Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

Aus HWB-EuP 2009

von Patrick Kinsch

1. Aufgaben

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit Sitz in Straßburg beim Europarat ist das Hauptinstrument der (subsidiären) „kollektiven Gewährleistung“ (EGMR Nr. 1474/62 – Belgischer Sprachenfall, § 10) der von der Europäischen Menschenrechtskonvention (Grund- und Menschenrechte: GRCh und EMRK) garantierten Rechte. Die EMRK ist durchaus das funktionelle Äquivalent eines gesamteuropäischen Grundrechtekatalogs, und dem EGMR kommt insofern eine quasi-verfassungsgerichtliche Rolle zu, die mit einem Teil der Rolle des Europäischen Gerichtshofs verglichen werden kann. Nur bestehen zwischen den beiden Gerichtshöfen ebenfalls erhebliche Unterschiede. Dem EGMR ist das Vorlageverfahren völlig fremd. Er kann nur von (in der Praxis äußerst seltenen) Staatenbeschwerden (Art. 33 EMRK) und von Individualbeschwerden nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs (Art. 34) befasst werden. Seine Zuständigkeit zur Abgabe von Gutachten auf Antrag des Ministerkomitees des Europarats erstreckt sich nicht auf den Inhalt oder das Ausmaß der von der EMRK garantierten Rechte (Art. 47) und hat dementsprechend fast keine Bedeutung. Auch betont der EGMR in ständiger Rechtsprechung, seine Aufgabe sei es nicht, die angefochtenen nationalen Rechtsbestimmungen abstrakt auf ihre Vereinbarkeit mit der Konvention zu prüfen, sondern sich soweit wie möglich auf die Prüfung der konkreten, von dem ihm vorliegenden Fall aufgeworfenen Fragen zu beschränken (EGMR Nr. 214/56 – De Becker/Belgien, § 14). Aus all dem ergibt sich eine, verglichen mit der Vorgehensweise des EuGH, stärkere Betonung des konkreten Individualrechtsschutzes und in Korrelation damit eine weniger weitgehende Tendenz zur ausdrücklichen Formulierung richterrechtlicher Normsätze.

Vertragsstaaten der EMRK sind heute sämtliche Mitgliedstaaten des Europarats; nicht Vertragspartei ist dagegen die Europäische Gemeinschaft, gegen die deshalb keine Beschwerde eingereicht werden kann. Der Vertrag von Lissabon soll jedoch den Beitritt der EU zur EMRK ermöglichen. Beschwerden gegen Mitgliedstaaten der EU wegen Konventionsverstößen, die ihren Ursprung in Gemeinschafts- oder Unionsrechtsakten haben, sind möglich; allerdings wendet der EGMR im Interesse der „internationalen Kooperation“ eine (einfache) Vermutung der Gleichwertigkeit des EuGH-Rechtsschutzes mit dem Rechtsschutz vor dem EGMR an (EGMR Nr. 45036/98 – Bosphorus/ Irland).

2. Geschichte

Der Beitritt zur EMRK (in Kraft getreten am 3.9.1953) war ursprünglich nicht zwingend mit der Annahme der Zuständigkeit des Gerichtshofs gegenüber dem betreffenden Vertragsstaat verbunden. Deshalb nahm der EGMR erst am 3.9.1958, nach Annahme seiner Zuständigkeit durch acht Vertragsstaaten, seine Tätigkeit auf. Anfangs (bis in die 1980er Jahre) waren Urteile des Gerichtshofs selten. Die Hauptaufgabe im Zusammenhang mit der Überwachung der Einhaltung der Konvention wurde von der Europäischen Kommission für Menschenrechte (EKMR, abgeschafft durch das am 1.11.1998 in Kraft getretene 11. Zusatzprotokoll) wahrgenommen. Diese wurde von Anfang an mit zahlreichen Individualbeschwerden befasst, die sie aber zum allergrößten Teil für unzulässig erklärte; da auch die offensichtliche Unbegründetheit einer Beschwerde ein Grund für deren Unzulässigkeit war (und ist), stellte in der Anfangszeit die Rechtsprechung der EKMR die Hauptquelle der Rechtsprechung zur EMRK dar.

Das System der Individualbeschwerden ist der Grund des Erfolgs des europäischen Menschenrechtsschutzes; allerdings wurde die EKMR, danach der EGMR, auch Opfer ihres Erfolgs (ständige Zunahme der Anzahl von Beschwerden). Das 11. Zusatzprotokoll ersetzte die bisherige Kommission und den bisherigen Gerichtshof durch ein einziges Organ, den Gerichtshof, der durch das 11. Zusatzprotokoll eine grundlegend neue Organisation erhielt: Fusion der bisherigen Rollen von EKMR und EGMR; Vollzeittätigkeit der Richter am Gerichtshof; zwingende Annahme der Zuständigkeit des Gerichtshofs und des Rechts auf Individualbeschwerde durch alle Vertragsstaaten). Beeindruckend (oder erschreckend) sind die Statistiken zur Zunahme der Zahl der Beschwerden: 1995 wurden 3.500 neue Beschwerden einem Spruchkörper (damals der EKMR) zugewiesen; 1999, nach Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls, waren es 8.400. 2008 waren es 49.850, davon waren 28 % gegen die Russische Föderation gerichtet, 11,4 % gegen die Türkei, 9,1 % gegen Rumänien und 8,5 % gegen die Ukraine.

3. Organisation

Die Anzahl der Richter entspricht der Anzahl der Vertragsstaaten (gegenwärtig 47), wobei es möglich ist, dass ein Richter nicht die Staatsangehörigkeit des Staates besitzt, für den er gewählt wurde (Liechtenstein wird z.Zt. durch einen Schweizer Richter vertreten). Die Richter sind unabhängig; gemäß Art. 21 EMRK gehören sie dem Gerichtshof in ihrer persönlichen Eigenschaft an. Voraussetzungen zum Richteramt sind nach derselben Vertragsbestimmung, dass die Richter „hohes sittliches Ansehen genießen und entweder die für die Ausübung hoher richterlicher Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllen oder Rechtsgelehrte von anerkanntem Ruf“ sind. Tatsächlich werden nationale Richter oder Staatsanwälte, hohe Ministerialbeamte, Professoren und Anwälte als Richter am EGMR von den Vertragstaaten vorgeschlagen. Gewählt werden die Richter, jeweils aufgrund einer Liste von drei Vorschlägen der Regierung des betreffenden Staates, von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats; diese ist in jüngerer Zeit dazu übergegangen, die nationalen Kandidatenlisten kritisch zu überprüfen und die Richterwahl, nach persönlicher Anhörung der Kandidaten durch eine parlamentarische Kommission, selbständig vorzunehmen, ohne sich von den Präferenzen der jeweiligen Regierung leiten zu lassen. Die Parlamentarische Versammlung besteht daneben auch auf der Ausgewogenheit der Verteilung der Richterposten zwischen den beiden Geschlechtern, was zu Schwierigkeiten bei der Erstellung der Kandidatenlisten in einigen kleineren Vertragsstaaten geführt hat (das erste Gutachten des EGMR, 12.2.2008, schließt daraus, die rigide Praxis der Parlamentarische Versammlung, Kandidatenlisten nur deshalb zu verwerfen, weil sie den Namen keiner Kandidatin enthalten, sei mit der EMRK unvereinbar). Die Amtszeit der Richter beträgt sechs Jahre; eine Wiederwahl ist möglich. Neubesetzungen finden alle drei Jahre statt.

Der Präsident des Gerichtshofs wird vom Richterplenum gewählt. Bisher waren Präsidenten des EGMR der Brite Lord McNair (1959-1965), der Franzose René Cassin (1965-1968), der Belgier Henri Rolin (1968-1971), der Brite Sir Humphrey Waldock (1971-1974), der Italiener Giorgio Balladore Pallieri (1974-1980), der Niederländer Gérard Wiarda (1981-1985), der Norweger Rolv Ryssdal (1985-1998), der Deutsche Rudolf Bernhard (1998), der Schweizer Luzius Wildhaber (1998-2007) und der Franzose Jean-Paul Costa (seit Januar 2007).

Spruchkörper innerhalb des EGMR sind Dreierausschüsse (committees), Kammern (chambers) und die Große Kammer (Grand Chamber). Die überaus größte Zahl der Entscheidungen des Gerichtshofs ergeht in Dreierausschüssen; diese haben die Filterfunktion, die vor 1998 von der Europäischen Kommission für Menschenrechte ausgeübt wurde, übernommen. Die Ausschüsse können einstimmig eine Beschwerde als unzulässig verwerfen; die entsprechenden Entscheidungen sind nicht eingehend begründet und werden nicht veröffentlicht. Im Jahre 2007 waren dies von 28.792 Beschwerden, über die vom Gerichtshof entschieden wurde, 25.802 Fälle. Diejenigen Beschwerden, denen wirkliche Erfolgsaussichten zukommen, werden von den Kammern oder von der Großen Kammer behandelt. Zu Urteilen über die Begründetheit von Beschwerden ist es 2007 in 1.735 Fällen gekommen; 491 Beschwerden wurden von den Kammern oder der Großen Kammer für unzulässig erklärt; in den Restfällen wurde die Beschwerde (aus verschiedenen Gründen, hauptsächlich der gütlichen Einigung zwischen dem Beschwerdeführer und dem Vertragsstaat, gegen den sich die Beschwerde richtete) gestrichen. Kammern von sieben Richtern werden von Fall zu Fall aus den fünf Sektionen des Gerichtshofs gebildet; auf die Sektionen sind sämtliche Richter, der Präsident des Gerichtshofs einbegriffen, nach geographischen Gesichtspunkten aufgeteilt; hierbei wird auf die geographische Ausgeglichenheit geachtet. Der Kammer gehören jeweils der Kammerpräsident und der Richter des Vertragsstaats, gegen den sich die Beschwerde wendet, sowie fünf andere Richter an; ist dem Richter des betroffenen Vertragsstaats die Teilnahme an der Entscheidung nicht möglich, so behält Art. 29 VerfO diesem Staat das Recht vor, einen ad hoc-Richter zu benennen. Die Große Kammer von 17 Richtern spricht Urteile (in seltenen Fällen auch Unzulässigkeitsentscheidungen) in wenigen wichtigen Fällen; 2007 kam es in 15 Fällen zu Urteilen oder Entscheidungen der Großen Kammer. Trotz (oder gerade wegen?) dieser geringen Anzahl von entschiedenen Fällen ist die wesentliche Orientierung der Rechtsprechung des Gerichtshofs Sache der Großen Kammer; allerdings sind Urteile der Großen Kammer gerade in privatrechtlichen Fällen immer noch selten.

Eine überaus wichtige Rolle kommt der Gerichtskanzlei zu. Wegen der außergewöhnlich hohen Zahl von Individualbeschwerden ist die Prüfung sämtlicher Beschwerden durch einen Richter nicht praktikabel. Vielmehr bearbeitet die Kanzlei, der etwa 235 juristische Mitarbeiter aus allen Vertragsstaaten angehören, zahlreiche Fälle und bereitet die verbleibenden Fälle für den berichterstattenden Richter vor. Ein System der persönlichen Referenten (wie beim EuGH und beim EuG ist dem EGMR unbekannt; die Kanzlei als solche ist den Richtern bei der Erstellung des Texts der Entscheidungen und Urteile behilflich. Diese Art der Arbeitsteilung ist für einen Gerichtshof, dessen Spruchkörper jährlich mit inzwischen mehr als 40.000 Neufällen befasst werden, unentbehrlich.

4. Verfahren

Das Verfahren vor dem EGMR ist in der EMRK (zum Teil konkretisiert in der VerfO des Gerichtshofs) geregelt. Der Gerichtshof kann mit Fällen nur im Wege der Beschwerde befasst werden. Neben wenigen Staatenbeschwerden sind dies die Individualbeschwerden, die jede natürliche Person, „nichtstaatliche Organisation“ (nach der Rechtsprechung kann dieser Begriff sowohl juristische Personen, insbesondere Handelsgesellschaften, als auch nicht rechtsfähige Vereine umfassen) oder Personengruppe einleiten kann, die behauptet, Opfer einer Verletzung eines durch die EMRK gewährleisteten Rechts durch einen Vertragsstaat zu sein. Wichtig ist die – an das allgemeine Völkerrecht angelehnte – Regel, dass der innerstaatliche Rechtsweg vor Befassung des EGMR ausgeschöpft sein muss: prinzipiell muss die Verletzung der EMRK zunächst allen innerstaatlichen Instanzen (bis hin zur Verfassungsgerichtsbarkeit) wenigstens „der Sache nach“ (in substance) erfolglos vorgelegt worden sein. Dies ist Ausdruck der Subsidiarität der EGMR-Beschwerde. Ist der innerstaatliche Rechtsweg erschöpft, muss die Beschwerde innerhalb von sechs Monaten beim EGMR eingehen. Ein formloses Schreiben an die Kanzlei des Gerichtshofs ist insoweit ausreichend; damit der Fall vom Gerichtshof bearbeitet werden kann, ist jedoch, gegebenenfalls in einem zweiten Verfahrensschritt, ein Beschwerdeformular gemäß Art. 47 VerfO einzureichen oder nachzureichen. Die Sprache, in der die Beschwerde abgefasst ist, kann vom Beschwerdeführer unter den Amtssprachen sämtlicher Vertragsstaaten frei ausgewählt werden. Allerdings hat das weitere Verfahren, ab Mitteilung der Beschwerde an den Vertragsstaat (diese setzt voraus, dass die Beschwerde nicht schon vorher als unzulässig verworfen wurde), in einer der beiden Amtssprachen des Europarats, englisch und französisch, zu erfolgen. Nur in Ausnahmefällen kann davon abgewichen werden (Art. 34 VerfO). Anwaltszwang besteht in den Anfangsstadien des Verfahrens nicht (Art. 36 VerfO). Die Identität des Beschwerdeführers ist normalerweise nicht als vertraulich zu behandeln; dementsprechend werden die Entscheidungen und Urteile des EGMR unter voller Namensnennung veröffentlicht – und werden üblicherweise auch unter Angabe des Beschwerdeführernamens zitiert.

Anträge auf Erlass von „vorläufigen Maßnahmen“ sind gemäß Art. 39 VerfO zulässig. Über sie entscheidet die zuständige Kammer oder deren Präsident. Vorläufige Maßnahmen sind für die Vertragsstaaten verbindlich (EGMR Nr. 46827/99 und 46951/99 – Mamatkulov u.a./Türkei).

Nach Eingang der Beschwerde wird der Fall einem der Spruchkörper des EGMR zugeteilt. Einer Kammer zugeteilte Beschwerden können von der Kammer an die Große Kammer abgegeben werden, falls nicht eine der Parteien widerspricht. Die Abgabe an die Große Kammer setzt voraus, dass die Rechtssache eine schwerwiegende Frage der Auslegung der Konvention zum Gegenstand hat oder dass die Kammer erwägt, von einem früheren Urteil des Gerichtshofs abzuweichen. Mündliche Verhandlungen vor den Kammern sind selten; generell wird nur ein schriftliches Verfahren durchgeführt. Resultat des Verfahrens kann entweder eine Entscheidung des Gerichtshofs über die Unzulässigkeit der Beschwerde sein (wegen Unvereinbarkeit mit der Konvention oder – in der Praxis wichtigster Grund der Unzulässigkeit – offensichtlicher Unbegründetheit der Beschwerde: Art. 35(3) EMRK) oder ein Urteil über deren Begründetheit. Wird die Beschwerde für begründet erklärt, so stellt der Urteilstenor im Prinzip nur das Vorliegen einer Konventionsverletzung fest (deklaratorisches Urteil) und spricht, sofern „dies erforderlich ist“, dem Beschwerdeführer eine angemessene Entschädigung zu (Art. 41 EMRK). Innerhalb von drei Monaten nach dem Datum der Urteilsverkündung kann eine der Parteien die Verweisung der Sache an die Große Kammer beantragen. Über den Antrag entscheidet ein Ausschuss von fünf Richtern der Großen Kammer. Seine Annahme setzt voraus, dass die Rechtssache eine schwerwiegende Frage von grundsätzlicher Bedeutung aufwirft. Wird die Verweisung angenommen, entscheidet die Große Kammer endgültig über die Beschwerde; sie nimmt dabei eine erneute Bewertung des gesamten Falles vor. Sondervoten von individuellen Richtern sind sowohl bei Kammerurteilen als auch bei Urteilen der Großen Kammer möglich.

Für die Überwachung der tatsächlichen Durchführung der individuellen und allgemeinen Maßnahmen, die das endgültige Urteil erfordern kann, ist nicht der EGMR, sondern das Ministerkomitee des Europarats zuständig (Art. 46(2) EMRK). Allerdings hat der Gerichtshof im Fall Broniowski (EGMR Nr. 31443/96) entschieden, dass in gewissen Fällen „systematischer“ Verletzung der Konvention, die zahlreiche Personen – und potentielle Beschwerdeführer – betreffen (im Fall Broniowski waren es deren 80.000), vom EGMR selbst erlassene „pilot judgments“ dem Vertragsstaat genaue Vorgaben zur Abhilfe machen können. Die Subsidiarität wird hier durch eine Maßnahme „prozessualer Notwehr“ (Christoph Grabenwarter) begrenzt.

Die Verfahrensdauer vor dem EGMR ist – eigentlich paradoxerweise in Anbetracht der, allerdings auf das Verfahren vor dem EGMR selbst unanwendbaren, Garantie der gerichtlichen Entscheidung „innerhalb einer angemessenen Frist“ (Art. 6(1) EMRK) – immer noch in den allermeisten Fällen zu lang. Verfahrensdauern von fünf Jahren oder mehr sind keine Seltenheit in denjenigen Beschwerdefällen, die zu einem Urteil führen. Dieser Tatsache ist sich der Gerichtshof natürlich bewusst. Insbesondere seine Präsidenten weisen regelmäßig darauf hin, dass sich die in das Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls in 1998, die Abschaffung der Kommission und die Reform des Gerichtshofs gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt haben und drängen auf weitergehende Reformen.

5. Zukunft

Die Zukunft des EGMR als wirkungsvolles Gericht hängt von seiner erneuten Reform ab, darüber besteht allgemeiner Konsens. Allerdings besteht auch eine Spannung zwischen zwei gegensätzlichen Bestrebungen: der Bestrebung, dass der EGMR sich auf seine „Verfassungsaufgabe“ konzentrieren möge (nach dem Muster des US-amerikanischen Supreme Court: Auswahlrecht für den Gerichtshof unter den ihm unterbreiteten Individualbeschwerden und Beschränkung auf richtunggebende „Grundsatzentscheide“ zur Sicherung von gemeineuropäischen Mindestnormen im Grundrechtsbereich) und der Bestrebung, dem Einzelnen auch weiterhin Anspruch auf vollen Zugang zum Gerichtshof zu gewährleisten und so das eigentlich Typische am europäischen Menschenrechtsschutz zu bewahren. Eine – ganz pragmatisch aus der Notwendigkeit einer Lösung der sich aus der Flut von Individualbeschwerden ergebenden Probleme resultierende – Kompromisslösung stellt das 2004 unterzeichnete 14. Zusatzprotokoll zur EMRK dar. Das 14. Zusatzprotokoll versucht, die Schwierigkeiten über den Weg der Neuordnung der Zuständigkeiten der Spruchkörper innerhalb des EGMR zu lösen. Die Befugnis zur Verwerfung offensichtlich unbegründeter Beschwerden soll auf die Einzelrichter übertragen werden. Zugleich sollen die Dreierausschüsse auch über die Begründetheit von Beschwerden entscheiden können, sofern die aufgeworfenen Fragen Gegenstand einer gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs sind (sog. repetitive cases). Daneben soll aber auch als zusätzlicher Unzulässigkeitsgrund das Fehlen eines „erheblichen Nachteils“ für den Beschwerdeführer gelten, „es sei denn, die Achtung der Menschenrechte … erfordert eine Prüfung der Begründetheit der Beschwerde“; dies erlaubt teilweise eine Auswahl der Verfahren durch den Gerichtshof. Schließlich soll die Amtszeit der Richter auf neun Jahre verlängert werden, ihre Wiederwahl aber ausgeschlossen werden.

Das Inkrafttreten des 14. Zusatzprotokolls, das seine Ratifizierung durch alle Vertragsstaaten voraussetzt, ist aber an der Weigerung der russischen Staatsduma am 22.12.2006 vorerst gescheitert. Zur Begründung hatte deren Ausschuss für Zivil-, Straf-, Wirtschafts- und Prozessgesetzgebung unter anderem ausgeführt, einer Aushöhlung des individuellen Rechtsschutzes vor dem EGMR nicht zustimmen zu können. Das sich daraus ergebende Risiko einer zunehmenden Erschwerung des Funktionierens des Gerichtshofs wird dabei offenbar billigend in Kauf genommen.

Literatur

Franz Matscher, Quarante ans d’activités de la Cour européenne des droits de l’homme, Recueil des cours 270 (1997) 237 ff.; Jean-François Flauss, Radioscopie de l’élection de la nouvelle Cour européenne des droits de l’homme, Revue trimestrielle des droits de l´homme 1998, 435 ff.; Cour européenne des droits de l’homme, European Court of Human Rights, Aperçu Quarante années d’activité/ Survey Forty Years of Activity 1959-1998, Greffe de la Cour/Registry of the Court, 1999; Jean-François Flauss, Le renouvellement triennal de la Cour européenne des droits de l’homme, Revue trimestrielle des droits de l’homme 2001, 693 ff.; Luzius Wildhaber, Eine verfassungsrechtliche Zukunft für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte?, Europäische Grundrechte-Zeitschrift 2002, 569 ff.; Jean-François Flauss, Faut-il transformer la Cour européenne des droits de l’homme en juridiction constitutionnelle?, Recueil Dalloz 2003, 2584 ff.; idem, Brèves observations sur le second renouvellement triennal de la Cour européenne des droits de l’homme, Revue trimestrielle des droits de l’homme 2005, 5 ff.; Philip Leach, Taking a Case to the European Court of Human Rights, 2. Aufl. 2005; Fred Bruinsma, Judicial Identities in the European Court of Human Rights, in: Aukje van Hoek, Ton Hol, Oswald Jansen, Peter Rijpkema, Rob Widdershoeven (Hg.), Multilevel Governance in Enforcement and Adjudication, 2006, 203 ff.; Jean-François Flauss, Les élections de juges à la Cour européenne des droits de l’homme (2005-2008), Revue trimestrielle des droits de l’homme 2008, 713 ff.; Dokumente zur russischen Blockade des Protokolls Nr. 14“, Europäische Grundrechte-Zeitschrift 2007, 507; European Court of Human Rights, Annual Report, herausgegeben von der Kanzlei des EGMR, zuletzt 2008 (erschienen 2009).

Abgerufen von Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte – HWB-EuP 2009 am 19. März 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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