Dokumentation, ''Guide Pratique International de l’Etat Civil ''ist auf der CIEC-Website zugänglich.<br />
<br />
Mit Übereinkommen und Empfehlungen fördert die CIEC die Harmonisierung des Personenstandsrechts. Besonders hervorzuheben ist eine Reihe von eher technischen Übereinkommen, welche die Anerkennung von in einem Mitgliedstaat angestellten Personenstandsurkunden in den anderen Mitgliedstaaten fördern. Ein Beispiel ist das Übereinkommen vom 8.9.1976 über die Ausstellung mehrsprachiger Auszüge aus Personenstandsbüchern. Die Auszüge werden nach einem uniformen Modell ausgestellt und haben in den Mitgliedstaaten die gleiche Kraft wie inländische. Sie sind ohne Legalisation oder Beglaubigung anzunehmen.<br />
<br />
== 6. Personenstand und Gemeinschaft ==<br />
Die [[Europäische Union]] hat keine Kompetenz im materiellen Personenstandsrecht. Auf der Grundlage des Art.&nbsp;65 EG/81 AEUV bereitet die [[Europäische Kommission]] ein Grünbuch über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung in Personenstandssachen vor. Die dazu von der Kommission in Auftrag gegebene'' Comparative study on the legislation of the Member States of the European Union on civil status'','' practical difficulties encountered in this area by citizens wishing to exercise their rights in the context of a European area of justice in civil matters and the options available for resolving these problems and facilitating citizens' lives (2008)'' empfiehlt Maßnahmen, um die Anerkennung von Personenstandsurkunden eines Mitgliedstaates in den anderen Mitgliedstaaten zu garantieren. Weiterhin schlägt die Studie die Gründung eines ''Civil Status Offices'' vor, welches als ''Clearing House'' dienen soll.<br />
<br />
Der [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] hat, der Linie der ''Konstantinidis''-Entscheidung (Rs.&nbsp;C-168/91, Slg. 1993, I-01191) zum [[Namensrecht]] folgend, bestätigt, dass die Kompetenz für Personenstandssachen bei den Mitgliedstaaten liegt (Rs.&nbsp;C-336/94 – ''Dafeki'', Slg. 1997, I-6761). Obwohl der EuGH betont, dass Mitgliedstaaten nach Gemeinschaftsrecht nicht verpflichtet sind, nachträgliche Berichtigungen von Personenstandsurkunden durch Behörden eines anderen Mitgliedstaats so zu behandeln wie Berichtigungen durch den eigenen Staat, stellt er trotzdem fest, dass die Behörden und Gerichte eines Mitgliedstaats im Hinblick auf die Freizügigkeit der Arbeitnehmer nach Art.&nbsp;39 EG/45 AEUV verpflichtet sind, von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellte Personenstandsurkunden zu beachten, sofern deren Richtigkeit nicht durch konkrete, auf den jeweiligen Einzelfall bezogene Anhaltspunkte ernstlich in Frage gestellt ist, da die Ansprüche, die sich aus der Freizügigkeit der Arbeitnehmer ergeben, nur mit Vorlage von Personenstandsurkunden aus dem Heimatland geltend gemacht werden können. Die Entscheidung ''Dafeki'' gleicht die Beweiskraft einer ausländischen und einer inländischen Personenstandsurkunde einander an.<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Franz Görgen'','' Michael Will'', Der Standesbeamte, 1983; ''Commission Internationale de l’Etat Civil'' (Hg.), Conventions et Recommendations (1956–1987), 1988; ''W. Zeyringer'', Registration of civil status, in: IECL IV, Kap. 2 VII., 1995; ''Commission Internationale de l’Etat Civil'','' ''Question d’actualité en droit des personnes dans les Etats de la CIEC, 1999; ''Ole Kramp'', Vom Aufgebot zum europäischen Heiratsregister, 2007; ''Chantal Nast'', Civil-status registration and position of registrars in some member States of the International Commission on Civil Status, 2007 (http://www.ciec1.org, zuletzt abgerufen am 15.7.2009); ''Walter Pintens'', Familienrecht und Personenstand, Das Standesamt 2008, 97&nbsp;ff.;'' Commission Internationale de l’Etat Civil''(Hg.), Guide Pratique International de l’Etat Civil, http://ciec1.org/GuidePratique/index.htm (zuletzt abgerufen am 15.7.2009); ''Commission Internationale de l’Etat Civil'','' ''L’Etat civil au XXIème siècle: déclin ou renaissance, 2009; ''Alexander Bergmann'', ''Murad Ferid'', ''Dieter Henrich'' (Hg.), Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht mit Staatsangehörigkeitsrecht, 20 Bde. Loseblatt).<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Civil_Status_Registration]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Zivil-_und_Handelssache&diff=1651Zivil- und Handelssache2021-09-08T10:19:35Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Anatol Dutta]]''<br />
== 1. Bestandsaufnahme ==<br />
Dem Europarecht ist die Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Recht nicht unbekannt. Sie hat aber anders als in einigen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen keine grundsätzliche Bedeutung, vor allem da sich die [[Gesetzgebungskompetenz der EG/EU|Gesetzgebungskompetenzen der Gemeinschaft]] an Sachgebieten und – von einigen Ausnahmen abgesehen – nicht an dieser Unterscheidung orientieren. Dennoch klingt auch im Europarecht an zahlreichen Stellen die Dichotomie zwischen privatem und öffentlichem Recht an. So gelten etwa die Grundfreiheiten für bestimmte Tätigkeiten nicht, die mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind (Art. 39(4), 45(1), 55 EG/45(4), 51(1), 62 AEUV), um den Kern der mitgliedstaatlichen Eigenstaatlichkeit nicht anzutasten. Besonders augenfällig wird die Bedeutung der Dichotomie zwischen privatem und öffentlichem Recht für das Gemeinschaftsrecht freilich beim Begriff der Zivil- und Handelssache.<br />
<br />
Die Wendung „Zivil- und Handelssache“ findet sich in zahlreichen europäischen Rechtsakten im Bereich des internationalen Privat- und Verfahrensrechts zur Beschreibung des jeweiligen Anwendungsbereichs. Der Begriff der Zivil- und Handelssache tauchte im Gemeinschaftsrecht zuerst im Rahmen des Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommens von 1968 (EuGVÜ) auf. Das EuGVÜ – wie heute die Europäische Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung (VO&nbsp;44/2001) – ist nach Art.&nbsp;1(1)1 sachlich nur auf Zivil- und Handelssachen anzuwenden, obwohl der damalige Art.&nbsp;220 EWG-Vertrag, auf dem das EuGVÜ beruht, die Mitgliedstaaten zum Abschluss von Völkerverträgen zur gegenseitigen Anerkennung ihrer Urteile aufforderte und gerade nicht auf Zivilsachen beschränkt war. Neu war der Begriff der Zivil- und Handelssache aber bereits 1968 nicht. Auch die Übereinkommen der [[Haager Konferenz für IPR]] beschränken ihren Anwendungsbereich zum Teil auf „civil or commercial matters“ oder „en matière civile ou commerciale“ (vgl. etwa Art.&nbsp;1(1) HZÜ; [[Zustellung]]).<br />
<br />
Im Gemeinschaftsrecht wird in nahezu allen auf Art. 61(c), 65 EG/81 AEUV basierenden Rechtsakten auf den Begriff der Zivil- und Handelssache zurückgegriffen, da diese Kompetenznormen nur Maßnahmen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen gestatten: So taucht der Begriff nunmehr neben der EuGVO (VO 44/2001) auf in der Beweisaufnahme-VO (Art.&nbsp;1(1) VO 1206/2001; [[Beweisrecht, internationales]]), der Prozesskostenhilfe-RL (Art. 1(2)1 RL 2003/8; [[Prozesskostenhilfe]]), der Vollstreckungstitel-VO (Art. 2(1)1 VO 805/2004), der Mahnverfahrens-VO (Art. 2(1)1 VO 1896/2006), der Bagatellverfahrens-VO (Art. 2(1)1 VO 861/ 2007), der Rom II-VO (Art. 1(1)1 VO 864/2007; [[Außervertragliche Schuldverhältnisse (IPR)]]); der Zustellungs-VO (Art. 1(1)1 VO 1393/2007; [[Zustellung]]) sowie der Rom I-VO (Art. 1(1) VO 593/2008; [[Vertragliche Schuldverhältnisse (IPR)]]). Die Brüssel IIa-VO (Art. 1(1) VO 2201/ 2003) verweist als familienverfahrensrechtliches Instrument freilich nur auf Zivilsachen. Dagegen unterbleibt in der EuInsVO (VO 1346/2000; [[Insolvenz, grenzüberschreitende]]) eine ausdrückliche Beschränkung auf Zivil- und Handelssachen, weil Insolvenzverfahren offenbar stets als Zivil- und Handelssachen angesehen werden (vgl. Erwägungsgrund 2). Es darf aber nicht übersehen werden, dass die EuInsVO auch öffentlichrechtliche Gegenstände erfasst; Art. 39 sieht eine Anmeldung von Forderungen der mitgliedstaatlichen Steuerbehörden und Sozialversicherungsträger im Insolvenzverfahren vor. Keine ausdrückliche Beschränkung auf Zivil- und Handelssachen enthält auch die Unterhalts-VO (VO<nowiki> </nowiki>4/2009); [[Unterhalt]]), sondern begrenzt ihren Anwendungsbereich auf Unterhaltssachen (vgl. Art. 1(1)).<br />
<br />
== 2. Autonome Auslegung ==<br />
Die Judikatur des [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] zur Auslegung des Begriffs der Zivil- und Handelssache betraf bisher nur das EuGVÜ, die EuGVO und die Brüssel&nbsp;IIa-VO. Von Anfang an hat der Gerichtshof festgelegt, dass der Begriff der Zivil- und Handelssache autonom auszulegen ist ([[Auslegung des Gemeinschaftsrechts]]), vor allem unter Berücksichtigung der Zielsetzungen des jeweiligen Rechtsaktes sowie der allgemeinen Rechtsgrundsätze, die sich aus der Gesamtheit der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ergeben (vgl. EuGH Rs.&nbsp;29/76 – ''Eurocontrol'','' ''Slg. 1976, 1541, Rn.&nbsp;3; Rs.&nbsp;814/79 – ''Rüffer'', Slg. 1980, 3807, Rn.&nbsp;7; Rs.&nbsp;C-172/91 – ''Sonntag'','' ''Slg. 1993, I-1963, Rn.&nbsp;18, 25; Rs.&nbsp;C-271/00 – ''Gemeente Steenbergen'', Slg. 2002, I-10489, Rn.&nbsp;28; Rs.&nbsp;C-266/01 – ''TIARD'','' ''Slg. 2003, I-4867, Rn.&nbsp;20; Rs.&nbsp;C-343/04 – ''ČEZ'','' ''Slg. 2006, I-4557, Rn.&nbsp;22; Rs.&nbsp;C-292/05 – ''Lechouritou'', Slg. 2007, I-1519, Rn.&nbsp;29<nowiki>; Rs.&nbsp;C-435/06 – </nowiki>''C'', Slg. 2007, I-10141, Rn.&nbsp;46; Rs.&nbsp;C‑420/07 – ''Apostolides'', EuLF (Section I) 2009, 9, Rn.&nbsp;41). Diese autonome Auslegung ist freilich nicht immer ein einfaches Unterfangen, weil die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zum Teil unterschiedlicher Auffassung über die Qualifikation eines Rechtsstreits als Zivil- und Handelssache sind. Beispielsweise haben die englischen Gerichte im Rahmen der Haager Übereinkommen den Begriff der Zivil- und Handelssache völlig anders ausgelegt als die kontinentalen Gerichte. So hat das ''House of Lords'' in ''Re State of Norway’s Application''[1990] 1 AC&nbsp;723, 806 bei der Auslegung einer nationalen Vorschrift, die auf dem Haager Beweisaufnahmeübereinkommen von 1970 ([[Beweisrecht, internationales]]) beruht, Steuerstreitigkeiten als Zivil- und Handelssache angesehen und – <nowiki> </nowiki>''lege fori'' qualifizierend – sämtliche Streitigkeiten mit Ausnahme der strafrechtlichen als ''civil and commercial matters'' angesehen.<br />
<br />
== 3. Abgrenzungskriterien im Europäischen Zivilprozessrecht (EuGVÜ und EuGVO) ==<br />
Grundsätzlich fällt nach der Rechtsprechung des EuGH ''nicht jeder'' Rechtsstreit zwischen einem Hoheitsträger und einer Privatperson aus dem sachlichen Anwendungsbereich des europäischen Zuständigkeits- und Vollstreckungsrechts heraus (EuGH Rs.&nbsp;29/76 – ''Eurocontrol'','' ''Slg. 1976, 1541, Rn.&nbsp;4; Rs.&nbsp;814/79 – ''Rüffer'', Slg. 1980, 3807, Rn.&nbsp;8; Rs.&nbsp;C-172/91 – ''Sonntag'','' ''Slg. 1993, I-1963, Rn.&nbsp;21; Rs.&nbsp;C-271/00 – ''Gemeente Steenbergen'','' ''Slg. 2002, I-10489, Rn.&nbsp;30; Rs.&nbsp;C-266/01 – ''TIARD'','' ''Slg. 2003, I-4867, Rn.&nbsp;22; Rs.&nbsp;C-292/05 – ''Lechouritou'', Slg. 2007, I-1519, Rn.&nbsp;31; Rs.&nbsp;C‑420/07 – ''Apostolides'', EuLF (Section I) 2009, 9, Rn.&nbsp;43). Zu Recht folgt also auch der EuGH nicht der formalen ''Subjektstheorie'', die einen Rechtsstreit schon dann als öffentlichrechtlich ansieht, wenn eine der Parteien ein Hoheitsträger ist. Vielmehr kommt es dem EuGH bei der Auslegung des Begriffs der Zivil- und Handelssache im Zivilprozessrecht vor allem auf die Natur des zwischen den Parteien bestehenden streitgegenständlichen Rechtsverhältnisses an (EuGH Rs.&nbsp;29/76 – ''Eurocontrol'','' ''Slg. 1976, 1541, Rn.&nbsp;4; Rs.&nbsp;814/79 – ''Rüffer'', Slg. 1980, 3807, Rn.&nbsp;8, 14; Rs.&nbsp;C-167/00 – ''Henkel'', Slg. 2002, I-8111, Rn.&nbsp;29; Rs.&nbsp;C-271/00 – ''Gemeente Steenbergen'','' ''Slg. 2002, I-10489, Rn.&nbsp;29; Rs.&nbsp;C-266/01 – ''TIARD'','' ''Slg. 2003, I-4867, Rn.&nbsp;22&nbsp;f.; Rs.&nbsp;C-343/04 – ''ČEZ ''Slg. 2006, I-4557, Rn.&nbsp;22; Rs.&nbsp;C-292/05 – ''Lechouritou'', Slg. 2007, I-1519, Rn.&nbsp;30; Rs.&nbsp;C‑420/07 – ''Apostolides'', EuLF (Section I) 2009, 9, Rn.&nbsp;42). Allerdings reicht es nicht aus, wie der EuGH bereits in ''Henkel'' festgestellt hat, dass der Rechtsstreit aus der Tätigkeit einer Partei resultiert, die im Allgemeininteresse handelt (EuGH Rs.&nbsp;C-167/00 – ''Henkel'','' ''Slg. 2002, I-8111, Rn.&nbsp;25&nbsp;ff.); der EuGH verwirft damit offenbar auch ''Ulpians'' Interessentheorie (vgl. Ulp. D. 1,1,1,2: „Publicum ius est quod statum rei Romanae spectat, privatum, quod ad singolorum utilitatem: sunt enim quaedam publice utilia, quaedam privatim“). Diese Abgrenzungslehre gilt aber ohnehin als überholt, weil unzweifelhaft auch das Privatrecht öffentlichen Zwecken dienen kann.<br />
<br />
Eine Zivil- und Handelssache i.S.d. EuGVÜ und der EuGVO ist vielmehr dann ausgeschlossen, wenn die streitgegenständlichen Rechtsbeziehungen, insbesondere die Grundlage der erhobenen Klage und ihre Modalitäten, durch eine Ausübung hoheitlicher Befugnisse geprägt sind (EuGH Rs.&nbsp;29/76 – ''Eurocontrol'','' ''Slg. 1976, 1541, Rn.&nbsp;4; Rs.&nbsp;814/79 – ''Rüffer'', Slg. 1980, 3807, Rn.&nbsp;8; Rs.&nbsp;C-172/91 – ''Sonntag'','' ''Slg. 1993, I-1963, Rn.&nbsp;20; Rs.&nbsp;C-167/00 – ''Henkel'', Slg. 2002, I-8111, Rn.&nbsp;26; Rs.&nbsp;C-271/00 – ''Gemeente Steenbergen'', Slg. 2002, I-10489, Rn.&nbsp;30; Rs.&nbsp;C-292/05 – ''Lechouritou'', Slg. 2007, I-1519, Rn.&nbsp;31; Rs.&nbsp;C-420/07 – ''Apostolides'', EuLF (Section I) 2009, 9, Rn.&nbsp;43). Anders gewendet, dürfen von keiner Partei Befugnisse wahrgenommen worden sein, die von den im Verhältnis zwischen Privatpersonen geltenden Regeln abweichen (EuGH Rs.&nbsp;C-172/91 – ''Sonntag'', Slg. 1993, I-1963, Rn.&nbsp;22; Rs.&nbsp;C-167/00 – ''Henkel'', Slg. 2002, I-8111, Rn.&nbsp;30; Rs.&nbsp;C-271/00 – ''Gemeente Steenbergen'', Slg. 2002, I-10489, Rn.&nbsp;34, 36; Rs.&nbsp;C-433/01 – ''Freistaat Bayern'', Slg. 2004, I-981, Rn.&nbsp;20&nbsp;f.; Rs.&nbsp;C-266/01 – ''TIARD'', Slg. 2003, I-4867, Rn.&nbsp;30; Rs.&nbsp;C-265/02 – ''Frahuil'', Slg. 2004, I-1543, Rn.&nbsp;21; Rs.&nbsp;C-292/05 – ''Lechouritou'', Slg. 2007, I-1519, Rn.&nbsp;34; Rs.&nbsp;C-420/07 – ''Apostolides'', EuLF (Section I) 2009, 9, Rn.&nbsp;44). Damit befindet sich der EuGH grundsätzlich im Einklang mit der in Deutschland unter dem Begriff ''Sonderrechtstheorie ''bekannten und verbreiteten Abgrenzungslehre, wonach bei einer öffentlichrechtlichen Streitigkeit über Normen gestritten wird, die den Staat gerade als Hoheitsträger berechtigen (vgl. etwa GSoGB 10.4.1986, BGHZ 97, 312, 313&nbsp;f.; GSoGB 10.7.1989, BGHZ 108, 284, 286&nbsp;f.). Allerdings sollte eine Übereinstimmung der maßgeblichen Abgrenzungskriterien nicht darüber hinweg täuschen, dass damit noch keine Einheitlichkeit in der Anwendung dieser Kriterien erreicht ist. Die Sonderrechtslehre ist einem starken Vorbehalt ausgesetzt, der ihre einheitliche Anwendung stark einschränkt. Letztendlich umschreibt und formuliert die Sonderrechtslehre nämlich nur das Abgrenzungsproblem, hält aber selbst keine Lösung parat: Unter welchen Umständen der Hoheitsträger hoheitliche Befugnisse ausübt, ist genau die Frage, welche die Sonderrechtslehre eigentlich beantworten soll.<br />
<br />
Will man deshalb Genaueres über das europäische Verständnis vom Privatrecht und vom öffentlichen Recht erfahren, muss man die ''Einzelfälle'' betrachten, in denen der Gerichtshof das streitgegenständliche Rechtsverhältnis als durch die Ausübung hoheitlicher Befugnisse geprägt angesehen hat. Anhaltspunkte für die Entscheidung im Einzelfall geben die Rechtsakte nur bedingt; der Gesetzeswortlaut in Art.&nbsp;1(1)2 EuGVÜ/ EuGVO klammert nur Steuer- und Zollsachen sowie verwaltungsrechtliche Angelegenheiten als Nichtzivilsachen aus. Für Zwecke des Art.&nbsp;1(1)1 EuGVÜ hat der Gerichtshof etwa in ''Eurocontrol'' eine Nichtzivilsache angenommen, wenn eine Privatperson einer staatlichen Stelle für Dienstleistungen, deren Inanspruchnahme zwingend ist, Gebühren schuldet, deren Höhe, Berechnung und Erhebungsverfahren einseitig gegenüber den Benutzern festgesetzt wird (EuGH Rs.&nbsp;29/76 – ''Eurocontrol'', Slg. 1976, 1541). Auch den Rechtsstreit über einen Kostenerstattungsanspruch wegen Beseitigung von Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gegen den Störer hat der EuGH in ''Rüffer'' nicht als Zivil- und Handelssache angesehen, weil der Staat gegen den Störer hoheitliche Befugnisse ausübt (EuGH Rs.&nbsp;814/79 – ''Rüffer'', Slg. 1980, 3807). Demgegenüber hat der EuGH in ''TIARD'' eine Streitigkeit aus einem Bürgschaftsvertrag zwischen einem Hoheitsträger und einem Privaten zur Sicherung einer Zollabgabenforderung als Zivil- oder Handelssache qualifiziert: Der Bürgschaftsvertrag bleibe trotz des öffentlichrechtlichen Charakters der gesicherten Forderung privatrechtlich (EuGH Rs.&nbsp;C-266/01 – ''TIARD'', Slg. 2003, I-4867); die gesicherte öffentlichrechtliche Forderung sei nicht Gegenstand des konkreten Rechtsstreits, selbst wenn der Beklagte den Bestand der Zollabgabenforderung und damit auch seine akzessorische Haftung bestreite (EuGH a.a.O. Rn.&nbsp;41&nbsp;ff.). Auch den Rückgriff eines vom Staat in Anspruch genommenen Zollbürgen beim Schuldner der gesicherten Zollabgabenforderung qualifizierte der Gerichtshof in ''Frahuil'' als Zivil- und Handelssache (EuGH Rs.&nbsp;C-265/02 – ''Frahuil'', Slg. 2004, I-1543), obwohl der Bürge seinen Rückgriff auf einen Übergang der Zollforderung stützte und damit der streitgegenständliche Anspruch seinen Ursprung in einem Hoheitsakt hatte, nämlich dem Zollabgabenbescheid; die aus diesem Hoheitsakt entspringende Zollforderung ist jedoch mit ihrem Übergang auf den Zollbürgen als in der Person des Staates erloschen anzusehen, sie besteht lediglich als privatrechtliche Regressforderung beim leistenden Dritten fort. Auch einen Unterhaltsregress beim Unterhaltsschuldner durch einen öffentlichen Träger für Leistungen an den Unterhaltsgläubiger hat der EuGH in ''Gemeente Steenbergen'' und ''Freistaat Bayern'' grundsätzlich als Zivil- und Handelssache eingeordnet (EuGH Rs.&nbsp;C-271/00 – ''Gemeente Steenbergen'', Slg. 2002, I-10489, Rn.&nbsp;32&nbsp;ff.; Rs.&nbsp;C-433/01 – ''Freistaat Bayern'', Slg. 2004, I-981, Rn.&nbsp;20&nbsp;f.); auch hier bleibt die privatrechtliche Unterhaltsforderung bestehen; das öffentliche Recht bewirkt durch einen privatrechtsgestaltenden Hoheitsakt lediglich den Übergang der Forderung auf den Hoheitsträger, ändert aber gegenüber dem Unterhaltsschuldner nicht ihre Natur. Deshalb nimmt konsequenterweise nach dem Gerichtshof auch die Tatsache, dass eine private Partei das Eigentum an einem Grundstück unter Umständen von einem vorherigen Enteignungsakt ableitet, einem Rechtstreit zwischen privaten Parteien über das Eigentum und daraus fließende Ansprüche nicht den Charakter als Zivil- und Handelssache (EuGH Rs.&nbsp;C-420/07 – ''Apostolides'', EuLF (Section I) 2009, 9, Rn.&nbsp;40&nbsp;ff.). Ansprüche aus dem Eigentum bleiben privatrechtlich, selbst wenn die Eigentumslage durch privatrechtsgestaltende Hoheitsakte verändert wurde.<br />
<br />
Unklar ist auf den ersten Blick die Qualifikation der Amtshaftung. Diese Unklarheit folgt aus der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache ''Sonntag ''(EuGH Rs.&nbsp;C-172/91, ''Sonntag'' – Slg. 1993, I-1963). Hier hatte der Gerichtshof Schadensersatzansprüche gegen einen in Deutschland verbeamteten Lehrer wegen Verletzung seiner Aufsichtspflicht, die in einem italienischen Adhäsionsverfahren zugesprochen worden waren, als Zivil- und Handelssache angesehen, obwohl in einigen Mitgliedstaaten ein solcher Anspruch auf die Verletzung hoheitlicher Pflichten gestützt und eine Qualifikation als Zivilsache verneint wird: Die Aufsichtspflicht, so der Gerichtshof, treffe nicht nur einen verbeamteten Lehrer, sondern auch den Lehrer einer Privatschule; der Lehrer werde nicht gerade als Hoheitsträger verpflichtet. Es fallen damit offenbar nicht sämtliche Schadensersatzansprüche wegen staatlichen Unrechts aus dem Anwendungsbereich des europäischen Zivilprozessrechts heraus. Vielmehr werden nur Amtshaftungsklagen gegen den Staat ''bezüglich Hoheitsakte'' nicht als Zivilsachen qualifiziert (vgl. etw österreich. OGH 14.5.2001, SZ 74/86; ''Grovit v. De Nederlandsche Bank''<nowiki> [2006] 1 Lloyd’s Rep. 636 (QB))</nowiki>, wobei die Qualifikation als Hoheitsakt wiederum autonom zu erfolgen hat. Dies bestätigt auch die gesetzgeberische Konkretisierung des Begriffs der Zivil- und Handelssache in neueren Rechtsakten. Hier wird die Haftung für ''acta iure imperii'' als Nichtzivilsache qualifiziert (siehe etwa Art.&nbsp;2(1)2 der Vollstreckungstitel-VO sowie der Mahnverfahrens-VO, Art.&nbsp;1(1)2 Rom&nbsp;II-VO). Auch der Gerichtshof hat nunmehr in ''Lechouritou ''(EuGH Rs.&nbsp;C-292/05, Slg. 2007, I-1519) bestätigt, dass etwa Entschädigungsklagen wegen Operationen von Streitkräften im Krieg keine Zivil- und Handelssachen begründen, denn – anders als bei ''Sonntag'' – steht hier auch nach europäischem Verständnis eine Haftung für Hoheitsakte im Raum. Kriegshandlungen sind, auch wenn sie auf fremdem Staatsgebiet begangen werden (GA ''Ruiz-Jarabo Colomer'', Schlussanträge in der Rs.&nbsp;C-292/05 – ''Lechouritou'', Slg. 2007, I-1519, Rn.&nbsp;68&nbsp;f.) als Ausübungen hoheitlicher Befugnisse anzusehen.<br />
<br />
== 4. Einheitlicher Begriff der Zivilsache? ==<br />
Die im vorherigen Abschnitt erläuterte Rechtsprechung des EuGH zum Begriff der Zivil- und Handelssache betraf allein die Auslegung des [[Europäisches Zivilgesetzbuch|europäischen Zivilprozessrechts]] des EuGVÜ und der EuGVO. Es bestehen grundsätzlich keine Bedenken, diese Rechtsprechung auch auf andere Rechtsakte zu übertragen, die diesen Begriff verwenden. So hat der EuGH (in Rs.&nbsp;C-292/05 – ''Lechouritou'', Slg. 2007, I-1519, Rn.&nbsp;45) zur Auslegung des Art.&nbsp;1(1)1 EuGVÜ gesetzgeberische Konkretisierungen des Begriffs der Zivil- und Handelssache in anderen Rechtsakten herangezogen, und geht deshalb offenbar von einem einheitlichen Begriff der Zivil- und Handelssache im Gemeinschaftsrecht aus. Auch deutet der Gerichtshof im Hinblick auf den Begriff der Zivil- und Handelssache über diese sekundären Rechtsakte hinaus Systemdenken an. So greift der Gerichtshof in ''Sonntag'' (EuGH Rs.&nbsp;C-172/91,'' ''Slg. 1993, I-1963, Rn.&nbsp;24) auf Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten und zur Ausnahme für hoheitliches Handeln zurück. Umgekehrt macht der Gerichtshof seine Rechtsprechung zum Begriff der Zivil- und Handelssache auch zur Auslegung des übrigen Gemeinschaftsrechts, etwa zum Anwendungsbereich des europäischen [[Wettbewerbsrecht, internationales|Wettbewerbsrechts]], fruchtbar (vgl. EuGH Rs.&nbsp;C-364/92 – ''SAT Fluggesellschaft'', Slg. 1994, I-43, Rn.&nbsp;28).<br />
<br />
Dennoch sollte die ausgefeilte Rechtsprechung zum [[Europäisches Zivilprozessrecht|europäischen Zivilprozessrecht]] nicht ''unbesehen'' auf andere Rechtsakte übertragen werden, in denen der Begriff der Zivilsache verwendet wird. Insbesondere ist eine Übertragung auf Rechtsakte zweifelhaft, die das Zivil''verfahrens''recht im weiteren Sinne erfassen. Oftmals greifen etwa in Familienverfahren privates und öffentliches Recht stark ineinander, sodass Zusammengehöriges auseinander gerissen würde, wenn der jeweilige europäische Rechtsakt nur auf die zivilrechtlichen Aspekte des Falles anwendbar wäre. Dies zeigt sich sehr deutlich in der Entscheidung des Gerichtshofs im Fall ''C'' (EuGH Rs.&nbsp;C-435/06 – ''C'', Slg. 2007, I-10141) zum europäischen [[Kindschaftsrecht, internationales|internationalen Kindschaftsrechts]] der Brüssel&nbsp;IIa-VO. Der Gerichtshof hat hier konkludent entschieden – wie die GA ''Juliane Kokott'' zuvor ausdrücklich (in der Rs.&nbsp;C-435/06 – ''C'', Slg. 2007, I-10141, Rn.&nbsp;38) –, dass der Begriff der Zivilsache i.S.d. Art.&nbsp;1(1) Brüssel&nbsp;IIa-VO eigenen Regeln unterliegt. Denn bei der autonomen Auslegung muss auf die Zielsetzungen, Systematik und die Entstehungsgeschichte des ''jeweiligen'' Rechtsaktes und die ''jeweils'' einschlägigen gemeinsamen [[Allgemeine Rechtsgrundsätze|allgemeinen Rechtsgrundsätze]] der Mitgliedstaaten abgestellt werden, die unterschiedlich sein können. Auf dieser Grundlage hat der EuGH im Fall ''C'' entschieden, dass etwa die Inobhutnahme eines Kindes durch staatliche Behörden als Zivilsache i.S.d. Art.&nbsp;1(1) Brüssel&nbsp;IIa-VO zu qualifizieren ist. Solche Maßnahmen zum Schutz des Kindes, die der Staat in Ausübung seines Wächteramts trifft, könnte man nach den vom EuGH für Art.&nbsp;1(1)1 EuGVÜ/ EuGVO aufgestellten Kriterien durchaus auch als Nichtzivilsachen einordnen. Schließlich nimmt der Staat hier durch seine Gerichte oder Behörden zum Schutz des Kindeswohls Befugnisse wahr, die von den im Verhältnis zwischen Privatpersonen geltenden Regeln abweichen, zumal der Staat nicht, wie sonst im Zivilverfahrensrecht, private Rechte gerichtlich durchsetzt, sondern im Interesse der staatlichen Gemeinschaft aus sozialstaatlichen Erwägungen und zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung seinen Schutzpflichten nachkommt.<br />
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== Literatur==<br />
''Burkhard Heß'', Amtshaftung als „Zivilsache“ im Sinne von Art 1 Abs 1 EuGVÜ, Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts 1994, 10&nbsp;ff.; ''Ulrich Soltész'', Der Begriff der Zivilsache im Europäischen Zivilprozeßrecht, 1998; ''Reinhold Geimer'', Öffentlich-rechtliche Streitgegenstände, Praxis des internationalen Privat- und Verfahrensrechts 2003, 512&nbsp;ff.; ''idem'', in: idem,'' ''Rolf A. Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 2.&nbsp;Auf. 2004, Art.&nbsp;1 EuGVO Rn.&nbsp;1&nbsp;ff.; ''Jan Kropholler'', Europäisches Zivilprozeßrecht, 8.&nbsp;Aufl. 2005, Art.&nbsp;1 EuGVO Rn.&nbsp;1&nbsp;ff.; ''Peter Mankowski'', in: Thomas Rauscher (Hg.), Europäisches Zivilprozeßrecht, 2.&nbsp;Aufl. 2006, Art.&nbsp;1 EuGVO Rn.&nbsp;1&nbsp;ff.;'' Jürgen Basedow'', Die Europäische Zivilgesellschaft und ihr Recht, in: Festschrift für Claus-Wilhelm Canaris, Bd.&nbsp;I, 2007, 43&nbsp;ff.; ''idem'', Civil and commercial matters: A new key concept of Community law, in: Festschrift für Helge Johan Thue, 2007, 151&nbsp;ff.; ''Anatol Dutta'', Staatliches Wächteramt und europäisches Kindschaftsverfahrensrecht, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 2008, 835&nbsp;ff.; ''Horatia Muir Watt'','' Etienne Pataut'', Les actes jure imperii et le Règlement Bruxelles 1, A propos de l’affaire Lechouritou, Revue critique de droit international privé 97 (2008) 61&nbsp;ff.; ''Peter Schlosser'', EU-Zivilprozessrecht, 3.&nbsp;Aufl. 2009, Art.&nbsp;1&nbsp;EuGVO Rn.&nbsp;3&nbsp;ff.<br />
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[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Civil_and_Commercial_Matters]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Rechtswahl&diff=1649Rechtswahl2021-09-08T10:19:00Z<p>Richter: </p>
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<div>von ''[[Giesela Rühl]]''<br />
== 1. Begriff und Funktion ==<br />
Die Rechtswahlfreiheit ermöglicht den Parteien die Bestimmung des auf ihr Rechtsverhältnis anwendbaren Rechts. Sie ist neben der Freiheit zur Bestimmung des international zuständigen Gerichts ([[Gerichtsstandsvereinbarung, internationale]]) Ausdruck der kollisionsrechtlichen Parteiautonomie und stellt sich als Fortsetzung der materiellrechtlichen Privatautonomie dar ([[Vertragsfreiheit]]). Da sie dispositives ebenso wie zwingendes Recht erfasst, geht sie allerdings über die auf materiellrechtlicher Ebene gewährleistete Möglichkeit zur privatautonomen Gestaltung von Rechtsverhältnissen hinaus.<br />
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Als kollisionsrechtlicher Anknüpfungspunkt ([[Anknüpfung]]) spielt die Rechtswahlfreiheit in einer globalisierten Welt eine herausragende Rolle. Sie ermöglicht die sachgerechte Regelung von Einzelfällen, schafft Klarheit über das anzuwendende Recht und senkt die Kosten der Rechtsermittlung. Aus ökonomischer Sicht spricht für die Rechtswahlfreiheit die Vermutung der Effizienz: Da sich rationale Parteien nur dann auf eine Rechtswahl einlassen, wenn sie sich von ihr eine Steigerung ihres eigenen Nutzens versprechen, führt eine Rechtswahl regelmäßig zu einer Steigerung der gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt und damit zu dem aus ökonomischer Sicht wünschenswerten Zustand der Pareto-Effizienz. Die Gründe, die die Parteien für eine bestimmte Rechtswahl haben, spielen dabei keine Rolle. Unerheblich ist insbesondere, ob sie sich für ein bestimmtes Recht entscheiden, weil es ihren Bedürfnissen am besten entspricht, oder ob andere Faktoren – Vertrautheit, Neutralität, Reputation – ausschlaggebend sind. Solange die Parteien sich aus freien Stücken heraus einem bestimmten Recht unterwerfen, stellt sich die Wahl aus ökonomischer Sicht als effizient dar. Eine herausragende Rolle spielt die Rechtswahlfreiheit in einer globalisierten Welt aber nicht nur deswegen, weil sie zahlreiche Vorteile für die Parteien mit sich bringt und aus ökonomischer Sicht effizient ist. Von Bedeutung ist sie auch und vor allem deswegen, weil sie sich als wichtiges Instrument zur Ermöglichung eines [[Wettbewerb der Rechtsordnungen|Wettbewerbs der Rechtsordnungen]] darstellt. Da Parteien durch die Wahl eines ausländischen Rechts bestimmte Regelungen des eigentlich anwendbaren Rechts kostengünstig umgehen können, werden nationale Gesetzgeber nämlich dazu angehalten, ihre Rechtsordnung so auszugestalten, dass sie für die Parteien attraktiv ist. Unter der Voraussetzung, dass dieser Markt für rechtliche Regelungen funktioniert, kann die Rechtswahlfreiheit deshalb zu einer qualitativen Verbesserung rechtlicher Regelungen führen (''race to the top'').<br />
<br />
== 2. Historische Entwicklung ==<br />
Die Rechtswahlfreiheit ist verglichen mit anderen Anknüpfungsprinzipien eine verhältnismäßig junge „Erfindung“. Sie betritt die Bühne des [[internationales Privatrecht|internationalen Privatrechts]] nach Ansicht zahlreicher, insbesondere französischer Autoren im 16.&nbsp;Jahrhundert, und zwar mit dem Franzosen ''Charles Dumoulin ''(1500–1566). In seinen „Conclusiones de Statutis et Consuetudinibus Localibus“ zog er nämlich den vermuteten Parteiwillen heran, um internationale Eheverträge statt dem Recht des Abschlussortes dem Recht des gewöhnlichen Aufenthaltes des Ehemannes zu unterwerfen. Ein genauer Blick zeigt allerdings, dass es ''Dumoulin'' nicht darum ging, die Rechtswahlfreiheit als Anknüpfungsprinzip zu etablieren. Sein Anliegen war vielmehr die argumentative Untermauerung einer von der ''lex loci contractus ''abweichenden objektiven [[Anknüpfung]]. Den Parteiwillen sah er folglich als Argumentationshilfe und nicht als eigenständiges Anknüpfungsprinzip an. Ähnliches gilt für die meisten Autoren des 17. und 18.&nbsp;Jahrhunderts: Der Niederländer ''Ulrich Huber ''(1636–1694) stellte in „De Conflictu Legum“ auf den vermuteten Parteiwillen ab, um die Anknüpfung von Verträgen an das Recht des Erfüllungsortes zu rechtfertigen. ''Lord Mansfield'' begründete in seinem berühmten ''obiter dictum ''aus dem Jahr 1760 (''Robinson v.'' ''Bland ''(1760) 2 Burr. 1077) die Anwendung englischen Rechts als Recht des Erfüllungsortes mit dem Hinweis darauf, dass die Parteien – vermutlich – die Anwendung englischen Rechts gewollt hätten, weil der vertraglich geschuldete Geldbetrag in England in englischen Pfund zu bezahlen gewesen sei. Und auch ''Joseph Story'' (1779–1845) zog den vermuteten Parteiwillen in seinem „Commentaries on the Conflict of Laws“ lediglich als argumentative Stütze für die Anwendung des Rechts des Erfüllungsortes heran. Keine eigenständige Bedeutung kommt dem Parteiwillen schließlich auch bei ''Friedrich Carl von Savigny ''(1779–1861) zu. Zwar betont er im Hinblick auf das Schuldrecht an verschiedenen Stellen, dass die freiwillige Unterwerfung der Parteien unter ein bestimmtes Rechtsgebiet über den Sitz des Rechtsverhältnisses entscheide und dass die Anknüpfung eines bestimmten Rechtsverhältnisses vom Willen der Parteien abhänge, der entweder ausdrücklich oder stillschweigend erklärt werden könne. Allerdings findet sich nirgendwo ein Hinweis auf die Wahl eines Rechts, das vom Erfüllungsort verschieden ist. Den Parteiwillen betrachtete ''Savigny ''deshalb'' ''entweder – wie ''Huber'', ''Lord Mansfield'' und ''Story'' – als argumentative Stütze für die Anknüpfung an den Erfüllungsort oder als Ausdruck einer indirekten, mittelbaren oder unechten Rechtswahl, die immer dann möglich ist, wenn ein tatsächlich beeinflussbarer Anknüpfungspunkt zur Anwendung kommt.<br />
<br />
Als eigenständiges Anknüpfungsprinzip gewinnt der – tatsächliche oder vermutete – Parteiwille und damit einhergehend die Rechtswahlfreiheit erst im 19.&nbsp;Jahrhundert mit dem Italiener ''Pasquale Stanislao Mancini'' (1817–1888) Bedeutung. Unter dem Einfluss der kontinentaleuropäischen Willenstheorie verwarf er die territorialen Anknüpfungspunkte, insbesondere die ''lex loci contractus'', die bis dahin die Diskussion dominiert hatten, und ordnete die Rechtswahlfreiheit als eigenständiges und vorrangiges Anknüpfungsprinzip des internationalen Vertragsrechts ein ([[Vertragliche Schuldverhältnisse (IPR)]]). Die Ausführungen ''Mancinis'' zogen allerdings zunächst keine große Aufmerksamkeit auf sich. Erst der politische und ökonomische Liberalismus des ausgehenden 19.&nbsp;Jahrhunderts bereitete den Nährboden für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Rechtswahlfreiheit. Einigkeit über ihre Rolle im Allgemeinen und ihre Rolle im internationalen Vertragsrecht im Besonderen konnte allerdings auf beiden Seiten des Atlantiks lange nicht erzielt werden: In Europa wurde ihr von den Gerichten der einzelnen Länder bis weit in das 20.&nbsp;Jahrhundert unterschiedliche Bedeutung beigemessen. Während die Rechtsprechung in England, Deutschland und Frankreich ihr im Allgemeinen aufgeschlossen gegenüber stand, waren Gerichte in anderen Staaten äußerst kritisch. Aber nicht nur Gerichte, auch die wissenschaftliche Gemeinschaft konnte lange Zeit keinen gemeinsamen Nenner finden. Während sich einige Kollisionsrechtler unter Hinweis auf das Selbstbestimmungsrecht und die Freiheit des einzelnen den Gerichten anschlossen und weitestgehende Rechtswahlfreiheit forderten, sprachen sich andere in scharfen Worten gegen sie aus. Sie wandten im Wesentlichen ein, dass die Parteien sich nicht durch die Wahl des anwendbaren Rechts über das Gesetz erheben könnten. Langfristig vermochte sich diese Auffassung allerdings nicht durchsetzen. Zunehmende internationale Verflechtungen, zunehmender internationaler Handel sowie der aufkommende politische und ökonomische Liberalismus dezimierten den Kreis der Rechtswahlgegner immer weiter. Bereits in den 1960er Jahren war von substantiellem Widerstand nicht mehr viel zu sehen. Der endgültige Sieg der Rechtswahlfreiheit kam in Europa im Jahr 1980, als sie in Art. 3(1) EVÜ niedergelegt wurde.<br />
<br />
Auch in den USA war die Rechtswahlfreiheit lange Zeit umstritten. Ähnlich wie in Europa standen sich noch Anfang des 20.&nbsp;Jahrhunderts zwei Lager diametral gegenüber: Während amerikanische Gerichte, insbesondere der US-amerikanische ''Supreme Court'' (''Pritchard v.'' ''Norton ''(1882) 106 U.S. 124), Rechtswahlklauseln regelmäßig zur Durchsetzung verhalfen, weigerten sich amerikanische Wissenschaftler zum Teil mit großer Vehemenz, die Rechtswahlfreiheit als Anknüpfungsprinzip anzuerkennen. Insbesondere ''Joseph H.&nbsp;Beale'' betrachtete das anwendbare Recht als eine Frage staatlicher Souveränität, die außerhalb der Dispositionsbefugnis der Parteien liege. Da er später zum Berichterstatter für das ''Restatement (First) of Conflict of Laws'' (''[[Restatements]]'') ernannt wurde, verwundert es nicht, dass dieses zur Rechtswahlfreiheit schwieg und damit den Parteien implizit untersagte, das anwendbare Recht zu bestimmen. In der Praxis erwies sich diese rigorose Haltung allerdings als nicht haltbar. Im Laufe der Zeit setzten sich die Gerichte deshalb mit ihrer rechtswahlfreundlichen Position durch. Heute gilt die Rechtswahlfreiheit aufgrund von §&nbsp;187 ''Restatement (Second)'' und §&nbsp;1-105 UCC auch in den USA unangefochten. Selbst Bundesstaaten, die noch immer das ''Restatement (First)'' oder andere durch die ''American Conflict of Laws Revolution'' hervorgebrachte kollisionsrechtliche Ansätze zur Anwendung bringen, akzeptieren das Recht der Parteien, das anwendbare Recht zu bestimmen. Nach jahrelanger Diskussion gilt die Rechtswahlfreiheit damit sowohl in Europa als auch in den USA als allgemeines Anknüpfungsprinzip des internationalen Vertragsrechts. In anderen Rechtsgebieten hinkt die Entwicklung bislang noch hinterher. <br />
<br />
== 3. Anwendungsbereich ==<br />
Der klassische – und bis heute am wenigsten umstrittene – Anwendungsbereich der Rechtswahlfreiheit ist das internationale Vertragsrecht ([[Vertragliche Schuldverhältnisse (IPR)]]). Hier beansprucht sie – mit Ausnahme einiger südamerikanischer Länder – weltweite Geltung. In anderen Rechtsgebieten hat sie demgegenüber erst in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Dies gilt insbesondere für das außervertragliche Schuldrecht ([[Außervertragliche Schuldverhältnisse (IPR)]]). Hier hat die Möglichkeit einer Rechtswahl erst in den letzten zehn bis zwanzig Jahren Eingang in nationale Rechtsordnungen und internationale Regelwerke gefunden. Diese sehen häufig vor, dass Vereinbarungen über das anwendbare Recht zulässig sind, ''nachdem'' das Ereignis, durch das das außervertragliche Schuldverhältnis begründet wird, eingetreten ist. Nach Art.&nbsp;14(1) Rom&nbsp;II-VO (VO&nbsp;864/2007) können nicht kommerziell tätige Parteien darüber hinaus auch zu einem früheren Zeitpunkt das anwendbare Recht bestimmen. Im internationalen Familien- und Erbrecht wird den Parteien mittlerweile in vielen Rechtsordnungen gestattet, das anwendbare Recht aus einem vorgegebenen Kreis von Rechten zu wählen ([[Familienrecht, internationales]]; [[Erbrecht, internationales]]). Art.&nbsp;20a des Vorschlags zur Ergänzung der Brüssel&nbsp;IIa-VO (2201/2203) (KOM (2006) 399 endg.), den die Europäische Kommission im Juli 2006 vorgelegt hat, gestattet den Parteien insbesondere die Wahl des Rechts ihrer Staatsangehörigkeit und ihres gewöhnlichen Aufenthalts. Gleiches gilt nach Art.&nbsp;15 der neuen Unterhalts-VO (VO&nbsp;4/2009) – unter Hinweis auf das Protokoll zum neuen Haager Unterhaltsabkommen – für internationale Unterhaltsverpflichtungen.<br />
<br />
Der Anwendungsbereich der Rechtswahlfreiheit ist vor diesem Hintergrund ausgesprochen groß. Keine nennenswerte Geltung beansprucht sie bislang lediglich im internationalen Sachenrecht ([[Sachenrecht, internationales]]). Hier wird das anwendbare Recht im Regelfall nach wie vor objektiv mit Hilfe der ''lex rei sitae'' bestimmt. Eine Ausnahme findet sich allerdings im internationalen Wertpapierrecht ([[Finanzsicherheiten]]), wo Art.&nbsp;4(1)1 des im Juli 2006 von der [[Haager Konferenz für IPR|Haager Konferenz für Internationales Privatrecht]] verabschiedeten Haager Wertpapierübereinkommens anordnet, dass die Verfügung über Wertpapiere im Giroverkehr dem Recht des Staates unterliegt, dessen Rechtsordnung in der Kontovereinbarung ausdrücklich als maßgebend vereinbart wurde. Diese- Rechtswahlmöglichkeit unterscheidet sich allerdings von den im Übrigen hier diskutierten Rechtswahlmöglichkeiten insofern, als sie sich nicht auf das Verhältnis der unmittelbar an der Transaktion – der Wertpapierübertragung – beteiligten Parteien bezieht. Die Rechtswahl wird also nicht unmittelbar zwischen dem Veräußerer und dem Erwerber eines Wertpapiers getroffen, sondern vielmehr zwischen dem Veräußerer und seiner Bank einerseits und dem Erwerber und seiner Bank andererseits.<br />
<br />
== 4. Gegenstand ==<br />
Gegenstand der Rechtswahl kann nach den meisten nationalen Rechtsordnungen und internationalen Regelwerken lediglich ein staatliches Recht sein. Nicht-staatliches Recht (''[[Lex Mercatoria]]'') wie beispielsweise die UNIDROIT PICC ([[UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts|UNIDROIT ''Principles of International Commercial Contracts'']]) oder die PECL (''[[Principles of European Contract Law]]'') können deshalb grundsätzlich nicht gewählt werden. Für das geltende europäische Recht ergibt sich dies daraus, dass die einschlägigen oder die sie umrahmenden Bestimmungen vom „Recht eines Staates“ sprechen. Für Art.&nbsp;3 Rom&nbsp;I-VO (VO&nbsp;593/2008) kommt außerdem hinzu, dass der 14. Erwägungsgrund die Wahl vertragsrechtlicher Regelwerke der Europäischen Gemeinschaft ([[Europäische Gemeinschaft]]), insbesondere die Wahl des Gemeinsamen Referenzrahmens ([[Europäisches Privatrecht]]) gestattet. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass nicht-staatliches Recht im Übrigen nicht Gegenstand der Rechtswahl sein kann. Entsprechendes gilt grundsätzlich auch für das Recht der USA. Die einschlägigen Vorschriften, insbesondere §&nbsp;187&nbsp;''Restatement (Second) of Conflict of Laws'' (''[[Restatements]]''), §&nbsp;1-105 UCC sowie die im Jahr 2001 verabschiedete neue Fassung des §&nbsp;1-103 UCC sprechen durchgehend von „law of a state”. Lediglich die kürzlich erlassenen IPR-Gesetze von Louisiana und Oregon verzichten auf den Zusatz „of a state“ und bringen damit zum Ausdruck, dass die Parteien das anwendbare Recht – und nicht nur das Recht eines Staates – wählen können. Gleiches gilt nach überwiegender, aber bestrittener Ansicht auf der Grundlage der Konvention von Mexiko von 1994. Zwar findet sich keine ausdrückliche Bestimmung dieses Inhalts. Die Autoren, die die Wählbarkeit nicht-staatlichen Rechts befürworten, stützen sich allerdings auf Art.&nbsp;9(2)2 der Konvention, der Gerichten die Berücksichtigung und Anwendung von allgemeinen Prinzipien des Wirtschaftsrechts gestattet, die von internationalen Organisationen anerkannt werden.<br />
<br />
Gegenstand der Rechtswahl kann ferner in vielen nationalen Rechtsordnungen und internationalen Regelwerken nur das Recht eines Staates sein, mit dem der Sachverhalt verbunden ist. Dies gilt insbesondere für das internationale Familien- und Erbrecht ([[Familienrecht, internationales]]; [[Erbrecht, internationales]]). Hier sehen die einschlägigen europäischen Rechtsakte vor, dass die Parteien lediglich aus einem bestimmten Kreis von Rechten wählen dürfen, zu denen die Parteien eine Beziehung haben. Zu diesen Rechten gehören regelmäßig das Recht der Staatsangehörigkeit und das Recht des gewöhnlichen Aufenthaltes. Im internationalen Vertragsrecht gehen die einschlägigen Vorschriften demgegenüber auseinander: In den USA wird einer Rechtswahlklausel auf der Grundlage von §&nbsp;187(2)(a) ''Restatement (Second)'' und §&nbsp;1-105 UCC in der bis 2001 geltenden Fassung nur dann zur Durchsetzung verholfen, wenn die Parteien oder der Vertrag eine Verbindung zum gewählten Recht aufweisen ([[Vertragliche Schuldverhältnisse (IPR)]]). In der Europäischen Union dürfen die Parteien nach Art.&nbsp;3 Rom&nbsp;I-VO ihren Vertrag demgegenüber auch einem unverbundenen Recht unterstellen. Ausnahmen finden sich lediglich im internationalen Beförderungs- und Versicherungsvertragsrecht, wo der Kreis der wählbaren Rechte nach Art.&nbsp;5 und 7 Rom&nbsp;I-VO wie im internationalen Familien- und Erbrecht eingeschränkt wird ([[Versicherungsvertragsrecht, internationales]]). Die damit bestehenden Unterschiede zwischen dem europäischen und dem US-amerikanischen internationalen Vertragsrecht sind in der Praxis allerdings weit weniger groß, als ein Blick auf die einschlägigen Bestimmungen vermuten lässt: Zum einen kann nach §&nbsp;187(2)(a) ''Restatement (Second)'' das Fehlen einer Verbindung zum gewählten Recht durch das Vorliegen einer ''reasonable basis'' geheilt werden. Zum anderen stellen US-amerikanische Gerichte keine besonders hohen Anforderungen an das Vorliegen einer Verbindung zum gewählten Recht.<br />
<br />
== 5. Schranken ==<br />
Die Rechtswahlfreiheit unterliegt in allen Rechtsordnungen und internationalen Regelwerken gewissen Schranken. Diese sind entweder funktionaler, situativer oder technischer Natur. <br />
<br />
=== a) Funktionale Schranken ===<br />
Funktionale Schranken zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine Rechtswahl zum Schutz einer als „schwächer“ empfundenen Partei oder zum Schutz von Dritten oder der Allgemeinheit nicht oder nur in eingeschränkter Weise zulassen. Soweit es um den Schutz einer als „schwächer“ empfundenen Partei, insbesondere um den Schutz von Verbrauchern und Arbeitnehmern geht, kommt darin die Sorge vor Informationsasymmetrien zum Ausdruck: Die strukturell schlechter informierte Partei soll vor der Übervorteilung durch die strukturell besser informierte Partei geschützt werden. Soweit es um den Schutz Dritter oder der Allgemeinheit geht, liegt den einschlägigen Regelungen die Sorge vor negativen externen Effekte zugrunde: Unbeteiligte Dritte und die Allgemeinheit sollen davor geschützt werden, dass die Parteien einer Rechtswahl, die Kosten ihrer Wahl ohne Entschädigung auf sie abwälzen.<br />
<br />
Unterschiedlich ist in den einzelnen Rechtsordnungen und internationalen Regelwerken die rechtstechnische Ausgestaltung der funktionalen Schranken. So wird in den USA der Schutz einer Partei oder der Schutz von Dritten regelmäßig durch die Anwendung der allgemeinen ''fundamental'' ''public policy doctrine ''erreicht. In Europa werden die relevanten Fälle demgegenüber durch genaue gesetzliche Bestimmungen erfasst: Soweit es um den Schutz einer Partei geht, beschränken Art.&nbsp;6 und 8 Rom&nbsp;I-VO beispielsweise die Wirkung einer Rechtswahl zum Schutz von Verbrauchern und Arbeitnehmern ([[Verbraucherverträge (IPR und IZPR)]]; [[Arbeitsrecht, internationales]]). Art.&nbsp;5 und 7 Rom&nbsp;I-VO begrenzen den Kreis der wählbaren Rechte zum Schutz von Reisenden und Versicherungsnehmern ([[Versicherungsvertragsrecht, internationales]]). Art.&nbsp;14 Rom&nbsp;II-VO gestattet eine Rechtswahl zum Schutz nicht-kommerziell tätiger Parteien nur nach Eintritt des schadensbegründenden Ereignisses. Und Art.&nbsp;15 der neuen Unterhalts-VO erklärt – unter Verweis auf das Protokoll zum neuen Haager Unterhaltsübereinkommen – eine Rechtswahl zum Schutz von Kindern unter 18 Jahren und zum Schutz von Erwachsenen für unzulässig, deren Fähigkeiten so eingeschränkt sind, dass sie ihre Interessen nicht selbst vertreten können. Soweit es um den Schutz von Dritten geht, bestimmen sowohl Art.&nbsp;3(3)2 Rom&nbsp;I-VO als auch Art.&nbsp;14(1)2 Rom&nbsp;II-VO in allgemeiner Form, dass eine nachträgliche Rechtswahl die Rechte Dritter nicht berühren darf. Darüber hinaus finden sich in beiden schuldrechtlichen Verordnungen konkrete Bestimmungen, die die Rechtswahl zum Schutz Dritter einschränken oder sogar ausschließen. Beispielsweise begrenzt Art.&nbsp;14(2) Rom&nbsp;I-VO die Wirkung einer Rechtswahl zwischen Zedent und Zessionar, indem bestimmte Fragen, die die Stellung des Schuldners berühren, zwingend dem Forderungsstatut unterworfen werden. Und Art.&nbsp;6(4) Rom&nbsp;II-VO schließt eine Rechtswahl bei außervertraglichen Schuldverhältnissen aus unlauterem Wettbewerbsverhalten vollständig aus, da das Wettbewerbsrecht nach überwiegender Ansicht dem Schutz Dritter und der Allgemeinheit dient.<br />
<br />
=== b) Situative Schranken ===<br />
Situative Schranken sind dadurch gekennzeichnet, dass sie einer Rechtswahl bei Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts nur begrenzte Wirkung beimessen. Die wichtigsten Schranken in diesem Sinne beziehen sich auf reine Inlandssachverhalte und sollen verhindern, dass die Parteien bei Fällen, die keine Bezüge zum Ausland aufweisen, durch die Wahl ausländischen Rechts die zwingenden Bestimmungen des Inlands aushebeln. Nach Art.&nbsp;3(3) Rom&nbsp;I-VO und Art.&nbsp;14(2) Rom&nbsp;II-VO lässt eine Rechtswahl dementsprechend die Anwendung der zwingenden Bestimmungen des Rechts des Staates unberührt, zu dem die alleinige Verbindung besteht. Nach Art.&nbsp;3(4) Rom&nbsp;I-VO und Art.&nbsp;14(3) Rom&nbsp;II-VO gilt das Gleiche im Hinblick auf die zwingenden Normen des Gemeinschaftsrechts, wenn der Sachverhalt lediglich Bezüge zu einem oder mehreren Mitgliedstaaten aufweist. Sowohl bei vertraglichen als auch bei außervertraglichen Schuldverhältnissen findet damit bei Inlands- und Gemeinschaftssachverhalten das gewählte Recht nur insoweit Anwendung, als es dem zwingenden Recht des einzig betroffenen Staates oder dem zwingenden Gemeinschaftsrecht nicht widerspricht. In den USA gilt Entsprechendes nach §&nbsp;187 ''Restatement (Second) of Conflict of Laws'' (''[[Restatements]]'') und nach §&nbsp;1-105 UCC in der bis 2001 geltenden Fassung. Zwar fehlt es hier an ähnlich klaren Bestimmungen wie im europäischen Kollisionsrecht. Der offizielle Kommentar zu §&nbsp;187 ''Restatement (Second)'' stellt jedoch fest, dass die Vorschrift nur dann Anwendung findet, wenn zwei oder mehr Staaten ein Interesse an der Regelung des in Rede stehenden Sachverhalts haben. §&nbsp;187 ''Restatement (Second)'' ist deshalb nicht anzuwenden, wenn es nur einen interessierten Staat gibt, was dann der Fall ist, wenn ein Inlandssachverhalt im Sinne von Art.&nbsp;3(4) und (5) Rom&nbsp;I-VO oder Art.&nbsp;14(2) und (3) Rom&nbsp;II-VO vorliegt. Im internationalen Familien- und Erbrecht ([[Familienrecht, internationales]]; [[Erbrecht, internationales]]) wird in den meisten Rechtsordnungen das gleiche Ergebnis dadurch erreicht, dass der Kreis der wählbaren Rechte eingeschränkt wird.<br />
<br />
=== c) Technische Schranken ===<br />
Technische Schranken der Rechtswahlfreiheit zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Wahlfreiheit der Parteien mit Hilfe eines bestimmten rechtlichen Instrumentariums zum Schutz übergeordneter Interessen beschränken. Die einzelnen nationalen Rechtsordnungen und internationalen Regelwerke unterscheiden dabei zwischen [[Eingriffsnormen]] und ''[[ordre public]]''. Eingriffsnormen sind nationale Vorschriften, die bei internationalen Sachverhalten unabhängig von dem gewählten Recht Geltung beanspruchen (siehe auch [[Unilateralismus (IPR)]]). Sie sind daran zu erkennen, dass sie ein öffentliches Interesse im weitesten Sinne zum Ausdruck bringen und anders als Normen des klassischen Privatrechts nicht nur dem Ausgleich privater Interessen dienen. Häufig sind sie wirtschafts- und sozialpolitischer Natur und bezwecken die staatliche Regulierung einzelner Lebensbereiche. Der ''ordre public'' verhindert die Anwendung des gewählten Rechts, wenn dies zu einem Verstoß gegen die öffentliche Ordnung des Forums führt. Er greift als ''ultima ratio ''ein, wenn grundlegenden Wertvorstellungen des Forums nicht auf andere Weise zum Durchbruch verholfen werden.<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Hessel E. Yntema'', “Autonomy“ in Choice of Law, American Journal of Comparative Law&nbsp;1 (1952) 341&nbsp;ff; ''Hessel E. Yntema'', Contract and Conflict of Laws: “Autonomy“ in Choice of Law in the United States, New York Law Forum 1 (1955) 45&nbsp;ff; ''André Aloys Wicki'', Zur Dogmengeschichte der Parteiautonomie im Internationalen Privatrecht, 1965; ''Larry E. Ribstein'', Choosing Law by Contract, Journal of Corporation Law 18 (1993) 245&nbsp;ff; ''Dorothee Einsele'', Rechtswahlfreiheit im Internationalen Privatrecht, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privaterecht 60 (1996) 417&nbsp;ff; ''Peter E. Nygh'', Autonomy in International Contracts, 1999; ''Yuko Nishitani'', Mancini und die Parteiautonomie im Internationalen Privatrecht, 2000; ''Stefan Leible'', Parteiautonomie im Internationalen Privatrecht: Verlegenheitslösung oder Allgemeines Anknüpfungsprinzip?, in: Festschrift für Erik Jayme, Bd.&nbsp;I, 2004, 485&nbsp;ff; ''Giesela Rühl'', Party Autonomy in the Private International Law of Contracts: Transatlantic Convergence and Economic Efficiency, in: Eckart Gottschalk, Ralf Michaels, Giesela Rühl, Jan von Hein (Hg.), Conflict of Laws in a Globalized World, 2007, 153&nbsp;ff; ''Giesela Rühl'', Rechtswahlfreiheit im europäischen Kollisionsrecht, in: Festschrift für Jan Kropholler, 2008, 187&nbsp;ff.<br />
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[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Choice_of_Law_by_the_Parties]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Gerichtsstandsvereinbarung,_internationale&diff=1647Gerichtsstandsvereinbarung, internationale2021-09-08T10:18:28Z<p>Richter: </p>
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<div>von ''[[Martin Illmer]]''<br />
== 1. Begriff, Gegenstand und Funktion ==<br />
<br />
In einer Gerichtsstandsvereinbarung wird die Zuständigkeit des darin bestimmten Gerichts vereinbart (Prorogation), während die Zuständigkeit des unabhängig von der Gerichtsstandsvereinbarung nach den gesetzlichen Regeln zuständigen Gerichts abgewählt wird (Derogation). Beide Aspekte sind getrennt voneinander zu beurteilen. Die Zuständigkeit des prorogierten Gerichts wird meist als ausschließliche, bisweilen aber auch lediglich als zusätzliche, sogenannte besondere Zuständigkeit vereinbart.<br />
<br />
Als eine von den Parteien eines Rechtsverhältnisses geschlossene Vereinbarung über die Zuständigkeit ist die Gerichtsstandsvereinbarung Ausdruck der auch im Prozessrecht geltenden Parteiautonomie. Das Ordnungsinteresse des Staates an der Einhaltung der gesetzlichen Zuständigkeiten tritt gegenüber den Parteiinteressen innerhalb gewisser Grenzen zurück. Im grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr sprechen für eine Gerichtsstandsvereinbarung insbesondere die Rechtssicherheit, der Gleichlauf von ''lex fori'' und ''lex causae'' durch eine kombinierte Gerichtsstands- und Rechtswahlvereinbarung, die Wahl eines neutralen oder besonders sachkundigen Gerichts und die Vollstreckungsmöglichkeit im Urteilsstaat. Gegen Gerichtsstandsvereinbarungen lässt sich insbesondere anführen, dass Sie die strukturell schwächere Partei eines Vertragsverhältnisses vor die (ggf. weit entfernten) Heimatgerichte der stärkeren Partei zwingen können, was die Rechtsdurchsetzung erheblich erschweren oder gar unmöglich machen würde. Gegenüber Verbrauchern, Versicherungsnehmern und Arbeitnehmern sind Gerichtsstandsvereinbarungen daher häufig eingeschränkt oder sogar ausgeschlossen (vgl. etwa Art.&nbsp;13, 17, 21 Brüssel&nbsp;I-VO (VO&nbsp;44/2001); diese Wertung steht auch hinter dem Ausschluss vom Anwendungsbereich des Haager Übereinkommens über Gerichtsstandsvereinbarungen nach dessen Art.2(1)(a); in den betroffenen Konstellationen ist häufig auch eine Rechtswahl nur eingeschränkt möglich, vgl. etwa Art.&nbsp;6(2), 7(3), 8(1), aber auch 5(2)3 Rom&nbsp;I-VO (VO&nbsp;593/2008)).<br />
<br />
== 2. Geschichte und Tendenzen der Rechtsentwicklung ==<br />
<br />
Bereits im römischen Zivilprozessrecht des Formularverfahrens war der von den Parteien gewählte Gerichtsstand, das später gemeinrechtlich so bezeichnete ''forum prorogatum'', anerkannt. So konnte etwa die Zuständigkeit des ''praetor peregrinus'' auch in einem Rechtsstreit zwischen römischen Bürgern vereinbart werden. Ebenso konnten zwei Fremde die Zuständigkeit des ''praetor urbanus'' vereinbaren (Ulp. D.&nbsp;5,1,2,1 zitiert diesbezüglich die ''lex Iulia iudiciorum'' aus dem Jahre 17&nbsp;n.&nbsp;Chr.). Erforderlich war eine einverständliche Unterwerfung, die solange widerrufen werden konnte, bis der entsprechende ''praetor'' als Gerichtsmagistrat angerufen war. Willensmängel führten zur Unwirksamkeit der Unterwerfung. Voraussetzung war außerdem, dass beide Parteien die Unzuständigkeit nach den an sich bestehenden Gerichtsständen kannten. Die Zustimmung des angerufenen ''praetor'' war dagegen nicht erforderlich.<br />
<br />
Dieser liberalen Auffassung, die der Parteiautonomie Vorrang vor staatlichen Ordnungsinteressen einräumte, stand im Gemeinen Recht ([[ius commune (Gemeines Recht)|''ius commune'']]) die germanisch geprägte Dingpflicht gegenüber, welche die Vereinbarung der Zuständigkeit eines ausländischen Gerichts nicht zuließ. Insbesondere die Derogation der inländischen Zuständigkeit und Gerichtsbarkeit wurde als mit der territorialen Justizhoheit unvereinbar angesehen. Diese ablehnende Haltung gegenüber der Derogation einer inländischen Zuständigkeit hat sich in einigen europäischen Rechtsordnungen sehr lange gehalten; so etwa bis 1995 in Italien zugunsten eigener Staatsangehöriger und bis Anfang der 1990er Jahre in Spanien. Zudem ist noch heute in zahlreichen Rechtsordnungen, die eine Pro- und Derogation anerkennen, nur die Prorogation ausdrücklich geregelt (siehe etwa §&nbsp;38 ZPO, §&nbsp;104 Abs.&nbsp;1 JN, Art.&nbsp;22 Abs.&nbsp;2 LOPJ, Art.&nbsp;23 Brüssel&nbsp;I-VO). Eine ausdrückliche Regelung der Derogation findet sich etwa im niederländischen Recht (Art.&nbsp;8 Nr.&nbsp;2 Rv).<br />
<br />
Heute ist die Zuständigkeitsbegründung durch Gerichtsstandsvereinbarung in den Zuständigkeitsregelungen der Mitgliedstaaten und der Brüssel&nbsp;I-VO anerkannt. Dabei sehen die europäischen Rechtsordnungen die Gerichtsstandsvereinbarung im Grundsatz übereinstimmend als vertragliche Vereinbarung an. Jenseits dieses gemeinsamen Nenners besteht jedoch zwischen ''[[common law]]'' und ''civil law''-Jurisdiktionen ein unterschiedliches systematisches Verständnis. Die meisten ''civil law''-Jurisdiktionen sehen die Gerichtsstandsvereinbarung als Prozessvertrag bzw. materiell-rechtlichen Vertrag über prozessuale Beziehungen an. Daraus wird geschlossen, dass die Gerichtsstandsvereinbarung keine Verpflichtungs-, sondern volle Verfügungswirkung hat: Durch die Prorogation wird der vereinbarte Gerichtsstand unmittelbar begründet. Mangels Verpflichtungswirkung kann die Befolgung der Prorogation aber nicht von der anderen Partei im Wege einer einstweiligen Verfügung oder einer Unterlassungsklage erzwungen werden. Es bleibt vielmehr nur die Rüge der Unzuständigkeit vor dem unter Verletzung der Gerichtsstandsvereinbarung angerufenen Gericht. Das englische ''[[common law]]'' sieht die Gerichtsstandsvereinbarung hingegen als einen Vertrag wie jeden anderen materiellrechtlichen Vertrag an. Er begründet Rechte und Pflichten, deren Einhaltung gerichtlich erzwungen werden kann. Dies geschieht insbesondere mittels ''anti-suit injunctions''. Durch diese Prozessführungsverbote wird dem Kläger bereits vor oder nach Klageerhebung vor einem anderen als dem prorogierten Gericht strafbewehrt untersagt, diese Klage anzustrengen oder weiter zu betreiben. Soweit das unter Verletzung der Gerichtsstandsvereinbarung angerufene Gericht die Derogation der eigenen Zuständigkeit anerkennt, ist ein derartiges Prozessführungsverbot an sich nicht notwendig. Es stellt lediglich ein zusätzliches, meist aber besonders effektives Mittel zur Durchsetzung der Gerichtsstandsvereinbarung gegenüber prozessverzögernden Taktiken dar. Dabei greift das Prozessführungsverbot allerdings in die Entscheidungsautonomie des angerufenen Gerichts ein (auch wenn es sich formal nur an die andere Partei richtet). Ob ''anti-suit injunctions'' im Anwendungsbereich der Brüssel&nbsp;I-VO zulässig sind, war lange Zeit unklar. Der Streit entzündete sich nicht an der Rechtsnatur der Gerichtsstandsvereinbarung, sondern an der Systematik und den Grundprinzipien der Brüssel&nbsp;I-VO. Schließlich hat der EuGH Prozessführungsverbote für mit der Brüssel&nbsp;I-VO unvereinbar erklärt (EuGH Rs.&nbsp;C- 159/02 – ''Turner'', Slg. 2004, I-3855), da sie gegen das der Verordnung zugrunde liegende Prinzip gegenseitigen Vertrauens der mitgliedstaatlichen Gerichte verstoßen und in die Zuständigkeitsentscheidung eines nach der Brüssel&nbsp;I-VO angerufenen Gerichts eingreifen. Mit der Problematik eng verbunden ist die Frage des Verhältnisses der ''lis alibi pendens''-Regel (Art.&nbsp;27) zu ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarungen. Englische Gerichte haben die ihre Zuständigkeit begründenden Gerichtsstandsvereinbarungen lange Zeit als vorrangig gegenüber dem ''lis alibi pendens''-Grundsatz angesehen (und durch ''anti-suit injunctions'' abgesichert). Auch dem hat der EuGH in der Rechtssache ''Gasser'' (Rs. C-116/02, Slg. 2003, I-14693) widersprochen und dem ''lis alibi pendens''-Grundsatz Vorrang eingeräumt. Das Verhältnis der ''lis alibi pendens''-Regel zu Gerichtsstandsvereinbarungen ist eine der zentralen Fragestellungen im jüngst veröffentlichten Grünbuch der Kommission (KOM(2009) 175 endg.) zur Überprüfung der Brüssel&nbsp;I-VO (dort unter 3.). Angesichts der Entscheidungen des EuGH in ''Gasser'' und ''Turner'' erscheint auch ein Schadensersatzanspruch wegen Verletzung einer ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung problematisch. Er greift zwar nicht direkt in die Zuständigkeitsentscheidung des abredewidrig angerufenen Gerichts ein, fällt hierüber aber doch ''ex post'' ein Urteil. Der EuGH hatte bisher noch keine Gelegenheit, diese Frage zu klären. Englische Gerichte stehen derartigen Schadensersatzklagen offen gegenüber.<br />
<br />
== 3. Regelungsstrukturen im europäischen Zivilprozessrecht ==<br />
<br />
Die Zuständigkeit kraft Gerichtsstandsvereinbarung nach Art.&nbsp;23 ist eine der praktisch wichtigsten Zuständigkeiten der Brüssel&nbsp;I-VO. In seinem Anwendungsbereich verdrängt Art.&nbsp;23 die mitgliedstaatlichen Regelungen, so dass insbesondere die Prorogations- und Derogationsschranken der nationalen Rechte keine Wirkung entfalten. Dabei stellt Art.&nbsp;23 geringere Anforderungen als die Regelungen der meisten Mitgliedstaaten.<br />
<br />
=== a) Räumlicher Anwendungsbereich ===<br />
<br />
Der räumliche Anwendungsbereich des Art.&nbsp;23 ist gegenüber den Zuständigkeitsregelungen von Mitglieds- und Drittstaaten weit gezogen. In Verbindung mit dem Vorbehalt zugunsten von Art.&nbsp;23 in Art.&nbsp;4 reicht es aus, wenn eine der Parteien ihren Wohnsitz bzw. Sitz in einem Mitgliedstaat hat und ein grenzüberschreitender Bezug, sei es auch nur zu einem Drittstaat, besteht (EuGH Rs.&nbsp;C-412/98 – ''Josi Reassurance'', Slg. 2000, I-5925, Rn.&nbsp;42 (noch zu Art.&nbsp;17 EuGVÜ)). Ausdrücklich erfasst Art.&nbsp;23 nur die Prorogation eines mitgliedstaatlichen Gerichts. Der EuGH hat noch zum EuGVÜ festgehalten, dass dessen Art.&nbsp;17 (dem Art.&nbsp;23 Brüssel&nbsp;I-VO entspricht) auf die Derogation eines mitgliedstaatlichen Gerichts bei Prorogation eines nichtmitgliedstaatlichen Gerichts nicht anwendbar ist, sondern sich die Derogation nach dem nationalen Recht des derogierten Gerichts richtet (Rs.&nbsp;C-387/98 – ''Coreck Maritime'', Slg. 2000, I-9337).<br />
<br />
=== b) Sachlicher Anwendungs&shy;bereich und Wirksamkeits&shy;voraussetzungen ===<br />
<br />
Art.&nbsp;23 regelt nicht sämtliche Voraussetzungen einer Gerichtsstandsvereinbarung. Die Vorschrift verlangt lediglich eine tatsächliche Einigung der Parteien, wobei der Begriff der Einigung autonom auszulegen ist, und die Einhaltung einer bestimmten Form. Letztere umfasst die Schriftform oder eine mündliche Vereinbarung mit schriftlicher Bestätigung, aber auch eine den Gepflogenheiten zwischen den Parteien oder die einem Handelsbrauch im betreffenden Geschäftszweig (etwa kaufmännisches Bestätigungsschreiben, Konnossemente, Versteigerungsbedingungen) entsprechende Form. Die beiden letztgenannten Formen können die Formstrenge im Einzelfall erheblich lockern, insbesondere für die Einbeziehung der Gerichtsstandsvereinbarung durch [[Allgemeine Geschäftsbedingungen]]. Neben der Schriftform ist nach Art.&nbsp;23(2) auch eine elektronische Form ausreichend, sofern sie dauerhaft reproduzierbar ist (insb. per e-mail durch Speicherung oder Ausdruck). Das Formerfordernis dient primär dazu, den Konsens sicherzustellen: Ist die Form eingehalten, besteht eine widerlegbare Vermutung dafür, dass ein Konsens bestand. Bestand ein Konsens, besteht wiederum die ebenfalls widerlegbare Vermutung für eine ausschließliche Zuständigkeit des prorogierten Gerichts. Darüber hinaus sieht Art.&nbsp;23(5) Derogationsverbote zugunsten des ausschließlichen dinglichen Gerichtsstands und der besonderen Gerichtsstände in Versicherungs- (Art.&nbsp;8–14), Verbraucher- (Art.&nbsp;15–17) und arbeitsvertraglichen Sachen (Art.&nbsp;18–21) vor.<br />
<br />
Eine autonome, allgemeine Missbrauchskontrolle europäischen Rechts hat sich noch nicht herausgebildet. Dies folgt aus dem abschließenden Charakter des Art.&nbsp;23(5) in Verbindung mit einem Umkehrschluss aus Art.&nbsp;13, 17 und 21. Außerdem ist der Gemeinschaftsgesetzgeber dem Vorbild des Haager Übereinkommens von 1965 (Art.&nbsp;4(3)) für eine allgemeine Missbrauchsschranke nicht gefolgt. Bei Gerichtsstandsvereinbarungen in [[Allgemeine Geschäftsbedingungen|[Allgemeinen Geschäftsbedingungen]] findet freilich eine Inhaltskontrolle nach den nationalen Umsetzungen der Klausel-RL (RL&nbsp;93/13) statt; dies betrifft insbesondere [[Verbraucherverträge (IPR und IZPR)|Verbraucherverträge]] (EuGH Rs. C-240/98 bis 244/98 – ''Océano Grupo'', Slg. 2000, I-4941, Rn.&nbsp;26: Missbrauchskontrolle durch nationale Gerichte von Amts wegen).<br />
<br />
Auch zahlreiche weitere Aspekte im Hinblick auf die Wirksamkeit der Gerichtsstandsvereinbarung werden von Art.&nbsp;23 Brüssel&nbsp;I-VO nicht geregelt und lassen sich auch (noch) nicht autonom lösen. Sie sind daher nach der ''lex causae'', dem Gerichtsstandsvereinbarungsstatut, zu beurteilen. Dies betrifft insbesondere Willensmängel, Widerruflichkeit (beide Vertragsstatut), Geschäftsfähigkeit (Personalstatut) und Rechtsnachfolge (Vertragsstatut). Obwohl auch im Rahmen des Art.&nbsp;23 die ''doctrine of separability'' Anwendung findet, nach der die Unwirksamkeit des Hauptvertrages, dessen Bestandteil die Gerichtsstandsvereinbarung ist, deren Wirksamkeit unberührt lässt, gilt im Hinblick auf das Gerichtsvereinbarungsstatut die Vermutung, dass das auf den Hauptvertrag anzuwendende Recht auch auf die Gerichtsstandsvereinbarung anzuwenden ist. Als bloßer Rückschluss auf den mutmaßlichen Willen der Parteien wird diese Vermutung nicht durch Art.&nbsp;1(2)(e) Rom&nbsp;I-VO gesperrt, wonach Gerichtsstandsvereinbarungen vom Anwendungsbereich der Rom&nbsp;I-VO ausgeschlossen sind. Im Bereich der Willensmängel ließe sich eventuell statt auf das jeweilige Gerichtsstandsvereinbarungsstatut auf die Regelungen der [[Principles of European Contract Law|PECL]] (oder auch des Draft [[Common Frame of Reference|DCFR]]) als einheitliches, europäisches Regime zurückgreifen: Art. 1:201 PECL postuliert ein allgemeines Gebot von Treu und Glauben; Art.&nbsp;4:107 und 4:108 PECL eröffnen ein Anfechtungsrecht bei Täuschung und Drohung; Art.&nbsp;4:109 PECL gewährt ein Anfechtungsrecht bei Ausnutzung einer wirtschaftlichen Notsituation oder Unerfahrenheit.<br />
<br />
=== c) Persönlicher Anwendungsbereich ===<br />
<br />
Der Personenkreis, der wirksame Gerichtsstandsvereinbarungen abschließen kann, ist durch Art.&nbsp;23 – wie in den Rechtsordnungen der meisten Mitgliedstaaten – nicht beschränkt. Selbst diejenigen Mitgliedstaaten, die im nationalen Bereich den Personenkreis im Wesentlichen auf Kaufleute beschränken, rücken von dieser Beschränkung für internationale Gerichtsstandsvereinbarungen ab; vgl. etwa §&nbsp;38 Abs.&nbsp;2 ZPO und die richterrechtliche Abweichung von Art.&nbsp;48 CPC in Frankreich. Im englischen Recht ist der Personenkreis seit jeher unbeschränkt.<br />
<br />
=== d) ''Forum conveniens'' ===<br />
<br />
Anders als in einigen Mitgliedstaaten muss zur Wirksamkeit der Prorogation nach Art.&nbsp;23 Brüssel&nbsp;I-VO kein sachlicher oder persönlicher Bezug zum prorogierten Gericht bestehen. Die Wahl eines neutralen Forums ist ohne weiteres möglich. Die Zuständigkeit darf insbesondere nicht aus ''forum non conveniens''-Gesichtspunkten abgelehnt werden. Allerdings sind selbst die englischen Gerichte im Bereich von Gerichtsstandsvereinbarungen mit ''forum non conveniens''-Erwägungen sehr zurückhaltend.<br />
<br />
== 4. Abgrenzung zur rügelosen Einlassung ==<br />
<br />
Die Gerichtsstandsvereinbarung nach Art.&nbsp;23 Brüssel&nbsp;I-VO ist von der rügelosen Einlassung nach Art.&nbsp;24 Brüssel&nbsp;I-VO abzugrenzen, deren räumlicher Anwendungsbereich ebenfalls lediglich einen grenzüberschreitenden Bezug und den Wohnsitz einer der Parteien in einem Mitgliedstaat voraussetzt.<br />
<br />
Funktional besteht eine gewisse Verwandschaft zwischen beiden Rechtsinstituten: Die Parteien begründen durch ihr Verhalten eine Zuständigkeit jenseits der gesetzlichen Gerichtsstände. Den Parteiinteressen wird Vorrang gegenüber dem Ordnungsinteresse des Staates eingeräumt.<br />
<br />
Die systematische Einordnung hängt von der Sichtweise ab: Die rügelose Einlassung lässt sich entweder als nachträgliche, konkludente Vereinbarung über die Zuständigkeit im Prozess oder als ein Anwendungsfall der prozessualen Präklusion einordnen. Die Regelung in Art.&nbsp;24 folgt dem Modell der konkludenten Vereinbarung über die Zuständigkeit. Dementsprechend sind sowohl die Gerichtsstandsvereinbarung als auch die rügelose Einlassung in der Brüssel&nbsp;I-VO in demselben Abschnitt 7 unter der Überschrift „Vereinbarung über die Zuständigkeit“ geregelt. Dieses systematische Verständnis herrscht insbesondere auch in denjenigen Mitgliedstaaten vor, die für die rügelose Einlassung eine spezielle Zuständigkeitsregel im Zusammenhang mit der Regelung über Gerichtsstandsvereinbarungen vorsehen; siehe etwa Art.&nbsp;38–40 ZPO, Art.&nbsp;9 Rv, Art.&nbsp;22 Abs.&nbsp;2 LOPJ und Art.&nbsp;43 griech. ZPO (dort ausdrücklich als stillschweigende Vereinbarung bezeichnet). Ein anderes systematisches Verständnis wird in denjenigen Rechtsordnungen zugrunde gelegt, die nicht über eine solche spezielle Zuständigkeitsregelung verfügen. Sie begründen die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts mit dem Modell einer prozessualen Präklusion; so etwa das französische, belgische und luxemburgische Recht. Im englischen Recht ist die ''submission'' systematisch eigenständig, wird also weder als konkludente Gerichtsstandsvereinbarung noch als Folge prozessualer Präklusion angesehen.<br />
<br />
Jenseits dieser systematischen Divergenzen herrscht über die Voraussetzungen der Zuständigkeitsbegründung durch rügelose Einlassung weitgehend Einigkeit. Ausreichend ist ein tatsächliches, objektiv als Einlassung des Beklagten zu verstehendes Verhalten. Es bedarf keines entsprechenden rechtsgeschäftlichen Willens; insbesondere ein Rechtsfolgenirrtum ist unbeachtlich. Der Begriff des Einlassens ist in autonomer Auslegung weit zu verstehen. Bezugspunkt ist in Art.&nbsp;24 und den meisten europäischen Rechtsordnungen das Verfahren an sich, nicht nur die Hauptsache (so aber §&nbsp;39 ZPO und §&nbsp;104 Abs.&nbsp;3 JN). Für eine Einlassung reicht daher jedes mündliche oder schriftliche Verteidigungsvorbringen aus, insbesondere auch Verfahrensrügen. Anders als im Falle der Gerichtsstandsvereinbarung nach Art.&nbsp;23 sehen fast alle europäischen Rechtsordnungen wie Art.&nbsp;24 für die rügelose Einlassung kein Formerfordernis vor. Sie muss lediglich die Prozesshandlungsvoraussetzungen der jeweiligen ''lex fori'' erfüllen. Auch ein richterlicher Hinweis auf die an sich bestehende Unzuständigkeit und die Folgen einer rügelosen Einlassung ist in den meisten europäischen Rechtsordnungen nicht vorgesehen und auch nach Art.&nbsp;24 nicht erforderlich (anders als nach der ZPO im amtsgerichtlichen Verfahren nach §§&nbsp;39, 504 ZPO und in Österreich nach §&nbsp;104 Abs.&nbsp;3 JN, sofern der Beklagte nicht anwaltlich vertreten ist). Damit besteht trotz des unterschiedlichen systematischen Verständnisses im Ergebnis weitgehend Übereinstimmung zwischen den Regelungen der Mitgliedstaaten und Art.&nbsp;24. Die Abgrenzung der Anwendungsbereiche von europäischem und nationalem Recht ist daher in diesem Bereich von geringer praktischer Bedeutung.<br />
<br />
Ebenso wie die Gerichtsstandsvereinbarung kann auch die rügelose Einlassung die ausschließliche Zuständigkeit nach Art.&nbsp;22 nicht überwinden. Im Unterschied zur Gerichtsstandsvereinbarung nach Art.&nbsp;23 ist eine rügelose Einlassung nach Art.&nbsp;24 jedoch auch wirksam, wenn sie die besonderen Gerichtsstände der Brüssel&nbsp;I-VO in Versicherungs-, Verbraucher- und arbeitsvertraglichen Sachen durchbricht. Dies folgt aus dem abweichenden Wortlaut von Art. 24 sowie im Umkehrschluss aus Art.&nbsp;13 Nr.&nbsp;1, 17 Nr.&nbsp;1, 21 Nr.&nbsp;1 Brüssel&nbsp;I-VO. Im Falle eines Konflikts zwischen einer zeitlich früheren Gerichtsstandsvereinbarung und einer nachfolgenden rügelosen Einlassung geht letztere regelmäßig vor.<br />
<br />
== 5. Entwicklungen im Einheitsrecht ==<br />
<br />
Im Rahmen der [[Haager Konferenz für IPR]] wurden wiederholt Anläufe unternommen, internationale Gerichtsstandsvereinbarungen staatsvertraglich zu regeln. Diese Versuche sind gescheitert.<br />
<br />
Das Haager Übereinkommen über die Zuständigkeit des vertraglich vereinbarten Gerichts beim internationalen Kauf beweglicher Sachen vom 15.4.1958 ist ebenso wie das Haager Übereinkommen über einheitliche Regelungen über die Gültigkeit und die Wirkungen der Gerichtsstandsvereinbarungen vom 25.11.1965 bisher nicht in Kraft getreten. Hiermit ist auch nicht mehr zu rechnen.<br />
<br />
Ein letzter Versuch wurde im Jahre 2002 unternommen, nachdem das Projekt einer umfassenden Konvention, welche die [[Zuständigkeit, internationale|internationale Zuständigkeit]] sowie die [[Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen|Anerkennung und Vollstreckung von ausländischen Entscheidungen]] in [[Zivil- und Handelssache]]n mit weltweiter Geltung regeln sollte, gescheitert war. Zumindest für Gerichtsstandsvereinbarungen (Wirkungen von Pro- und Derogation, Anerkennung und Vollstreckung auf ihrer Grundlage ergangener Entscheidungen) sollte ein konsensfähiges Übereinkommen erarbeitet werden. Nachdem die Entwürfe durch zahlreiche Ausnahmen vom Anwendungsbereich und Vorbehalte zusammengestutzt worden waren, wurde am 30.6.2005 ein Resttorso als Haager Übereinkommen über Gerichtsstandsvereinbarungen beschlossen. Die Kernelemente bestehen darin, dass das vereinbarte Gericht seine Zuständigkeit nach Art.&nbsp;5(2) nicht unter ''forum non conveniens''-Gesichtspunkten ablehnen darf, dass andere Gerichte als das vereinbarte die Klage grundsätzlich nach Art.&nbsp;6 als unzulässig abweisen oder das Verfahren aussetzen müssen (dies gilt nach Art.&nbsp;7 wie nach Art.&nbsp;31 Brüssel&nbsp;I-VO nicht für Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes), und dass die Entscheidung des vereinbarten Gerichts in den anderen Vertragsstaaten nach Art.&nbsp;8&nbsp;ff anerkannt und vollstreckt werden muss. Obwohl ''anti-suit injunctions'' nicht ausdrücklich verboten sind, spricht mehr für ihre Unzulässigkeit, da sie der Systematik des Übereinkommens widersprechen.<br />
<br />
Der Anwendungsbereich des Übereinkommens ist begrenzt (siehe Art.&nbsp;2): Erstens werden nur ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarungen erfasst. Zweitens sind zahlreiche Bereiche vom persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich ausgeschlossen. Dies betrifft unter anderem Gerichtsstandsvereinbarungen unter Beteiligung natürlicher Personen, die nicht zu gewerblichen Zwecken handeln, weite Bereiche des gewerblichen Rechtsschutzes mit Ausnahme des Urheberrechts und lizenzvertraglicher Streitigkeiten, kartell- und wettbewerbsrechtliche Angelegenheiten, deliktsrechtliche Ansprüche, Ansprüche wegen Körperschäden, Ansprüche aus Personen- und Güterbeförderung sowie insolvenzrechtliche Angelegenheiten. Darüber hinaus kann jeder Vertragsstaat weitere Rechtsgebiete vom Anwendungsbereich ausschließen (Art.&nbsp;21). Drittens kann jeder Vertragsstaat vorsehen, dass seine Gerichte ihre Zuständigkeit trotz ausschließlicher Prorogation ablehnen können, sofern kein Inlandsbezug besteht (Art.&nbsp;19). Den Vertragsstaaten soll dadurch die Möglichkeit eröffnet werden, sich als Forum auch für reine Drittstaatenfälle zur Verfügung zu stellen oder dies eben gerade auszuschließen. ''Forum non conveniens''-Gesichtspunkte, die an sich durch Art.&nbsp;5(2) ausgeschlossen sind, werden damit doch wieder ermöglicht und die Wahl neutraler Gerichtsstände gegebenenfalls deutlich erschwert.<br />
<br />
Bisher (Stand: Juni 2009) hat Mexiko das Übereinkommen ratifiziert, die USA (19.1.2009) und die EG (1.4.2009) haben es unterzeichnet; die Kommission hat kürzlich auch die Ratifikation vorgeschlagen. Das Verhältnis zur Brüssel&nbsp;I-VO ist unklar. Nach Art.&nbsp;26(6) des Haager Übereinkommens könnte dieses bei rein innergemeinschaftlichen Sachverhalten zurücktreten. Die Brüssel&nbsp;I-VO regelt das Rangverhältnis in Art.&nbsp;71(1) nicht. Die Revision der Brüssel&nbsp;I-VO sollte diesbezüglich Klarheit schaffen; das Grünbuch der Kommission spricht die Problematik nicht an.<br />
<br />
==Literatur==<br />
''Gerhard Schiedermair'', Vereinbarungen im Zivilprozess, 1935; ''Jochen Schröder'', Internationale Zuständigkeit, 1971; ''Sabine Schulte-Beckhausen'', Internationale Zuständigkeit durch rügelose Einlassung im europäischen Zivilprozeßrecht, 1994; ''Friederike Sandrock'', Die Vereinbarung eines „neutralen“ internationalen Gerichtsstandes, 1997; ''Gerhard Wagner'', Prozessverträge, 1998; ''Barbara Lindenmayer'', Vereinbarung über die internationale Zuständigkeit und das darauf anwendbare Recht, 2002; ''Thomas Rauscher ''(Hg.), Europäisches Zivilprozessrecht, Bd.&nbsp;I, 2. Aufl. 2006; ''Ulrich Magnus'', ''Peter Mankowski ''(Hg.), Brussels I, 2007; ''Florian Eichel'', AGB-Gerichtsstandsklauseln im deutsch-amerikanischen Handelsverkehr, 2007; ''Adrian Briggs'', Agreements on Jurisdiction and Choice of Law, 2008; ''Rolf Wagner'', Das Haager Übereinkommen vom 30.6.2005 über Gerichtsstandsvereinbarungen, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 73 (2009) 102&nbsp;ff; ''Peter Mankowski'', Ist eine vertragliche Absicherung von Gerichtsstandsvereinbarungen möglich?, Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts 2009, 23&nbsp;ff.<br />
<br />
[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Choice_of_Court_Agreements]]</div>Richterhttps://hwb-eup2009.mpipriv.de/index.php?title=Ausstrahlung_des_europ%C3%A4ischen_Privatrechts_ins_chinesische_Recht&diff=1645Ausstrahlung des europäischen Privatrechts ins chinesische Recht2021-09-08T10:17:54Z<p>Richter: </p>
<hr />
<div>von ''[[Knut B. Pißler]]''<br />
== 1. Chinesisches Privatrecht: Historische Herkunft und Entwicklung ==<br />
Das chinesische Recht wurde von alters her in die Form von Gesetzbüchern gegossen. Dabei verkündete jede Dynastie ein neues Gesetzbuch, welches jedoch dem der vorhergehenden Dynastie nachgebildet war. Das Gesetzbuch der ''Tang''-Dynastie (618-907), welches aus dem Jahr 651 datiert, ist das frühste erhaltene chinesische Gesetzbuch und gilt als Höhepunkt in der Gesetzgebungsgeschichte Chinas. Die materiellen Regelungen haben sich in der weiteren chinesischen Gesetzgebungsgeschichte nur unwesentlich vom Gesetzbuch der ''Tang'' fortentwickelt. So ist für den Ming-Kodex aus dem Jahr 1367, der mehrfach überarbeitet und 1397 als „Kodex der Großen Ming“ (''Da Ming Lü'') neu festgesetzt wurde, festgestellt worden, dass ein Großteil seiner Artikel aus dem ''Tang''-Kodex übernommen worden ist. Auch der letzte vormoderne Kodex, das „Gesetzbuch der Großen Qing mit Ergänzungsregeln“ (''Da Qing Lü Li''), in seiner ursprünglichen Form als „Gesetzbuch der Großen Qing“ (''Da Qing Lü'') im Jahr 1646 in Kraft gesetzt und 1740 mit den Ergänzungsregeln versehen, orientiert sich in seiner Gestalt am ''Ming''-Kodex und somit letztlich ebenfalls am Gesetzbuch der ''Tang''-Dynastie.<br />
<br />
Diese Gesetzbücher haben überwiegend straf- und verwaltungsrechtlichen Charakter. Soweit privatrechtliche Grundsätze erkennbar sind, sind sie oft in ein strafrechtliches Gewandt gehüllt. Vor diesem Hintergrund wäre es falsch davon zu sprechen, dass kodifiziertes Recht im vormodernen China nicht existierte. Dieses Recht erwies sich aber bei der Berührung mit den europäischen Mächten als unzulänglich. Zumindest in den Augen der Europäer des 19. und 20.&nbsp;Jahrhunderts erschien das chinesische Recht auf Grund seines strafrechtlichen Charakters primitiv und barbarisch. Der Handel mit dem Ausland verlangte nach Rechtssicherheit, die aus ausländischer Sicht allein durch eine Übernahme einer Kodifikation nach europäischem Muster zu gewährleisten sei. Dies wurde schließlich zur Bedingung für die Aufnahme Chinas in den Kreis der „zivilisierten“ Nationen und für einen Verzicht auf die extraterritorialen Rechte der Kolonialmächte.<br />
<br />
Aber neben diesem äußeren Druck gab es auch innerhalb der ''Qing''-Regierung Befürworter einer Rechtsreform. Im 28.&nbsp;Jahr der Regentschaft des Kaisers ''GUANG Xu'' (1902) reichten drei hochrangige chinesische Beamte eine Throneingabe ein, in der sie vorschlugen, das chinesische Recht grundlegend zu reformieren, um mit der Entwicklung im Ausland Schritt halten zu können.<br />
<br />
Als China am Beginn des 20.&nbsp;Jahrhunderts also anfing, sein Privatrecht zu kodifizieren, wurde eine Studienkommission nach Europa, Japan und Amerika entsendet, um sich dort über die staatlichen und politischen Einrichtungen zu unterrichten. Der erste Entwurf eines chinesischen Zivilgesetzes wurde im August 1911 – kurz vor dem Fall der ''Qing''-Dynastie – unter der Mitarbeit von Chinesen, die in Japan, Europa und Amerika Recht studiert hatten, sowie der japanischen Berater ''MATSUOKA Yoshitada SHIDA Kotaro'' fertig gestellt. Dieser Entwurf trat jedoch nie in Kraft. Nach Gründung der Republik China gingen die Entwurfsarbeiten weiter. Als ausländische Ratgeber standen der ehemalige französische Berater der siamesischen Regierung, ''G.'' ''Padoux'', zwei japanische Berater, ''ITAKURA Matsutaru'' und ''IWATA Shin'', sowie seit 1921 ''Jean Escarra'', damals Professor für Handelsrecht an der juristischen Fakultät in Grenoble, zur Verfügung. In den Jahren 1925/26 wurde ein zweiter Entwurf eines chinesischen Zivilgesetzes erarbeitet. Die Verabschiedung dieses zweiten Entwurfs scheiterte aber an innerchinesischen Machtkämpfen. Ende 1928 wurden die Arbeiten fortgesetzt. Als ausländischer Berater fungierte weiterhin ''G. Padoux''. Das Zivilgesetz der Republik China wurde schließlich in den Jahren 1929 bis 1931 verkündet und in Kraft gesetzt.<br />
<br />
Es ist durch mehrere Faktoren geprägt: Erstens wurden bei seiner Ausarbeitung die Entwürfe von 1911 und 1925/26 zugrunde gelegt. Das Gesetz ist damit die Vollendung der Arbeiten, die Anfang des 20.&nbsp;Jahrhunderts in China begonnen wurden. Zweitens lagen den Verfassern des Gesetzes zahlreiche ausländische Kodifikationen vor: Genannt werden das [[schweizerisches Zivilgesetzbuch|schweizerische Zivilgesetzbuch]] vom 1912, das [[schweizerisches Obligationenrecht|schweizerische Obligationenrecht]] von 1881/1911, das [[russisches Zivilgesetzbuch|russische Zivilgesetzbuch]] von 1922, das japanische Zivilgesetz (1898) und Handelsgesetz (1890), das türkische Obligationenrecht und Handelsgesetz (1926) ([[Türkisches Zivilgesetzbuch und Obligationenrecht]]), das siamesische Zivil- und Handelsgesetzbuch von 1923/25, der italienische Entwurf eines Handelsgesetzbuches, das brasilianische Zivilgesetz von 1916 sowie ein französisch-italienischer Entwurf eines gemeinsamen Obligationenrechts vom 1927. Vor allem aber wird dem deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch ein maßgeblicher Einfluss auf das Zivilgesetz zugeschrieben. Hierzu vermutet ''Karl Bünger'', dass dieser Einfluss auf die kurze Tätigkeit der deutschen juristischen Fakultät in ''Qingdao'' – Hauptort der 1898 für 99 Jahre vom Deutschen Reich gepachteten Gebietes um die Bucht von ''Jiaozhou'' – zurückzuführen sei, die für die deutsche Rechtswissenschaft geworben habe. Eine gewisse Rolle wird auch die Tatsache gespielt haben, dass Deutschland als erster europäischer Staat nach dem Ersten Weltkrieg mit der „Deutsch-chinesischen Vereinbarung zur Wiederherstellung des Friedenszustandes“ (1921) seine exterritorialen Rechte in China aufgab und damit die Republik China als gleichberechtigten Staat anerkannte.<br />
<br />
Nach der Machtergreifung durch die Kommunisten auf dem chinesischen Festland im Jahr 1949 wurde das Zivilgesetz außer Kraft gesetzt. Zwischen 1949 und 1978 diente die Gesetzgebung in der Volksrepublik China primär den Grundanliegen der Sozialreform und der Machtsicherung der Kommunistischen Partei. Erst die Politik der „Reform und Öffnung“, die von ''DENG Xiaoping ''Ende des Jahres&nbsp;1978 eingeleitet wurde, führte in China zu einem wirtschaftlichen Aufschwung, der nach Rechtssicherheit und damit nach der Verabschiedung von Gesetzen verlangte.<br />
<br />
Das chinesische Zivilrecht besteht derzeit aus verschiedenen Gesetzen, die zusammengenommen den Regelungsbereich des deutschen bürgerlichen Gesetzbuches umfassen. Zu nennen sind erstens die „Allgemeinen Grundsätze des Zivilrechts“ (AGZR) aus dem Jahr 1986, die wie ein [[Allgemeiner Teil]] eines umfassenden Zivilgesetzes erscheinen, aber auch Regelungen zur juristischen Person sowie zum Schuldrecht, Sachenrecht, Deliktsrecht und internationalen Privatrecht enthalten. Zweitens wurde im März 1999 das „Vertragsgesetz der Volksrepublik China“ verabschiedet, das im Oktober 1999 in Kraft getreten ist. Mit seinen 428 Paragraphen bildet es das bislang umfangreichste Regelungswerk der Volksrepublik China. Seine Verabschiedung gilt als eines der wesentlichen Gesetzgebungswerke in der Volksrepublik. Neben Vorschriften des allgemeinen Schuldrechts, die in einem allgemeinen Teil zusammengefasst sind, schließt das Vertragsgesetz auch einen besonderen Teil ein, in dem fünfzehn Vertragstypen geregelt sind. Ein Sachenrechtsgesetz wurde nach langen, vor allem ideologisch geprägten Diskussionen im März 2007 verabschiedet. Ehe-, Adoptions- und Erbrecht werden jeweils in eigenen Gesetzen geregelt, die zum Teil erst kürzlich revidiert wurden.<br />
<br />
Bis zum Jahr 2010 sollen das [[Deliktsrecht: Allgemeines und lex Aquilia|Deliktsrecht]] und das [[internationales Privatrecht|internationale Privatrecht]] revidiert und zusammen mit den bereits verabschiedeten Gesetzen sowie einem einführenden Allgemeinen Teil als Zivilgesetzbuch der Volksrepublik China zusammengefasst werden.<br />
<br />
== 2. Rechtsberatung ==<br />
Bereits bei der Kodifikation des chinesischen Privatrechts am Ende der ''Qing''-Dynastie hat sich der Gesetzgeber ausländischer Berater bedient, um sich über mögliche Regelungsvorbilder im Ausland zu informieren. Diese Beratung hat sich nach der Ausrufung der Volksrepublik China fortgesetzt. Waren es zunächst die sowjetischen Berater, die den Chinesen beim Aufbau eines [[sozialistisches Recht|sozialistischen Recht]]s helfen sollten, sind seit Einführung der Politik der „Reform und Öffnung“ im Jahr 1978 eine Vielzahl von nationalen und internationalen Beratern tätig. Zu nennen ist etwa die Weltbank, die ''Asian Development Bank'', die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit aus Deutschland und eine Vielzahl US-amerikanischer Institutionen.<br />
<br />
Bei der Rechtsberatung ist jedoch zu bemerken, dass die Berater nicht unmittelbar am Entwurf neuer Regelungen beteiligt sind, die dann vom chinesischen Gesetzgeber übernommen werden. Ihre Rolle beschränkt sich auf die eines Ideenlieferanten. Der chinesische Gesetzgeber legt Wert auf eine autonom chinesische Form der Gesetzgebung, so dass Aussagen darüber, welchem ausländischen Vorbild er den Vorzug gegeben hat, von ihm nicht getroffen werden. Da außerdem verschiedene Institutionen in der Beratung tätig sind, ist es schwierig, den Erfolg der Beratungsarbeit zu messen oder gar festzustellen, welchem ausländischen Vorbild der chinesische Gesetzgeber im konkreten Fall gefolgt ist. Rückschlüsse lassen sich aber mit Hilfe von Materialien ziehen, die seit einiger Zeit vom chinesischen Gesetzgeber nach Verabschiedung eines Gesetzes veröffentlicht werden. Diese enthalten zum Teil nämlich Übersetzungen ausländischer Kodifikationen, die im Gesetzgebungsverfahren Berücksichtigung gefunden haben. In der chinesischen Rechtswissenschaft ist es inzwischen auch durchaus üblich, chinesische Rechtsinstitute rechtsvergleichend anhand ausländischer Vorbilder zu erklären, so dass dadurch in einem gewissen Umfang Einblick gewährt wird.<br />
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== 3. Beispiele für ausländische Einflüsse ==<br />
Bei den Entwurfsarbeiten zum Vertragsgesetz, welches im Jahr 1999 verabschiedet wurde, wurden erstmals relativ umfassend die Materialien veröffentlicht, welche dem chinesischem Gesetzgeber vorlagen. Ein vom Zivilrechtsbüro des Rechtssetzungsausschusses des Nationalen Volkskongresses herausgegebenes Buch führt beispielsweise zu den jeweiligen Paragraphen des Vertragsgesetzes die ausländischen Rechtsnormen an, an denen man sich bei den Entwurfsarbeiten orientiert hat oder die man doch zumindest zur Kenntnis genommen hat. Darunter finden sich – häufig an erster Stelle angeführt – das deutsche [[Bürgerliches Gesetzbuch|BGB]], der französische ''[[Code civil]]'', der italienische ''[[Codice civile]]'', aber auch das japanische und taiwanische Zivilgesetz und der US-amerikanische UCC. Im Hinblick auf das internationale Einheitsrecht wurden das UN-Kaufrecht ([[Warenkauf, internationaler (Einheitsrecht)]]) und die [[UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts|UNIDROIT PICC]] berücksichtigt. Dass die [[Principles of European Contract Law|PECL]], deren chinesische Übersetzung erst im Jahr 1999 veröffentlicht wurde, keine Berücksichtigung finden konnten, ist wohl darauf zurückzuführen, dass die Entwurfsarbeiten zum Vertragsgesetz bereits im Jahr 1993 begannen und ein erster Entwurf bereits im Januar 1995 fertig gestellt wurde.<br />
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Obwohl keine umfassende Studie dazu vorliegt, welchen Vorbildern der chinesische Gesetzgeber in den einzelnen Regelungen des Vertragsgesetzes gefolgt ist, kann doch festgestellt werden, dass dem Gesetz nicht durchgängig ein Vorbild zugrunde liegt. Vielmehr wurde das Gesetz aus Einzelregelungen zusammengestellt, die in unterschiedlichen ausländischen Vorbildern vorgefunden wurden. Soweit internationales Einheitsrecht vorlag, hat ihm der chinesischen Gesetzgeber häufig den Vorzug gegeben, weil sich dieses erstens als modernstes Vorbild präsentierte und sich zweitens weitgehend der Lagerkämpfe entzog, welche in China zwischen Rechtswissenschaftlern ausgetragen wird, die in verschiedenen Ländern außerhalb Chinas ihre Ausbildung genossen haben und daher für eine Übernahme des Rechts dieses Landes eintreten.<br />
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Beim chinesischen Sachenrechtsgesetz, welches im Jahr 2007 verabschiedet wurde, zeigt sich ein deutlicher Einfluss des kontinental-europäischen Rechts vor allem in der Diskussion über bestimmte Rechtsinstitute. In der Rechtswissenschaft wurde ausführlich debattiert, ob man dem deutschen Trennungs- und Abstraktionsprinzip oder dem französischen Einheitsprinzip folgen sollte. Der Gesetzgeber hat sich schließlich dafür entschieden, das Konsensprinzip verbunden mit einem Kundgabeakt (Eintragung bzw. Übergabe) zu normieren, wie dies bereits in den AGZR aus dem Jahr 1986 vorgesehen war. Damit folgt China (wohl auch beeinflusst durch eine entsprechende Regelung im Zivilgesetz der ehemaligen DDR) einem Mittelweg, nämlich der Lehre vom ''titulus'' und ''modus'' aus dem römisch-gemeinen Recht, wie dies in Europa Österreich, die Niederlande und Spanien tun. Im Hinblick auf das Publizitätsprinzip hat sich der chinesische Gesetzgeber bei unbeweglichen Sachen für das deutsche Eintragungsprinzip (mit konstitutiver Wirkung) und gegen das Transkriptionsprinzip entschieden, bei dem die Eintragung nur dazu dient, das Recht Dritten entgegensetzen zu können.<br />
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== 4. Einfluss des europäischen Rechts auf chinesische Rechtswissenschaft ==<br />
In der chinesischen Rechtswissenschaft ist ebenfalls ein deutlicher Einfluss des europäischen Rechts spürbar. Dies zeigt sich etwa in Lehrbüchern, wenn in einen rechtsvergleichenden Einstieg zu einem bestimmten Rechtsinstitut des chinesischen Rechts Vorbilder des deutschen und französischem Rechts sowie in jüngerer Literatur nunmehr auch des Einheitsrechts zitiert werden.<br />
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Allmählich entwickelt sich in der Volksrepublik China das Genre einer rechtswissenschaftlichen Kommentar'''literatur.''' Das Zitieren im Allgemeinen und von Gerichtsentscheidungen im Besonderen ist jedoch (noch) nicht üblich, so dass zurzeit offen ist, ob die Rechtswissenschaft in China dazu übergehen wird, auch ausländische Gerichtsentscheidungen (etwa aus Deutschland) heranzuziehen, wie man dies beispielsweise in Kommentaren zum koreanischen Zivilgesetz vorfindet.<br />
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==Literatur==<br />
''Karl Bünger'', Das neue chinesische BGB: Seine Entstehungsgeschichte und Systematik, Blätter für Internationales Privatrecht 1931, Sp.&nbsp;258&nbsp;ff.; ''Ping-Sheung Foo'', Introduction, in: The Civil Code of the Republic of China, Bd.&nbsp;I-V, 1931 (übersetzt von Ching-Lin HSIA, James L.E. CHOW, Liu CHIEH, Yukon CHANG); ''Karl Bünger'', Zivil- und Handelsgesetzbuch sowie Wechsel- und Scheckgesetz von China, 1934; ''Jean Escarra'', Le droit Chinois, 1936; ''Ulrich Manthe'', Bürgerliches Recht und Bürgerliches Gesetzbuch in der Volksrepublik China, in: Jahrbuch für Ostrecht 28 (1987) 11&nbsp;ff.; ''Robert Heuser'', Einführung in die chinesische Rechtskultur, 2.&nbsp;Aufl. 2002; ''Dahan Huang'', The UNIDROIT Principles and their influence in the modernisation of Contract Law in the People’s Republic of China, Uniform Law Review 2003, 107&nbsp;ff.;'' Xiaoyan Baumann'', Das neue chinesische Sachenrecht, 2006;'' Oliver Simon'', Bericht der chinesischen Studienkommission aus dem Jahr 1906 über ihren Besuch in Deutschland, Zeitschrift für Chinesisches Recht 2006, 77&nbsp;ff.;'' Hinrich Julius'', ''Gebhard M. Rehm'', Das chinesische Sachenrechtsgesetz tritt in Kraft, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 106 (2007) 367&nbsp;ff.; ''Hinrich Julius'', Institutionalisierte rechtliche Zusammenarbeit: Die Erfahrung der GTZ in China, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 72 (2008) 55&nbsp;ff.<br />
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[[Kategorie:A–Z]]<br />
[[en:Chinese_Law,_Influence_of_European_Private_Law]]</div>Richter